Seit dem 24. Feb­ru­ar 2022 führt Rus­s­land einen Angriff­skrieg gegen die Ukraine. Das Sem­i­nar für Slav­is­tik an der MLU antwortet darauf mit ein­er Anti-Kriegs-Lesung, inklu­sive Konz­ert, die im Rah­men des Pro­jek­ts МИР! Frieden­sim­pulse und Frieden­shür­den“ ver­anstal­tet wurde. Prof. Dr. Lehmann-Car­li, Ini­tia­torin des Pro­jek­ts, erzählt in einem Gespräch davon, was Texte über Krieg in uns aus­lösen und wie sie friedenss­tif­tend genutzt wer­den können.

Seit nun über vier Monat­en herrscht ein Krieg, der für unsere Gen­er­a­tion näher ist als jemals zuvor. Jeden Abend hören und lesen wir in den Nachricht­en, welche ukrainis­che Stadt erneut ange­grif­f­en wurde, wo Schüsse und Bomben fie­len, wie viele Men­schen dabei ums Leben kamen. Doch Einzelschick­sale und das emo­tionale Erleben der­jeni­gen, die sich im Krieg befind­en, bleiben für viele von uns undurch­sichtig. Was empfind­en Men­schen, die in umkämpften Gebi­eten leben, aus ihrer Heimat fliehen müssen und unter Umstän­den Fam­i­lie und Fre­unde im Krieg ver­loren haben? Eine Antwort darauf find­et sich in der Lit­er­atur. Werke wie „Kosak­en“ von Lew Tol­stoj oder „Graue Bienen“ von Andrej Kurkov liefern gewis­ser­maßen Erfahrungs­berichte davon, wie Krieg erlebt wird und wie Men­schen mit so ein­er Gren­zsi­t­u­a­tion umge­hen. Sie sind ein Zeug­nis dafür, wie sich Betrof­fene fühlen kön­nen und was in ihnen vorge­ht, wenn sie mit Krieg kon­fron­tiert sind. Genau solchen Erzäh­lun­gen wid­mete sich die Ver­anstal­tung „Anti-Kriegs-Konz­ert und ‑Lesung“ am 9. Juni 2022, die von der Slav­is­tik und dem Insti­tut für Musikpäd­a­gogik in Koop­er­a­tion mit der Roman­is­tik und der Sprech­wis­senschaft der MLU ver­anstal­tet wurde. An dem Abend lasen Mitar­bei­t­ende wie Studierende ver­schieden­er Fach­bere­iche Texte rus­sis­ch­er und ukrainis­ch­er Autor:innen. Begleit­et wurde der Abend weit­er­hin von musikalis­chen Beiträ­gen auf dem Klavier.

Die Anti-Kriegs-Lesung wurde im Rah­men des Pro­jek­ts „МИР! Frieden­sim­pulse und Frieden­shür­denver­anstal­tet. Мир (nach lateinis­chem Alpha­bet „mir“) bedeutet auf Deutsch Frieden. Im Som­merse­mes­ter 2022 wurde es vom Sem­i­nar für Slav­is­tik ins Leben gerufen. In einem per­sön­lichen Gespräch erzählt Prof. Dr. Gabriela Lehmann-Car­li, Pro­fes­sorin für Slavis­che Philologie/Literaturwissenschaft und Ini­tia­torin des Pro­jek­ts, von dessen Hin­ter­grün­den. Schon lange vor der Inva­sion rus­sis­ch­er Trup­pen in die Ukraine waren Gebi­ete zwis­chen Rus­s­land und der Ukraine umstrit­ten. „Es gibt sehr viele mul­ti­kul­turelle, mul­ti­eth­nis­che, mul­tire­ligiöse Räume, so zum Beispiel die Krim. Und da woll­ten wir mal schauen, mit welchen Begrün­dun­gen man Anspruch auf diese Räume erhebt“, berichtet Lehmann-Car­li. Das Pro­jekt richtet sein Augen­merk darauf, kriegstreibende Nar­ra­tive in Geschicht­serzäh­lun­gen und poli­tis­chen Reden aufzudeck­en. Eben­falls von Inter­esse seien der Sprachge­brauch sowie der Umgang mit Nation­al­stereo­typen, die sich sowohl gegen die Ukraine als auch gegen Rus­s­land richt­en und in let­zter Zeit immer aggres­siv­er wer­den. Mit Beginn des Krieges sei bei­des eskaliert.

