Dieser Artikel behandelt ein schwerwiegendes Thema: mich und mein dickes Leben in einer dünn-genormten Umwelt. Über die „Fähigkeit“, zugleich unsichtbar und unübersehbar zu sein.
Ich bin dick und das weiß ich, denn ich habe einen Spiegel. Ich bin das, was Natalie Rosenke, erste Vorsitzende des Vereins gegen Gewichtsdiskriminierung, als „Ü100“ bezeichnet: Ich lebe mit einem Gewicht im dreistelligen Kilogrammbereich.
Schon als Kind war ich etwas pummelig. Seit jeher habe ich eine Vorliebe für gutes Essen und meine Mutter ist einfach eine wunderbare Köchin. Das „bisschen mehr“ auf den Rippen hat mich dann durch meiner Teenagerjahre begleitet. Ab der Oberstufe und während des FSJs und des Studiums ist es noch mal einiges mehr geworden; jetzt wie gesagt „Ü100“.
Ich bin dick und das weiß ich, denn ich habe viele Mitmenschen, die mich freundlicherweise immer wieder darauf hinweisen. Kommentare bezüglich meines Gewichts begleiten mich, seit ich denken kann. Während die Anmerkungen durch Erwachsene in meiner Kindergarten- und Grundschulzeit noch eher zurückhaltend ausfielen, waren da andere Kinder weitaus direkter. In einer Nachmittagssportgruppe gab es eine Handvoll Jungs, für die mein Mehrgewicht ein willkommenes Ziel darstellte. Irgendwann bin ich nicht mehr hingegangen. Einer dieser Jungs war dann in meiner Gymnasialklasse und so ging es auch da munter weiter. Aus Ronja wurde Tonnja. Das war keine gute Zeit. Irgendwann habe ich angefangen, mit dieser Mobbergruppe gemeinsam andere Leute fertig zu machen, nur um mir Momente zu schaffen, in denen sie mich in Ruhe ließen. Heute schäme ich mich sehr dafür.
Im letzten Jahr sind mir Fotos aus der achten Klasse in die Hände gefallen und ich habe mich richtig erschrocken: DAS galt schon als dick? Aber die anderen um mich herum haben das geglaubt; und ich mit. Zur gleichen Zeit bekam ich dann auch zunehmend von Erwachsenen zu hören, ob ich denn nicht abnehmen wolle. Ich würde doch bestimmt einmal einen Freund haben wollen, dafür müsse ich schließlich attraktiv sein. Das hat sich eingegraben. Tief. Sehr tief.
Ab der neunten, zehnten Klasse nahm mit zunehmendem Selbstvertrauen meinerseits das Mobbing ab und hörte schließlich ganz auf. Komplexe bezüglich meines Körpers blieben. Als auf einer Party das erste Mal eine Person mit mir knutschen wollte – ich war 16 — ließ ich sie perplex stehen und suchte ganz schnell das Weite. Ich war überfordert mit der Situation. Ich konnte mir schlicht und ergreifend nicht vorstellen, dass dieser Mensch mich gut finden könnte. Das war außerhalb jeder erdenkbaren Möglichkeit, schließlich war ich „fett und hässlich“.
Heute ist mein Gewicht für mich in Ordnung. Nur für die Welt ist es das immer noch nicht. Lange habe ich versucht, das zu ignorieren, doch der Punkt ist: es betrifft nicht nur mich. Nach Angaben der WHO gilt ein Mensch mit einem BMI (Gewicht in kg/[Körpergröße in m]²) über 25 als übergewichtig.
Das sind in Deutschland etwa zwei Drittel der erwachsenen Männer und die Hälfte der Frauen. Ein Viertel aller deutschen Erwachsenen ist adipös, hat also einen BMI über 30. All diese Menschen erleben dickenfeindliche Diskriminierung. Darüber geredet wird meinem Eindruck nach so gut wie gar nicht.
Ein Apfel am Tag…
Fangen wir mit dem Elefanten im Raum an: dem Thema Gesundheit. Denn das scheint es zu sein, das gefühlt immer alle dabei umtreibt. Man liest es unter allen Videos und Posts, die sich mit Dickenfeindlichkeit oder der Normalisierung eines Körperbildes jenseits von Size Zero auseinander setzen, man hört es von fast allen Menschen, die uns ungefragt Abnehmtipps geben wollen: Den dünnen Menschen liegt vor allem die Gesundheit von uns dicken Menschen am Herzen.
