Immer mehr Prü­fun­gen wer­den als „Open-Book-Klausuren“ geschrieben. Ist das die Zukun­ft der Wissensüberprüfung?

In Zeit­en der Pan­demie ist es nicht möglich, Klausuren mit teil­weise hun­derten Studieren­den in einem Saal zu ver­anstal­ten. „Alles online“ lautet die Devise. Während das für mündliche Prü­fun­gen als Einzelge­spräch mit Web­cam und Mikro­fon noch ver­hält­nis­mäßig leicht umzuset­zen ist, sieht es bei schriftlichen Klausuren schon schwieriger aus. Wie soll man so viele Prüflinge gle­ichzeit­ig überwachen und sicherge­hen, dass nicht – außer­halb des von der Kam­era einge­fan­genen Bere­ichs – Möglichkeit­en zum Betrug ver­bor­gen sind? Qua­si unmöglich. Immer häu­figer fällt daher der Begriff „Open Book“.

Spicken erwünscht

Die als Open-Book- oder Kof­fer­k­lausur beze­ich­nete Prü­fungs­form ist eine Vari­ante schriftlich­er Klausuren, bei der so ziem­lich jedes papierne Hil­f­s­mit­tel – seien es Mitschriften, Skripte oder Lehrbüch­er – zuge­lassen ist. Das ist keine neue Idee, spätestens seit der Prü­fungsphase unter Pan­demiebe­din­gun­gen aber in aller Munde.

Das Spick­en nicht mehr zu ver­bi­eten ist natür­lich eine sehr effek­tive Meth­ode, Betrugsver­suche zu ver­mei­den. Aber ste­ht das nicht der Essenz ein­er Prü­fung – gel­erntes Wis­sen abzu­rufen – ent­ge­gen? Die Antwort ist, wie bei vie­len Fra­gen: Es kommt darauf an. Offen­sichtlich ergibt eine Vok­a­belkon­trolle, bei der man jed­erzeit ins Wörter­buch schauen kann, wenig Sinn. Beson­ders auf Hochschul­niveau und erst recht in der Arbeitswelt ist jedoch häu­fig Anwen­dung und Erweiterung eher gefragt als Rep­lika­tion. Solche Trans­fer­auf­gaben erfordern es, den gel­ern­ten Stoff neu zu verknüpfen und über ihn hin­auszu­denken – Lösun­gen dafür find­et man also nicht im Vor­lesungsskript. Dem­nach wäre es uner­he­blich, ob man während der Prü­fung Zugang dazu hat. Ja, es ist sog­ar erwün­scht, auf die blanke Infor­ma­tion zurück­zu­greifen, um seine geis­tigen Kapaz­itäten auf die tat­säch­liche Den­kleis­tung zu fokussieren.

Quelle: Pix­abay
Der Status quo

Das Stich­wort „Prü­fungsphase“ ruft bei vie­len wohl das Bild des Studieren­den in den Kopf, der über Mitschriften und Büch­ern hängt, um das darin Geschriebene möglichst gut in seinen Kopf zu ban­nen. Doch wäre es nicht weitaus effek­tiv­er und nach­haltiger, Konzepte ver­ste­hen zu wollen, statt Infor­ma­tio­nen zu spe­ich­ern? Diese bleiben näm­lich nicht nur länger im Gedächt­nis, son­dern kön­nen auch auf ver­wandte The­men erweit­ert und ange­wandt wer­den. Zudem ist es real­ität­snäher: Welch­er Arbeit­ge­ber würde es ver­bi­eten, irgen­det­was noch ein­mal nachzuschla­gen? Für Selb­st­ständi­ge gäbe es nicht ein­mal jeman­den, der sie daran hindert.

