Kinder aus Arbeiterfamilien begin­nen sel­te­ner ein Studium und bre­chen häu­fi­ger ab. ArbeiterKind.de hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu unterstützen.

„Ach, du bist auch Arbeiterkind? Damit gehörst du ja schon zu einer Minderheit“, so ein ande­res Mitglied der has­tu­zeit-Redaktion zu mir. Damit hat er Recht, denn nur 21 Prozent der Kinder aus Nichtakademikerfamilien – also Arbeiterkinder – begin­nen ein Studium, knapp drei Viertel sei­en es in Akademikerfamilien, so die FAZ. Auch die Quote der Abbrecher sei dop­pelt so hoch. Der Verein ArbeiterKind.de will hel­fen, das zu ändern. Auch hier in Halle gibt es einen loka­len Zweig.

Vielleicht erin­nert sich so manche:r Leser:in noch, wie die Eltern nost­al­gisch von ihrer Zeit an der Uni erzähl­ten. Wie der gro­ße Bruder oder die gro­ße Schwester ein paar Tipps mit auf den Weg gaben oder hal­fen, die kryp­ti­schen Formulierungen des Studentenwerks beim BAföG-Antrag zu ent­schlüs­seln. Womöglich gibt es sogar schon Empfehlungen, in wel­chen Seminaren und bei wel­chen Professor:innen man beson­ders auf­merk­sam sein sollte.

Aber was, wenn man als erste:r sei­ner Familie eine Universität besucht? Dann muss man all die Kniffe und Gepflogenheiten selbst fin­den – oder man sucht Unterstützung. Eine Möglichkeit sind die ehren­amt­li­chen Helfer:innen von ArbeiterKind. Sie sind „der gro­ße Bruder, den viel­leicht nicht jeder hat“, wie Jens, einer der Ehrenamtlichen, wäh­rend ihres Stammtisches sagt.

ArbeiterKind.de wur­de 2008 von Katja Urbatsch ins Leben geru­fen und erreg­te viel Aufmerksamkeit, wodurch sich schnell Freiwillige fan­den. Seitdem ist die Initiative auf 80 Lokalgruppen in ganz Deutschland gewach­sen; sie haben ein eige­nes sozia­les Netzwerk eröff­net und sind auf Messen, in Schulen und bei regel­mä­ßi­gen Treffen zu fin­den. Es gin­ge vor allem dar­um, „Wissen aus ers­ter Hand“ und die eige­ne Geschichte wei­ter­zu­ge­ben, um auf­zu­klä­ren und zu moti­vie­ren. Oft auch per­sön­lich, in Einzelgesprächen. Es gibt kei­ne fes­te Agenda, kei­ne Universallösung, bei der sie ihren Zuhörer:innen nur die Mühe abneh­men, den Flyer selbst zu lesen.
Die Ehrenamtlichen und ihre Erfahrungen sind es also, die ArbeiterKind aus­ma­chen. Das Netzwerk dient dann dazu, den Kontakt her­zu­stel­len; zwi­schen dem über­for­der­ten Ersti und dem Unterstützenden, der die glei­chen Probleme schon durch­ge­stan­den hat.

Auf der Messe “Chance 2020”. Foto: ArbeiterKind Halle
Da sein und die Hand reichen

Während man in der Schule noch einen über­schau­ba­ren Klassenverband hat­te, mit Lehrer:innen, die eine päd­ago­gi­sche Ausbildung gemacht haben, ist das an der Universität in der Regel nicht der Fall. Die Hörsäle sind voll, teil­wei­se mit meh­re­ren hun­dert Studierenden, die nicht ein­mal aus dem glei­chen Studiengang stam­men müs­sen. Professor:innen haben nicht die Zeit, indi­vi­du­ell auf jede:n ein­zu­ge­hen, und das ist auch nicht ihre Aufgabe. Da steht man dann schon mal etwas rat­los da und weiß – neu im Studium, neu in der Stadt, unter neu­en Leuten – nicht, wohin.