Und es stimmt: Übergewicht beziehungsweise Mehrgewicht wird bei einem ganzen Katalog von Krankheiten als Ursache oder Risikofaktor aufgeführt. Diabetes, Thrombose, Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall … die Liste lässt sich noch eine ganze Weile so fortführen. Und ja, dicke Menschen haben im Vergleich zu dünnen Menschen öfter einen Schlaganfall oder Herzinfarkt. Aber auch in vielen Fällen eine leichtere Form davon und damit eine höhere Überlebenschance. Dass ein Mensch mit 200kg nur noch schwer atmen kann, will ich nicht verleugnen. Dennoch fallen bei der Gleichung dick = krank einige Faktoren vom Tisch, die essentiell bei der Betrachtung des Themas sind.
Dicke Menschen erfahren oft Diskriminierung im Gesundheitssystem. Ärzt:innen nehmen sich im Schnitt weniger Zeit für dicke Patient:innen und verschreiben ihnen seltener Medikamente. Hinzu kommt die Tatsache, dass dicke Menschen einen anderen Hormonhaushalt haben, was meist wenig Beachtung bei der gesundheitlichen Betrachtung findet. Beschwerden werden oft mit dem Gewicht begründet, das habe ich auch schon erlebt. Was daraus resultiert, sind spätere Diagnosen von behandlungsbedürftigen Krankheiten, weil sie zunächst übersehen werden, und ein Misstrauen von dicken Menschen gegenüber medizinischen Institutionen. Sie gehen seltener und später mit ihren Beschwerden zum:zur Ärzt:in und erhalten auch so wieder später Diagnosen, woraus schwerere Krankheitsverläufe und schlechtere Prognosen resultieren können.
Gesundheit und damit Medizin kann nicht unabhängig von sozialen und psychischen Faktoren betrachtet werden. Hierfür müssen diese aber erst einmal erkannt und anerkannt werden. Durch fehlende gesellschaftliche Aufarbeitung von dickenfeindlicher Diskriminierung wird diese und der damit einhergehende psychische Druck nur selten als Faktor für die gesundheitliche Situation eines Menschen identifiziert. Stattdessen folgt das gesellschaftliche Herunterbrechen auf dick = krank, obwohl die psychische Gesundheit schon längst als wichtiger Aspekt der körperlichen Gesundheit bekannt ist. „Insgesamt ist das Stigma, das dicke Menschen erleiden, für ihre Gesundheit schädlicher als die Gesundheitsgefährdungen, die unmittelbar aus ihrem Gewicht resultieren.“, sagt Professor Friedrich Schorb, Gesundheitswissenschaftler an der Universität Bremen.
Der Blick über den Tellerrand
Übrigens: Diabetes, Thrombose, Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall – Wisst ihr, welche Risikofaktoren diese Krankheiten noch begünstigen? Rauchen und Alkoholkonsum. Nun stellt euch vor, ihr steht draußen an einem schönen Plätzchen in der Sonne und raucht dort eine Zigarette. Die Menschen, die an euch vorbeikommen, werfen euch verachtende Blicke zu. Stecken die Köpfe zusammen, lachen. Jemand zischt eine halblaute Beleidigung, eine euch unbekannte Person beginnt unvermittelt eine regelrechte Suada, dass ihr mit dem Rauchen aufhören und stattdessen lieber Kaugummi kauen solltet.
Klingt absurd? Nun, dann sprecht mit einem dicken Menschen, der schon einmal etwas in aller Öffentlichkeit gegessen hat, was nicht gerade ein Apfel war. Essen unter den Augen anderer Leute – das ist für viele dicke Menschen ein Horrorszenario und ich kann es mit ganzem Herzen nachempfinden. Denn sie sind tatsächlich da: die urteilenden Blicke, die Lästereien, die Witze, die Beleidigungen, die fremden Menschen, die ungefragt kommentieren. Hinzu kommt: als Raucher:in wird man meist nur wahrgenommen, wenn man gerade eine Zigarette in der Hand hat – dick ist man immer und überall; und wird entsprechend behandelt. Aber wenn sich die Gesellschaft wirklich nur um die Gesundheit von uns dicken Menschen sorgt, woher kommt dann dieses abwertende Verhalten uns gegenüber, wenn das Thema Essen tangiert wird und warum trifft dieses Verhalten hauptsächlich dicke Menschen, nicht aber andere Gruppen, „die öffentlich ihre Gesundheit auf’s Spiel setzen“? Werden alle Radfahrer:innen ohne Helm so abgefertigt?