Prof. Dr. Gabriela Lehmann-Carli
Prof. Dr. Gabriela Lehmann-Car­li hat das Pro­jekt der Slav­is­tik ins Leben gerufen.

Das Pro­jekt nutzte die Lesun­gen, um sich mit Fremd­bildern und kriegstreiben­den Nar­ra­tiv­en wis­senschaftlich auseinan­derzuset­zen. Das Sem­i­nar für Slav­is­tik bringt sich mit sein­er langjähri­gen Exper­tise in der Erforschung von Kriegs- und Gewal­ter­fahrung ein, um sich mit den Fra­gen zu befassen, wie solch unaussprech­liche Erfahrun­gen artikuliert und beschrieben wer­den können.

Von Tolstoj bis Zhadan

Eine Antwort darauf bieten die Lit­er­atur und die Musik. Egal, welchen Krieg sie beschreiben, „die Erleb­nisse des Men­schen sind ähn­lich, er erken­nt sich nicht wieder. Der Men­sch kann oft nicht ver­ar­beit­en, was er eigentlich sieht und was das mit ihm selb­st macht“, erk­lärt Lehmann-Car­li. Die Anti-Kriegs-Lesung stellte sich zur Auf­gabe, an die Erfahrun­gen zu erin­nern, die von Krieg Betrof­fene machen.

Gele­sen wur­den Texte ukrainis­ch­er Autor:innen, wie zum Beispiel Ser­hij Zhadan oder Andrej Kurkov, und auch Auss­chnitte aus Werken rus­sis­ch­er Schriftsteller:innen, wie Ljud­mi­la Ulitzka­ja oder Lew Tol­stoj. Sie behan­deln die Erleb­nisse von Men­schen im Krieg, beschreiben ihre Gefühlszustände und Trau­ma­ta, mit denen die Betrof­fe­nen leben müssen. Eben durch die Auseinan­der­set­zung mit Tex­ten von Autor:innen aller Kon­flik­t­parteien kön­nten nationale Stereo­typen­zuschrei­bun­gen abge­baut wer­den, was sich das Pro­jekt „МИР! Frieden­sim­pulse und Frieden­shür­den“ zum Ziel gemacht hat. Prof. Dr. Lehmann-Car­li beispiel­sweise las einen Auss­chnitt aus „Daniel Stein“ von Ljud­mi­la Ulitzka­ja vor. Darin näherte sich die Autorin der Per­son Oswald Rufeisen, den sie in ihrem Roman Daniel Stein nennt.

Rufeisen wurde 1922 als Jude in Polen geboren und floh im Jahr 1939 wegen des Angriffs des nation­al­sozial­is­tis­chen Deutsch­lands auf Polen. Weit­ere Fluchtver­suche, die ihn bis nach Weißrus­s­land führten, gelan­gen ihm. Dort schaffte er es, sich als „volks­deutsch­er“ Pole auszugeben, da er akzent­frei Deutsch sprach, und arbeit­ete nach dem Ein­marsch der Nazis als Über­set­zer bei der Gestapo. Aus dieser Posi­tion her­aus ver­half er vie­len Men­schen zur Flucht, indem er Infor­ma­tio­nen über eine bevorste­hende „Jude­nak­tion“ weit­er­gab. Die von Prof. Dr. Lehmann-Car­li gele­sene Textstelle behan­delt die post­trau­ma­tis­che Belas­tungsstörung der Fig­ur des Daniel Stein, nach­dem er davon hörte, wie in einem Ghet­to Juden und Jüdin­nen erschossen wur­den, die er alle hat­te ret­ten wollen. Er ist hil­f­los, verzweifelt und wie gelähmt. Als Rufeisen ver­rat­en wurde, gelang es ihm, zu fliehen. Er kam in einem Kloster unter, beschäftigte sich dort mit dem christlichen Glauben, kon­vertierte und wurde schließlich nach dem Krieg zum Priester gewei­ht. Von da an will Rufeisen zwis­chen Men­schen jüdis­chen und christlichen Glaubens ver­mit­teln und das Ver­ständ­nis zwis­chen den Reli­gio­nen stärken. Später arbeit­et er als Priester in Haifa (Israel).

Im Buch gewinne man einen Ein­druck, so Lehmann-Car­li, warum Men­schen sich nach Gewal­ter­fahrun­gen radikalisieren kön­nen. Die Empathie, mit der die Fig­ur Daniel Stein seinen Mit­men­schen als Über­set­zer zwis­chen Sprachen, Kul­turen und Reli­gio­nen gegenüber­tritt, sei das Einzige, was gegen diese Radikalisierung helfen kann. Stein ver­suche, alle zu ver­ste­hen und jede:n aufzunehmen und zu ret­ten. Unter anderem deshalb habe Prof. Dr. Lehmann-Car­li eine Textstelle daraus aus­gewählt, um bei der Ver­anstal­tung daraus zu lesen.

