Weihnachtszeit ist Märchenzeit. Doch wird bei­des auch gern ver­klärt. Im Musical „Ab in den Wald — Into the Woods“ erle­ben Märchenfiguren eine Welt, die kom­ple­xer ist als ein Happy End. Hier wer­den Wünsche wahr – doch eben nicht nur sie. 

Ich wünscht’ als Musicalfan hät­te man es ein­fa­cher in Deutschland. In den USA zum Beispiel hat das Musiktheater eine lan­ge Tradition und wur­de mit der Erfindung des Tonfilms und der dar­auf­fol­gen­den Vielzahl an Musicalfilmen end­gül­tig zu einer wich­ti­gen Konstante in der dor­ti­gen Kulturlandschaft. Wer in den Staaten ein Musical schau­en will, muss meis­tens nur in die nächs­te grö­ße­re High School fah­ren und sich deren Schulproduktion anse­hen. Im deutsch­spra­chi­gen Raum sieht es da etwas anders aus. Außerhalb von Hamburg, Stuttgart, Wien und Berlin sind Musicalproduktionen rar gesät und selbst in den genann­ten Städten ist die Auswahl an Stücken – sagen wir mal – begrenzt. Das hie­si­ge Publikum lässt sich meist nur für die Bühnenversionen von Disneyfilmen oder für Jukebox-Musicals begeis­tern – also Musicals, für die um bereits vor­han­de­ne Lieder eine Handlung her­um­ge­baut wur­de wie etwa bei „Mamma Mia“. Originale deutsch­spra­chi­ge Stücke erhal­ten abge­se­hen von den Werken Michael Kunzes wie „Tanz der Vampire“ oder „Elisabeth“ kaum über­re­gio­na­le Aufmerksamkeit. Und außer Andrew Lloyd Webbers „Starlight Express“ — der berühm­ten Ausnahme von der Regel — schaf­fen es auch Produktionen, die an Broadway und West End ihre Erfolge fei­ern, nur sel­ten, ein grö­ße­res deutsch­spra­chi­ges Publikum anzu­lo­cken. Entsprechend weni­ge Inszenierungen gibt es. 

An der Oper Halle jedoch gibt es nun eine; und zwar kann man dort ab sofort eine deut­sche Version von Stephen Sondheims Klassiker „Into the Woods“ erleben! 

Die Geschichte der Geschichte 

Sondheim – es gibt wohl kaum einen grö­ße­ren Namen in der eng­lisch­spra­chi­gen Musicalszene. Ohne ihn wäre das heu­ti­ge Musiktheater nicht das Gleiche. Nach sei­nem Tod im November letz­ten Jahres wur­den für eine Trauerminute am gesam­ten Broadway die Lichter ausgeschaltet. 

„Into the Woods“ ist eines sei­ner spä­te­ren Werke. Es fei­er­te 1987 in San Diego sei­ne Premiere, ein Jahr spä­ter wur­de es am Broadway gespielt. Es erhielt sei­ner­zeit zehn Nominierungen bei den Tony Awards (der wich­tigs­te Preis für Broadway-Produktionen), ein Revival im Jahr 2002 eben­so. 2014 gab es eine Verfilmung, unter ande­rem mit Meryl Streep, Emily Blunt und James Corden.  Erst in die­sem Jahr star­te­te eine Wiederaufnahme mit einem Cast aus der Crème de la Crème der Broadwayszene. Um’s kurz zu machen: das Stück ist in der eng­lisch­spra­chi­gen Musicalszene sehr bekannt und beliebt. Und so begab ich mich am 13.11. —  einen Tag nach der Premiere – ab in den Wald. 