Dieser Verweis auf Gesundheit, sobald sich ein dünner Mensch in das Leben eines dicken Menschen wegen dessen Körperform einmischt, entpuppt sich nur zu oft als Farce. Und nirgends wird das so leicht ersichtlich wie bei der Kombination dicker Mensch + Essen in der Öffentlichkeit. Als dicker Mensch außer Haus essen – das muss man aushalten. Es gibt viele von uns, die es nicht können und es komplett meiden, denn die Blicke der anderen kleben immer auf dem Teller oder dem Kassenband. Man kann den ganzen Rucksack voll mit Gemüse für die nächsten drei Tage haben, bestellt man sich eine Tüte Pommes, ist man für alle wieder das wandelnde Klischee vom verfressenen dicken Menschen. Ist man mit dünnen Leuten unterwegs und die bestellen sich alle nur etwas zu Trinken im Café, überlegt man sich dreimal, ob man wirklich noch das Stück Kuchen will, auf das man sich schon den ganzen Tag gefreut hat; nur um den Moment zu meiden, in dem man als dicker Mensch der:die Einzige ist, der:die Essen vor sich hat. Oh ja, Essen in der Öffentlichkeit kostet Kraft und die habe auch ich nicht jeden Tag. Beim Einkaufen ist es ähnlich. Wie ein nervöser Teenager, der versucht, die Packung Kondome zwischen anderen Teilen seines Einkaufes zu verstecken, so schmuggelt man eben die Schokomilch zwischen die Möhren und den Senf, in der Hoffnung, dass sie nicht so auffällt. Das ist ein Abwehrmechanismus gegen die Unbill, die einem dicken Menschen entgegenschlägt, wenn er es wagt, nicht strengste Diät und Kampf gegen seine Körperform zu führen. Es ist ermüdend und engt unfassbar ein.
Apropos einengend
Inzwischen betrachte ich jede Sitzgelegenheit, deren Armlehnen ich nicht einfach hochklappen kann, als meinen persönlichen Feind, geschaffen von einer Welt, die mir sagen will: Du nimmst zu viel Platz weg. Das klingt vielleicht pathetisch, but it’s a slim people’s world und entsprechend ist sie eingerichtet. Ich bin auch nicht scharf auf den Körperkontakt mit fremden Menschen, aber was soll ich machen, liebe Sitznachbar:innen in Bus oder Hörsaal? Richtet doch bitte die genervten Blicke statt auf mich auf die Designer:innen, die meinen, jeder Mensch solle maximal eineinhalb DIN A4-Blätter Breite in Anspruch nehmen, was nämlich 44cm und damit der durchschnittlichen Breite eines Flugzeugsitzes entspricht.
Der Weg nach oben
Einem Problem, dem ich mich bisher noch nicht persönlich stellen musste, ist die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Dicke Menschen erhalten bei Bewerbungen mit Foto seltener Rückmeldungen als dünne Menschen mit gleicher Qualifikation. Außerdem gab es bereits in mehreren Ländern Untersuchungen zur sogenannten Weight-Pay-Gap. Etwa 10% weniger verdienen dicke Frauen und weiblich gelesene Personen im Vergleich zu dünnen Kolleginnen mit gleicher Qualifikation. Bei Männern ist die Differenz weitaus geringer (hier ist es tatsächlich die Körpergröße, die, je höher, einen positiven Einfluss auf das Gehalt hat). Des Weiteren hat eine Befragung durch die Universität Tübingen ergeben, dass 98% aller Personaler:innen dicken Frauen keinen prestigeträchtigen Job zutrauen würden. Sie glauben wohl, eine steile Karriereleiter würde uns zu sehr aus der Puste bringen.