Jedoch ist das Prinzip der Anwen­dungs- und Trans­fer­auf­gaben nicht die Lösung aller Prob­leme: Zum einen ist es kom­pliziert­er, sie zu erstellen. Eine Frage zu kon­stru­ieren erfordert eben­so viel Den­kleis­tung, wie sie zu beant­worten (was das For­mulieren eigen­er Fra­gen auch zu ein­er aus­geze­ich­neten Lern­strate­gie macht). Zudem wären auch alle Altk­lausuren Teil von „alle Hil­f­s­mit­tel“, sodass keine Auf­gabe recy­clet wer­den kön­nte. Open Book bedeutet also einen deut­lichen Mehraufwand für die Prüfer:innen. Ob sie die Zeit dafür nicht haben oder sich nicht nehmen wollen, ist irrel­e­vant. Schlussendlich kön­nte es ein Grund sein, weshalb manch­er so innig an seinen seit Jahren mit wenig Var­i­anz auftre­tenden Auf­gaben­samm­lun­gen hängt.

Quelle: Pix­abay

Auch nicht jed­er Studierende ist be­geistert. Je mehr Hil­f­s­mit­tel erlaubt sind, desto schwieriger seien die Auf­gaben, heißt es manch­mal. Math­e­ma­tisch betra­chtet wären Auf­gaben in Open-Book-Klausuren dem­nach unendlich schw­er – die Kor­relation hinkt also. Die Annahme kommt aber natür­lich nicht von unge­fähr. Auswendig zu ler­nen und zu repro­duzieren erfordert qua­si keine Den­kleis­tung. Aus dem Gel­ern­ten muss nicht Neues abgeleit­et, keine Zusam­men­hänge hergestellt wer­den. Nur ein biss­chen Fleiß ist nötig. Das ist allerd­ings auch der größte Kon­trast zu „mod­erneren“ Auf­gaben­typen. Lange Lern­sessions, bis man von Karteikarten träumt, sind nicht nötig. Ver­ständ­nis­fra­gen haben von Vorn­here­in ein anderes Ziel. Sie dienen nicht dazu zu über­prüfen, ob eine reine Infor­ma­tion gespe­ichert wurde – im Com­put­erzeital­ter haben wir dafür zuver­läs­sigere Wege als das men­schliche Gehirn –, son­dern ob aus den Infor­ma­tio­nen ein Konzept erschlossen wurde, das mod­i­fiziert, erweit­ert und in der Real­ität ange­wandt wer­den kann. Das ist anstren­gend – und soll es auch sein –, denn so müssen die Studieren­den etwas Eigenes schaffen.

Was lernen wir daraus?

Sollen jet­zt also nur noch Open-Book-Klausuren geschrieben wer­den, soll kein:e Studierende:r jemals wieder Karteikarten schreiben? Die Antwort ist ein klares Nein. Es spart Zeit, Dinge im Gedächt­nis zu haben. Was man weiß, muss man nicht nach­schla­gen. Viel wichtiger: Was man nicht ken­nt, kann man auch nicht in einen Zusam­men­hang brin­gen. Zumin­d­est grob sollte man sich also die wichtig­sten Punk­te ein­prä­gen; der Fokus sollte allerd­ings nicht zu sehr auf den Details liegen.

Schlussendlich muss ein Mit­tel­weg gefun­den wer­den. Professor:innen müssen kreativ­er bei der Erstel­lung ihrer Klausuren wer­den und Studierende williger, ihren Kopf anzus­tren­gen. Auswendig gel­erntes Wis­sen sollte als Werkzeug wahrgenom­men wer­den. Eine Prü­fung sollte keine Inven­tur dessen sein, son­dern ein Pro­belauf, es anzuwenden.

Open-Book-Klausuren sind dabei ein Schritt in die richtige Rich­tung. Das allerd­ings nur, wenn sie als die Chance zu eigen­er Kreativ­ität und Den­kleis­tung ver­standen wer­den, die sie sind.

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Lisa Kollien
2 Jahre zuvor

Aus diesem Blick­winkel habe ich die “Open Book”-Debatte noch nicht gese­hen. Super Artikel!