Once upon a time… 

Hier tum­meln sich aller­lei inter­es­san­te Gestalten. Denn „Into the Woods“ führt basie­rend auf dem Buch von James Lapin diver­se Märchen der Gebrüder Grimm und auch die Geschichte von Hans und der Bohnenranke zusam­men. Wir ler­nen einen kin­der­lo­sen Bäcker und sei­ne Frau ken­nen, die von der Hexe neben­an erfah­ren, dass sie sei­ner­zeit des Bäckers Vater ver­fluch­te und sei­ne Linie zum Austrocknen ver­damm­te, weil er Gemüse aus ihrem Garten gestoh­len hat­te. Auch Zauberbohnen sei­en dabei gewe­sen. Die Hexe wür­de den Fluch für das Paar lösen, wenn die­ses inner­halb von drei Nächten im Wald ein blut­ro­tes Mäntelchen, eine schnee­wei­ße Kuh, korn­gel­bes Haar und einen gol­de­nen Schuh auf­trei­ben kön­ne. So bege­ben sich der Bäcker und die Bäckerin in den Wald und begeg­nen dort diver­sen Figuren der Grimmschen Märchen, die dort alle auf der Suche nach der Erfüllung ihrer Wünsche sind. Und wie das Schicksal so will, wird sich alles fügen: Prinzen fin­den ihre Prinzessinnen, Rotkäppchen hat nun einen Mantel aus einem Wolfspelz und das Bäckerpaar ein Kind – und damit endet der ers­te Akt. 

Im zwei­ten Akt tref­fen wir unse­re Figuren wie­der, eini­ge Zeit, nach­dem sie alle „wunsch­los glück­lich“ wur­den und wir erfah­ren, wie es ihnen damit geht. Es stellt sich her­aus, dass sich die Realität nun doch nicht so genau mit den Träumen unse­rer Protagonist:innen deckt. Und wäh­rend sie rin­gen mit die­sem Gefühl der Indifferenz, taucht plötz­lich eine Riesin auf und droht, das gesam­te Königreich zu zer­stö­ren. Jetzt müs­sen unse­re Märchenfiguren gemein­sam eine Lösung fin­den und dabei auch fest­stel­len, dass jeder Wunsch sei­ne Konsequenzen hat. 

Träume werden wahr 

„Into the Woods“ ist wie ein Märchen für Erwachsene. Auch wir wer­den mit vor­an­schrei­ten­der Lebenszeit des­il­lu­sio­niert ob des Glaubens an ein Happy End. Dass es Märchenfiguren sind, die wir bei die­ser Entwicklung beob­ach­ten, macht das Ganze auf ver­schie­de­nen Ebenen noch nah­ba­rer. Märchen sind Teil unse­rer Kindheit. Ihre Happy Ends stär­ken unse­ren Glauben an das Konzept. Dass sie uns im Prozess des Erwachsenwerdens meis­tens abhan­den­kom­men und wir sie durch düs­te­re­re Geschichten erset­zen, spie­gelt die oben beschrie­be­ne Entwicklung wider. Gleichzeitig sind die Wünsche der Figuren in ihrem Kern genau die Träume, die wir eben­so im rea­len Leben hegen. Auch wir seh­nen uns nach Liebe, Leidenschaft, Abenteuer, Geborgenheit und Sorglosigkeit. Doch das Leben ist eben kom­pli­zier­ter als im Märchen und nur, weil der Prinz Aschenputtel gefun­den hat, heißt das noch lan­ge nicht, dass sie glück­lich bis ans Ende aller Tage sein wer­den. „Into the Woods“ greift eben das auf und erzählt die Geschichten wei­ter. Die Riesin im zwei­ten Akt wie­der­um bedroht das Leben aller, egal, wie glück­lich oder unglück­lich sie nun im Augenblick sind. Auch macht sie alle Klassenunterschiede zwi­schen den Figuren zunich­te. Die Lebensgefahr wirft sie alle auf die gro­ße Frage zurück: Was ist mir wirk­lich wichtig? 