Ein Ticket für die zweite Klasse
Das führt uns zu einem weiterem wichtigem Punkt: intersektionale Diskriminierung und allem voran Sexismus. Natürlich gibt es auch Überschneidungen mit anderen Diskriminierungsformen wie etwa Rassismus – wenn ich allein die Momente zähle, in denen jemand „tröstend“ zu mir meinte: „In anderen Kulturen, da haben dicke Frauen einen ganz anderen Stellenwert, da würden alle auf dich abfahren.“… – doch kann und möchte ich hauptsächlich von den Aspekten berichten, die vor allem dicke Frauen und weiblich gelesene Menschen betreffen.
Dass es Sexismus gibt, ist mir schon lange bewusst. Früher hielt ich ihn für ein lästiges Problem, jedoch im Vergleich zu etwa Rassismus oder Queerfeindlichkeit eher für eine Kleinigkeit. Warum das so ist, habe ich erst vor wenigen Jahren begriffen und auch, dass das Ganze vor allem mit meinem Gewicht zusammenhängt. Denn der Sexismus, dem ich begegnete und auch heute noch begegne, ist ein anderer als der, dem dünne Frauen und weiblich gelesene Personen ausgesetzt sind. Während sie aufgrund ihrer Silhouette von großen Teilen der Bevölkerung als begehrenswert eingestuft und daraufhin unter anderem hypersexualisiert werden, ist das bei mir anders.
Menschen wie mir wird aufgrund unserer vermeintlichen Unattraktivität die Weiblichkeit regelrecht abgesprochen; zumindest diese hypersexualisierte Weiblichkeit, unter deren Reduktion darauf dünne weiblich gelesene Personen leiden. In einer patriarchalen Gesellschaft wie unserer wird von „den Frauen“ erwartet, begehrenswert zu sein. Ist man das nicht, wird das gesellschaftlich sanktioniert. Dicke Frauen und weiblich gelesene Personen werden zum Schreckbild dämonisiert, zu dem, was man als „richtige Frau“ nie sein will. Das abwertende Verhalten uns gegenüber ist ein anderes als das gegenüber jenen, die „zur Wichsvorlage eignen“. Uns wird vorgeworfen, diesem Bild nicht zu entsprechen und gleichzeitig wird evoziert, dass wir nur durch die Erfüllung dieses Ideals als begehrenswert und liebenswert gelten können. Denkt nur an mein 16-jähriges Ich auf dieser Party. Mein Körper ist der Feind unseres hiesigen Frauenbildes.
„Das Licht bleibt aber besser aus…“
In der öffentlichen Wahrnehmung wird das Verhältnis von dicken Menschen – vor allem Frauen — und Sexualität nahezu nichtig gesprochen. Dicke Menschen sind nicht sexy, entsprechend haben sie – und sollten sie – keinen Sex haben, geschweige denn sollte es Menschen geben, die mit dicken Menschen Sex haben wollen würden. Diese Vorstellung wird dann noch zusätzlich oft an romantische Gefühle verknüpft. Was daraus folgt, sind tiefe Verunsicherungen bei vielen dicken Menschen, was ihre Wünsche nach Sexualität und Partnerschaft angeht. Sie werden ihnen schlicht abgesprochen. Und auch dünne Menschen, die sexuelle und/oder romantische Gefühle für dicke Personen hegen, geben diesen nicht immer nach aus Furcht vor Spott und fehlender gesellschaftlicher Anerkennung. Ihr könnt euch denken, wie Portale wie Tinder und Co., wo vor allem der erste optische Eindruck zählt, für dicke Menschen funktionieren.
Wenn ich Paare in der Öffentlichkeit sehen, die einen deutlichen Gewichtsunterschied haben, vor allem, wenn die dickere Person eine Frau bzw. weiblich gelesen ist, dann beobachte ich immer wieder die Blicke, die diesen beiden folgen. Diese Paare werden verurteilt, denn ihre unterschiedlichen Gewichtsklassen machen sie zu Aliens in einer Welt, in der man möglichst „auf dem eigenen Niveau“ daten sollte. Ein dicker Mensch ist zu hässlich für einen dünnen Menschen. Diese Unsicherheit geht bei manchen dicken Leuten so tief, dass sie jedoch nicht einmal von einem:einer liebenden Partner:in aufgefangen werden kann. Ich erinnere mich an eine Reportage über Sexualität und Körperbild, in der eine Frau meinte, sie hätte seit fünf Jahren keinen Sex mehr mit ihrem Ehemann gehabt, weil sie sich nach mehreren Schwangerschaften so sehr für ihren Körper schämte.