In den meis­ten Studiengängen gibt es nur begrenz­te Ansprechmöglichkeiten; die wenigs­ten haben etwas wie ein Mentoringprogramm. Dann blie­ben noch Beratungsstellen der Uni, das Studierenden-Service-Center bei­spiels­wei­se. Allerdings neh­men die­se auch eher eine objek­ti­ve Rolle ein und geben all­ge­mei­ne Antworten. ArbeiterKind fügt sich nun in eige­ne, sub­jek­ti­ve Erfahrungen ein, die man sonst viel­leicht von der Familie wei­ter­ge­ge­ben bekom­men hät­te. Eventuell sogar noch spe­zi­fi­scher, weil Kontakte ver­mit­telt wer­den kön­nen, die in der glei­chen Fachrichtung behei­ma­tet sind.

Zum Zeitpunkt der Recherche die­ses Artikels betreut ein Mitglied der Ortsgruppe aus Halle zum Beispiel eine Studierende, die sich für ein Stipendium bewirbt. Sie hat um Unterstützung gebe­ten, ein Anschreiben zu for­mu­lie­ren, wel­ches die Stipendiumsstelle auch wirk­lich von ihr über­zeugt. Warum kann er ihr dabei hel­fen? Weil er nicht nur in der Vergangenheit das glei­che Stipendium emp­fan­gen hat, son­dern auch selbst an der Auswahl von Stipendiat:innen betei­ligt war und weiß, „was die hören wol­len“, also wor­auf beson­ders Wert gelegt wird.

Aber ArbeiterKind setzt schon vor­her an. Nicht nur Beratung, son­dern auch Aufklärung, durch Präsentationen an Schulen und auf Messen. Denn was man natür­lich auch nur weiß, wenn man schon an der Uni war: Man muss gar nicht über­mä­ßig cle­ver sein, um zu stu­die­ren. Zu vie­len Kindern wird gesagt, sie sei­en nicht intel­li­gent genug für ein Studium, und auch so etwas wie ein Stipendium sei nur etwas für die abso­lu­te Elite.

Auch kann man es den Eltern nicht wirk­lich ver­den­ken, wenn sie ihren Kindern emp­feh­len, den­sel­ben Ausbildungsweg ein­zu­schla­gen wie sie. Hier haben sie schließ­lich schon eige­ne Erfahrungen gesam­melt und kön­nen ein­schät­zen, was es zum Erfolg braucht. Schätzt man Erfolgsaussichten ab, wie­gen per­sön­li­che Erfahrungen – ob nun eige­ne oder die der Familie – schwer. So funk­tio­niert der Mensch als sozia­les Wesen. Die Ehrenamtlichen von ArbeiterKind wol­len die­sen fami­liä­ren Erfahrungspool mit ihren Geschichten erweitern.

Offenes Treffen. Foto: ArbeiterKind Halle
Ein Helfer für jeden Hilfesuchenden

Seit sei­ner Gründung hat der Verein ein Netzwerk von loka­len Gruppen und Helfer:innen geschaf­fen, das inzwi­schen auch über Deutschland hin­aus geht. Ein eige­nes sozia­les Netzwerk ver­bin­det die Mitglieder auch online. Als Schule kann man bei der nächs­ten Lokalgruppe einen Besuch anfra­gen, bei dem zunächst all­ge­mei­ne Fragen, war­um man
über­haupt stu­die­ren soll­te oder wie man ein Studium finan­zie­ren kann, geklärt werden.

Der inter­es­san­tes­te Teil ihrer Arbeit beginnt aber, wenn man sich als Person an sie wen­det – denn dann zeigt das Netzwerk sei­ne Stärke: Für so ziem­lich jede Frage hat schon ein­mal jemand die Antwort gefun­den, für jedes Problem die pas­sen­de Lösung. Alles, was der Verein also tut, ist zu ver­mit­teln. Du bist noch Schüler:in und weißt nicht, ob dein Studium auch so wird, wie du es dir vor­stellst und es in den Flyern beschrie­ben wird? Dann fin­det sich jemand, der schon mit­ten­drin ist. Dein BAföG-Antrag wur­de abge­lehnt, aber dei­ne Eltern kön­nen dich auch nicht finan­zi­ell unter­stüt­zen? Da bist du sicher nicht der:die Erste, und Alternativen gibt es. Ich habe in der Schule immer mal von mei­nem Geographielehrer gehört, man müs­se nichts wis­sen – nur, wo es steht. Oder eben jeman­den
ken­nen, der es weiß.