Die Märchenwelt von Halle 

Die hal­le­sche Inszenierung unter Louisa Proske wählt einen sehr moder­nen Ansatz für das Stück:  Der zwei­te Akt spielt auf einer Müllhalde. Das zer­stör­te Königreich wird sym­bo­li­siert durch eine Unmenge an Plastiksäcken. Das ist nicht schön anzu­se­hen, aber die Idee dahin­ter ist klar erkenn­bar: Proske zieht Parallelen zur rea­len Welt und macht die Riesin zum Symbol der sich anbah­nen­den Klimakatastrophe. Während alle Figuren sich nur ihrem per­sön­li­chen Glück wid­men, ste­hen sie nun über­for­dert vor der immer grö­ßer wer­den­den Bedrohung, die sie alle glei­cher­ma­ßen betrifft. Dass die Riesin nur durch die Ignoranz der Figuren im ers­ten Akt im Königreich auf­tau­chen konn­te, unter­mau­ert Proskes zeit­ge­nös­si­sche Metapher. Das ist im Übrigen nicht das ers­te Mal, dass die Gefahr der Riesin als Symbol aktu­el­ler Bedrohungen gedeu­tet wur­de. Das Musical erschien mit dem Ende der Achtziger auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise. Auch das HI-Virus mach­te die Menschen auf sei­ne Art gleich, denn der Tod war fast allen sicher, die sich damit ansteck­ten, egal, ob sie gut oder schlecht waren oder arm oder reich – so wie unse­re Märchenfiguren. Zwar war das nie Sondheims Intension, wie er selbst sag­te sei­ner­zeit, trotz­dem begrüß­te er die­se Interpretation. 

Die deut­sche Übersetzung, in der das Musical in Halle auf­ge­führt wird, gibt es seit 1990 und stammt von Michael Kunze. Diese ist wirk­lich gut gelun­gen, was bei den zum Teil schnel­len, genau getak­te­ten Songs kei­ne leich­te Aufgabe gewe­sen sein dürfte. 

Das Stück selbst umfasst 18 Darsteller:innen für die ins­ge­samt 21 Rollen – eine für die Oper Halle sehr umfang­rei­che Inszenierung. Zudem kom­men noch ein gutes Dutzend Kompars:innen des Kinder- und Jugendchor der Oper Halle hin­zu. Der Cast setzt sich zusam­men aus hie­si­gen Opernsänger:innen und Musicaldarsteller:innen, die am Haus gas­tie­ren. Die Entscheidung, sich für die Inszenierung Gäste aus dem ent­spre­chen­den Metier ein­zu­la­den, ist zu begrü­ßen. Stimmen mit Musicalausbildung geben den Showtunes Sondheims, die eben für sol­che Stimmen geschrie­ben wur­den, noch ein­mal einen beson­de­ren Schliff. Doch ob Musical- oder Opernsänger:innen – wo Musik von Sondheim ist, da ist Magie. 

…and happily ever after. kind of. 

„Into the Woods“ über­wirft das Konzept des klas­si­schen Märchens und erzählt die Geschichten für Erwachsene wei­ter. Das Werk wirft ele­men­ta­re Fragen auf und regt zum kon­se­quen­ten Denken an. Die hal­le­sche Inszenierung hat dem Stück eine eige­ne deut­li­che Konnotation hin­zu­ge­fügt und zeigt damit die Zeitlosigkeit des Musicals auf. Neben all den gro­ßen Themen, die das Stück anfasst, will ich jedoch nicht uner­wähnt las­sen, dass es sich selbst dabei nicht immer ernst nimmt. Wenn die zwei Prinzen und Brüder nun mit­ein­an­der wett­ei­fern, wer von ihnen schlim­mer lei­det – der, dem Aschenputtel dau­ernd nach dem Ball davon­läuft oder der, der Rapunzel nicht aus dem Turm bekommt – kann man das Spektakel nur schmun­zelnd betrach­ten. Solcherlei Momente hat das Musical vie­le und so düs­ter es auch im zwei­ten Teil wird, so hin­ter­lässt es am Ende vor allem eines — Hoffnung. Und so viel ist sicher: das war nicht mein letz­ter Besuch der Inszenierung. 

Text: Ronja Hähnlein 
Fotos: Bühnen Halle, Anna Kolata

Aufführungen von „Ab in den Wald – Into the Woods“ an der Oper Halle fin­den bis zum April 2023 statt. Studierende erhal­ten 50% Ermäßigung auf den Eintrittspreis. Für Studierende unter 30 gibt es zudem die Möglichkeit des Last Minute-Tickets: Dieses kann in den 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn erwor­ben wer­den und kos­tet 10 Euro auf allen Plätzen. Ausgenommen davon sind Premieren und Veranstaltungen am 28.12. und 31.12. 

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