Sport ist ihr Hobby (nicht)
„Wenn du so unzufrieden bist mit deinem Körper, dann mach doch einfach Sport!“. First of all: Dick heißt nicht automatisch unsportlich. Das schließt einander schlicht nicht aus. Es gibt viele dicke Menschen, die regelmäßig zum Yoga, Bouldern oder Tanzen gehen. Auf der anderen Seite sind auch nicht alle dünnen Menschen sportlich oder etwa dünn, weil sie viel Sport treiben. Ich persönlich bin jedoch keine Sportskanone. Ich gehe jeden Tag meine 10.000 Schritte, aber das war’s. Und das war auch nicht immer so. Wenn man mich fragt, warum ich dick bin, da kann ich ganz klar sagen, dass mangelnde Bewegung über einen längeren Zeitraum, sprich mehrere Jahre, da ganz klar eine wichtige Rolle gespielt haben. Warum ich damals so viel herumgesessen habe und es teilweise bis heute tue?
Erstens: Schulsport. Wenn einem Schulsport eins nicht beibringt, dann den Mehrwert und Spaß von Sport. Statt spielerischen körperlichen Ausgleich für den Schulalltag zu bekommen, führte ich an Kletterstange oder Hochsprung einen steten Kampf gegen die Physik und den Spott meiner Mitschüler:innen. Das Tuscheln und Lachen Vereinzelter, weil sich die Pummelige wieder so schwer abmühte für etwas, was ihnen mit Leichtigkeit gelang, kehrten jeden letzten Krümel an Motivation in Verzweiflung. Gott, wie ich Schulsport gehasst habe. Ich habe nie die Freude an Bewegung wiedergefunden.
Zweitens: meine Hobbies. Ich bin ein Filmnerd und Bücherwurm. Dass man sich da nicht groß bewegt außer bei den regelmäßigen Gängen ins Kino ist logisch. Und während ich bis heute für beides eine große Leidenschaft hege, hat beides auch wieder mit meinem Körper zu tun. Ich wurde, weil ich vermeintlich dick war, gemobbt. Daraus resultierend hatte ich eine ganze Weile kaum Freund:innen. Wenn man allein ist, muss man sich Hobbies suchen, die man allein machen kann. Dann mag man noch keine Bewegung – da ist man ja nicht gut drin – und et voilá: Ich landete bei diesen Aktivitäten.
Aber selbst wenn man als dicker Mensch mit dem Sport anfangen will, steht man vor mehreren Problemen. Eins davon sind wieder die verachtenden Blicke und Ablehnung. Dicke Leute sollen zwar Sport machen, aber doch bitte nicht für alle sichtbar. Wenn ich hier von dem Bericht einer jungen Frau erzähle, die nach einem begeisterten Telefonat mit einem Fitnessstudio dort einen Ersttermin ausmachte und man sie dann, als sie in persona im Studio stand, plötzlich sehr fahrig abwies mit dem Hinweis darauf, dass man wohl plötzlich doch keine neuen Mitgliedschaften mehr vergäbe, dann kann ich euch versichern: das ist keine Ausnahme.
Eine der besten Sportarten für den Einstieg für dicke Menschen ist Schwimmen. Es ist gelenkschonend und das Wasser gibt Auftrieb und unterstützt. Dafür müsste man aber erst einmal das Selbstbewusstsein besitzen, sich nur in Badebekleidung in der Öffentlichkeit zu bewegen. Oder die Badebekleidung dafür haben.