Durch die Hölle gehen

Aber warum lesen wir Texte über den Krieg, um uns gegen ihn zu posi­tion­ieren? Warum lesen wir keine Texte für den Frieden? „Da wollen wir auch noch hinkom­men“, so Lehmann-Car­li „aber mir schien es ange­bracht, dass wir erst mal gewis­ser­maßen durch die Hölle gehen.“ Bevor für den Frieden gele­sen wer­den könne, müssten wir uns erst ein­mal damit auseinan­der­set­zen, wie es um diejeni­gen ste­ht, die Kriegser­fahrun­gen machen. Der Krieg verän­dere den Men­schen und gehe gegen seine Natur. Alle gele­se­nen Texte, egal ob sie von rus­sis­chen oder ukrainis­chen Autor:innen stam­men, bericht­en von ähn­lichen Erfahrun­gen und Gefühlen. Sich mit diesen als Zuhörer:in auseinan­derzuset­zen, fördere die Empathie und das Ver­ständ­nis für die Lage von Per­so­n­en, die sich im Krieg befind­en, was in ein­er so kri­tis­chen Phase wie der derzeit­i­gen anson­sten schnell ver­drängt wird. In voller Gänze nachvol­lziehen zu kön­nen, wie sich vom Krieg Betrof­fene fühlen, ist für Außen­ste­hende selb­stver­ständlich nur begren­zt möglich und auch nicht der Anspruch des Pro­jek­ts. Aber es könne helfen, einen Per­spek­tivwech­sel zu vol­lziehen und hin­ter die Fas­saden zu blick­en: Was geht in den Men­schen vor? Was schürt unter Umstän­den Wut und Hass zwis­chen zwei Parteien?

Let­ztlich will das Pro­jekt „МИР! Frieden­sim­pulse und Frieden­shür­den“ zeigen, dass wir gemein­sam gegen den Krieg ste­hen müssen. Das kann mit lit­er­arischen Ein­blick­en eben­so wie mit Musik gelin­gen. „Wir woll­ten, wo es geht, mit unseren ger­ingfügi­gen Mit­teln die Sit­u­a­tion entspan­nen“, erk­lärt Lehmann-Car­li. Außer­dem auch eine freie Diskus­sion erlauben und Wertschätzung zeigen. Um zu diesen frieden­s­tif­ten­den Impulsen zu gelan­gen, mussten jedoch zuallererst Frieden­shür­den abge­baut werden.

Weit­ere Ver­anstal­tun­gen im Rah­men des Pro­jek­ts „МИР! Frieden­sim­pulse und Friedenshürden“

  • Im Rah­men der Lan­gen Nacht der Wis­senschaften am 01.07.2022 von 19.00 bis 21.00 Uhr ver­anstal­ten das Sem­i­nar für Slav­is­tik und die Musikpäd­a­gogik in Koop­er­a­tion mit der Roman­is­tik und der Sprech­wis­senschaft der MLU eine weit­ere Lesung. In dieser wird es um ukrainis­che Erin­nerung­sorte gehen. Für die Ukraine bedeu­tende Autor:innen, wie zum Beispiel Taras Schewtschenko oder Niko­lai Gogol, wer­den gele­sen und Orte wie die Krim, Odessa, Charkiw oder L’viv/Lemberg lit­er­arisch und musikalisch geze­ich­net.
    Ver­anstal­tung­sort: Sem­i­nar für Slav­is­tik, Adam-Kuck­hoff-Straße 35; SR 1 (Nebenein­gang „Hör­saal”)
  • Jeden Mittwoch richtet die Slav­is­tik außer­dem eine Friedens-Teezeit ein. Diese soll ein einan­der zuge­wandtes und offenes Gespräch ermöglichen und auch die Möglichkeit bieten, sich über schwierige The­men und Erfahrun­gen bezüglich des derzeit­i­gen Krieges auszu­tauschen.
    Die Teezeit find­et mittwochs wöchentlich abwech­sel­nd um 12.30 Uhr oder um 18.00 Uhr statt.
    Ver­anstal­tung­sort: Sem­i­nar für Slav­is­tik, Adam-Kuck­hoff-Str. 35; Raum 3.01
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