Findet sich jemand, der sich eines Problems anneh­men will, wird der Kontakt her­ge­stellt, unge­zwun­gen kom­mu­ni­ziert und an der Lösung gear­bei­tet. Egal ob durch E‑Mails, Kurznachrichten, ein Telefonat oder im Café. Und da alle Helfer:innen sich ehren­amt­lich enga­gie­ren, tun sie das aus Überzeugung und dem Willen zu hel­fen. Auch für die Hilfe­suchenden eröff­net sich so ein neu­er Weg zur Kommunikation, in einem per­sön­li­chen und ver­trau­ten Umfeld, in dem man sich auch traut, „dum­me“ Fragen zu stellen.

Man darf aller­dings nicht den Fehler machen, das Hilfsangebot als Dienstleistung zu sehen, die einem vor­ge­kau­te Antworten zu allen Fragen lie­fert. Mehr als Tipps und Hilfe zur Selbsthilfe gibt es nicht. Da kann es auch mal vor­kom­men, dass jemand ent­täuscht vom Treffen kommt, weil er:sie mit den fal­schen Vorstellungen her­an­ge­gan­gen ist und doch den eige­nen Kopf bemü­hen muss.

Vortrag im Abendgymnasium. Foto: ArbeiterKind Halle
Ins Netz gegangen?

Kontakte und Bekanntschaften gehö­ren zu den wich­tigs­ten Qualitäten in der heu­ti­gen Welt. Der Verein ArbeiterKind.de wur­de gegrün­det, um Schüler:innen und Studierenden ein sol­ches Netzwerk zu eröff­nen, wenn sie nicht schon in ein sol­ches hin­ein­ge­bo­ren wurden.

Das heißt natür­lich weder, dass Kinder aus Arbeiterfamilien kein Netzwerk mit­brin­gen kön­nen, noch, dass Akademikerkinder auto­ma­tisch voll ver­netzt sind. Trotzdem hat Katja Urbatsch erkannt, dass Akademikerfamilien meist einen Vorsprung geben, und ArbeiterKind ins Leben geru­fen, um die­sen aus­zu­glei­chen. Und be­trachtet man die Anzahl der Mitglieder, die inzwi­schen Teil davon sind, ist auch offen­sicht­lich, dass das kein Schuss ins Blaue gewe­sen ist.

ArbeiterKind hat es sich zur Aufgabe gemacht, der gro­ße Bruder zu sein, den man nicht hat. Bei Schwierigkeiten und Problemen vor und wäh­rend des Studienstarts kann man dort Hilfe suchen. Das Netzwerk ver­sucht jeman­den zu fin­den, der dank eige­ner Erfahrungen einen Stoß in die rich­ti­ge Richtung geben kann. Es sind aller­dings nur Stützräder zur Selbsthilfe; sich beim Stammtisch die Formulare aus­fül­len zu las­sen funk­tio­niert nicht.

  • Wer sich jetzt ange­spro­chen fühlt, weil er das Netzwerk nut­zen oder sich sogar selbst dar­in enga­gie­ren möch­te, erreicht ArbeiterKind auf deren Website oder die loka­len Gruppen auch in den sozia­len Medien.
    https://arbeiterkind.de
    facebook.com/Arbeiterkind.deHalle
    @arbeiterkind.de_halle_saale
    hal­le [at] arbei­ter­kind [dot] de
  • Wie divers ist unse­re Universität eigent­lich? Kann man wirk­lich so ein­fach mit ver­schie­de­nen Hintergründen stu­die­ren, oder sind die Unterschiede doch spür­ba­rer, als wir erwar­ten? Über all das dis­ku­tie­ren wir in unse­rer aktu­el­len Podcastausgabe, die zusam­men mit die­sem Heft raus­kommt. Ihr fin­det uns unter hastuGehört auf allen Kanälen, auf denen es Podcasts gibt. Hört ger­ne rein!
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