Kleider machen Leute, doch die Leute, die die Kleider machen…
Kleidung und Sportbekleidung im Speziellen sind ein weiterer Punkt, in dem dicke Menschen systematisch benachteiligt werden. Ein großer Teil der Marken produziert seine Modelinien bis Größe XL oder XXL, vereinzelt sogar nur bis L. Diese Brands wollen nicht von dicken Menschen repräsentiert werden. Man gibt damit lieber einen großen potentiellen Markt auf, als „hässliche Menschen“ einzukleiden. Wenn also eine Band wie Rammstein ihr Merchandise zum Teil bis Größe 5XL anbietet, bedeutet das für mich mehr als nur die Freude, Bandshirts zu besitzen – für mich als dicken Menschen bedeutet das Inklusion.*
Auch die Schnittmuster der Kleidung sind ein Thema. In den letzten Jahren war – vor allem die „Damenkleidung“ – sehr auf die Betonung von Taille ausgelegt. Hinzu kam noch der Highwaist-Trend. Beides sind in meinen Augen keine bequemen und vorteilhaften Schnitte für dicke Körper, doch durch diesen Modetrend war das Angebot anderer Kleidungsschnitte gering. Außerdem wird mit zunehmender Kleidergröße eben das ganze Kleidungsstück größer, aber nur weil mein Bauch eine 3XL oder 4XL braucht, brauchen das nicht auch meine Schultern. Insgesamt fehlt es an angenehmer Kleidung für dicke Menschen. Die Auswahl ist zu klein und selbst im Internet ist es nicht leicht, passende Sachen in verschiedensten Schnittmustern, Stoffen, Farben, Stilen und für unterschiedliche Anlässe zu finden. Kommen noch persönliche Faktoren wie ein geringes Budget und der Wille, nachhaltig zu leben, hinzu, wird es noch komplizierter. Kleidung ist Ausdruck von Persönlichkeit und ein wichtiger Faktor für das Selbstbewusstsein; und auch hier sind wir dicken Menschen wieder in unseren Möglichkeiten durch die dünn-genormte Welt beschnitten.
Fette Gewinne
Ohnehin ist es auf dem ersten Blick ein Kuriosum: Durch die Industrialisierung und die Entwicklungen in der Nachkriegszeit hat sich die sogenannte Westliche Welt zu einer Konsum- und Überflussgesellschaft entwickelt – nur ansehen soll man das ihren Bewohner:innen nicht.
Mode ist so alt wie die Menschheit selbst und da gehören auch Körperformen hinzu. Dick-sein galt über lange Perioden hinweg immer wieder als Symbol für Fruchtbarkeit und Wohlstand und war damit häufig das Symbol für jene gesellschaftliche Eliten, die tatsächlich mehr besaßen als sie zum Überleben brauchten. Jetzt, da wir in einer Gesellschaft leben, in der (vermeintlich) jede:r im Überfluss leben kann, gilt Dick-sein als Entgleisung. Nun sind dicke Menschen faul, dumm, ungepflegt, ohne Ehrgeiz und ohne Disziplin. Hinzu kommt die Tatsache, dass gesunde Lebensmittel oft teurer sind als ungesunde, wodurch dieses Stigma dann auch noch an monetär schlecht aufgestellte Schichten geknüpft wird.
Dicke Menschen werden gezeichnet als Schreckgespenster und Gegenteil dessen, wofür man in dieser Gesellschaft stehen sollte, um von ihr anerkannt zu werden. Die daraus resultierende gesamtgesellschaftliche Angst und Verunsicherung sorgt dann vor allem für eines: Konsum. Sportgeräte, Fitnessstudio-Mitgliedschaften, Low Carb-Kochbücher, Fettverbrennungspillen, Abnehmshakes, Diätcola, Schönheitsoperationen,…der Wahn vom schlanken Körper ist in erster Linie ein sehr profitabler Markt. „Konsumieren macht glücklich“, so das Motto und entsprechend kann man ruhig noch all jene Güter hinzuzählen, die unglückliche (dicke) Menschen kaufen, um sich zumindest ein bisschen von ihren Sorgen abzulenken. Mein Körper wird dämonisiert, damit ich und andere den Markt mit unserem Kapital versorgen.
Offensichtlich und doch nicht gern gesehen
Ein Viertel der Deutschen ist adipös: Wird das in der Öffentlichkeit widergespiegelt? Nein. Während oft – gerade in der studentischen Bubble – über Repräsentation von BIPoCs, von Frauen und von queeren Personen geredet wird, ist die Sichtbarkeit von dicken Menschen so gut wie nie ein Thema. Es sind wenige von uns, die öffentlich stattfinden, vor allem, wenn wir über nicht-männliche Personen reden. Und wenn sie da sind, müssen sie immer wieder Beweise erbringen, dass sie „trotz ihres Körpers“ eine Daseinsberechtigung besitzen und vor allem Kompetenz aufweisen – sie müssen sich für ihre Sichtbarkeit rechtfertigen. Menschen wie Ricarda Lang (eine der beiden Bundesvorsitzenden von Die Grünen) haben jedenfalls meinen vollsten Respekt dafür, dass sie die zahllosen dickenfeindlichen Kommentare, die sie oft unter dem Deckmantel der Kritik abbekommen, so konsequent aushalten.
Dicke Menschen werden als Schreckgespenster gezeichnet
In Filmen und Serien gibt es selten mehr als eine dicke Person im Maincast und wenn, dann ist das Dick-sein meistens Teil der Figur, indem zum Beispiel ein lustiger dicker Sidekick neben die dünne Hauptfigur gestellt wird, was so häufig passiert, dass dadurch ein weiteres Klischee entstanden ist: dicke Menschen seien prinzipiell lustig. Dabei hat das Ganze einen ernsten Hintergrund: Menschen schreiben attraktiven Personen positive Eigenschaften zu und finden sie sympathischer als jene, die sie als unattraktiv einstufen. Dicke Leute müssen häufig andere Wege finden, um ihre Mitmenschen für sich einzunehmen, wie etwa durch großes Wissen oder eben Witz. Außerdem ist Humor ein weiterer Abwehrmechanismus gegen die große Menge an ablehnendem Verhalten, dem dicke Menschen eben ausgesetzt sind. Das findet in der Popkultur in der Regel jedoch keine Erwähnung.
Figuren wiederum, die nicht explizit als dick beschrieben werden, werden so gut wie gar nicht mit dicken Schauspieler:innen besetzt, von denen es ohnehin nur wenige wirklich bekannte gibt. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.
Die Probleme einfach überschminken
Einzeln regt sich Widerstand gegen das immer-schlanke Bild, was uns präsentiert wird. Was ist zum Beispiel mit Plus Size-Models? Naja, prinzipiell ist das eine gute Idee. Nur ist es so: Als Plus Size gilt man bei den Frauen etwa, wenn man Größe 38 oder 40 trägt. Das ist nicht dick. Das ist einfach etwas curvy. Ich finde fantastisch, dass diese Menschen zunehmend Platz einnehmen im öffentlichen Bild. Nur erstens: Ich fühle mich auch nicht repräsentiert, wenn ich eine Frau mit Größe 46 auf einem Laufsteg sehe – das ist einfach immer noch sehr weit weg von meiner Realität – und zweitens: Es sind immer noch Models. Betrachte ich nun Bilder dieser Frauen, stelle ich fest, dass ich sie durchaus schön finde. Allerdings zu schön. Ihre Silhouetten und Kurven sind perfekt geformt und ihre Haut weist nur sehr selten Dehnungsstreifen oder Cellulite auf. Sie sind wie ihre dünnen Kolleginnen makellose Abziehbilder einer Fantasie, die nichts mit der Realität des weiblichen Körpers zu tun hat. Für mich sagen diese Bilder nicht aus: „Frauen mit Kurven sind sexy.“, sondern vielmehr „Wenn du schon Kurven hast, dann musst du auch ungefähr so schön wie Ashley Graham sein, damit du als sexy gelten kannst.“ Es ist eine Makellosigkeit, kreiert aus täglichem Sport, viel Schminke, Photoshop und Glück bei der Genetik, die der Schlüssel ist, um die Grenze von „nicht begehrenswert“ zu „begehrenswert“ überqueren zu können, „trotz“ Größe 46. Zum Glück hat die Welt inzwischen ein Allheilmittel gegen all die Probleme gefunden, die ich in diesem Artikel bisher aufgeführt habe.
Die Zauberformel
Body Positivity – den eigenen Körper und auch den anderer mit allen Makeln bedingungslos lieben. Kein Druck, Leute! Doch genau das ist das Problem: Body Positivity erzeugt Druck. Zeigt ein Mädel selbstbewusst ihre Cellulite auf Instagram mit dem Hashtag Selbstliebe, dann kann das Inspiration sein; oder eben auch Poltergeist. Denn was ist, wenn ich meine Cellulite einfach nicht lieben kann? Man sagt mir, ich solle okay mit meinem Körper sein, aber ich bin es nicht – bin ich dann falsch? Was ist bei mir kaputt? Warum kriegen das andere so viel besser hin als ich? …
Mein Körper ist ein Politikum, und so werde ich überall gelesen.
Ich liebe meinen Körper nicht. Ich finde die Idee auch irgendwie seltsam. Manche Teile mag ich, manche nicht und manche sind halt einfach…da und nützlich. Das zwischen uns muss keine innige Liebe sein oder enge Freundschaft und eine solche Erwartung zu kreieren, halte ich für durchaus toxisch. Mein Körper und ich – das ist schlicht ein friedliches Verhältnis. Ohne einander geht es ohnehin nicht. Aber: Nicht jeder Makel ist ein Projekt, das es zu bearbeiten gilt auf dem Weg zum großen Glück.
Wo stehen wir nun?
Wir haben eine Gesellschaft, in der dicke Menschen auf vielen Ebenen wegen ihrer Körperform benachteiligt und verachtet werden. Gleichzeitig hat diese Gesellschaft mit ihrem dickenfeindlichen Verhalten nur selten ein Problem oder identifiziert es überhaupt erst als solches. Lösungen sehen dann maximal so aus, dass darauf hingewiesen wird, dass manche Menschen durch Medikamente oder Krankheiten dick geworden sind. Aber Ausnahmen zu definieren, wann eine Gewichtszunahme durch „nicht verachtenswerte Faktoren“ ausgelöst wurde, reproduziert nur die negative Konnotation von Mehrgewicht im Allgemeinen. Verachtung darf weiterhin erfolgen – man sollte sich eben nur vorher kurz versichern, dass die Person wirklich „zu faul“ ist und nicht etwa eine Schilddrüsenunterfunktion hat.
Jeder Versuch, dicke Menschen juristisch und politisch vor Diskriminierung zu schützen, indem man sie beispielsweise als Gruppe im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz verankert, ist bisher gescheitert. Der Grund: Gewicht gilt als veränderbar. Frei nach dem Motto „Dann musst du halt einen Apfel essen statt Schokotorte, wenn du nicht diskriminiert werden willst.“ Mein Körper ist ein Politikum und so werde ich überall gelesen: weiß, weiblich, dick. Institutionen wie etwa die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung e.V. haben bisher wenig Bekanntheit und Wirkkraft. Es fehlt an öffentlichem Bewusstsein und Aufarbeitung von dickenfeindlicher Diskriminierung, es fehlt an Verständnis. Wir leben in einer Welt, in der es als Kompliment gilt zu sagen „Mensch, mit ein paar Kilos weniger wärst du richtig hübsch.“. In der man als dicke Frau viel eher für eine Putzkraft als für eine Ärztin gehalten wird. In der man andauernd ungefragt Abnehmtipps bekommt, weil NATÜRLICH alle dicken Menschen immer gerade unbedingt versuchen, abzunehmen. Dick sein und gleichzeitig kompetent und zufrieden oder sogar geliebt und begehrt – das kann und darf nicht sein. Für viele Betroffene ist das Thema so sehr mit Scham behaftet, dass sie nicht einmal im eigenen engeren Umfeld über ihre Erfahrungen und Verletzungen sprechen. Dieser Artikel ist die Spitze eines Eisberges aus Selbsthass, Wut, Trauer, Bedrückung und Mutlosigkeit, den allein in diesem Land mehrere Millionen Menschen täglich mit sich herum tragen.
Ich bin dick und das weiß ich, denn ich habe einen Spiegel. Aber vor allem habe ich ganz viele Mitmenschen und eine Welt, die es mich nie vergessen lassen.
*Anmerkung vom Sommer 2023: Inzwischen habe ich sämtliches Merch der Band aussortiert, aus moralischen Gründen. Das war ein nicht unbedeutender Einschnitt in meinen ohnehin limitierten Kleiderschrank. Schade. Aber trotzdem eine für mich wichtige und richtige Entscheidung.
Text und Illustrationen: Ronja Hähnlein