Irrenhaus, Klapsmühle, Geschlossene – psych­ia­tri­sche Kliniken haben zuwei­len mit einem nega­ti­ven Image zu kämp­fen. Doch was ver­birgt sich wirk­lich hin­ter den düs­te­ren Klischees? Ein Blick in die wider­sprüch­li­che, wech­sel­vol­le und weg­wei­sen­de Geschichte der hal­li­schen Universitätspsychiatrie. 

Die Szene wirkt wie ein Albtraum. In dem über­füll­ten Saal ste­hen, dicht anein­an­der­ge­drängt, ros­ti­ge Betten, die Fenster sind ver­git­tert, die Wände in düs­te­ren Farben gestri­chen. In einem Bett liegt ein Mann, an Handgelenken und Füßen gefes­selt, ein ande­rer liegt mit Infusion in einem Isolierzimmer, das kaum einen Unterschied zu einer her­un­ter­ge­kom­me­nen Gefängniszelle erken­nen lässt. In der spar­ta­nisch ein­ge­rich­te­ten Küche rie­selt der Putz von der Decke, der Speisesaal ist mit Stühlen und Tischen regel­recht voll­ge­stopft. Der Sanitärbereich besteht aus einem offe­nen Raum ohne Zwischenwände, in dem eine Toilette, drei Waschbecken und eine alte, längst nicht mehr wei­ße Metallwanne ste­hen. Wer sein Geschäft erle­di­gen oder sich waschen will, muss dies vor aller Augen tun, „aus Sicherheitsgründen“, wie eine Schwester sagt. „Kafka oder Orwell?“ denkt der Besucher, dem sich im Sommer 1992 die­ses erschre­cken­de Bild bie­tet. Er ist der neue Leiter der Klinik, Andreas Marneros — 46 Jahre alt, Zypriot, der ers­te fremd­spra­chi­ge Ordinarius in der Geschichte der deut­schen Universitätspsychiatrie und auch der ers­te west­li­che Psychiater, der an eine ost­deut­sche Klinik beru­fen wur­de. Doch der Eindruck von der geschlos­se­nen Station der hal­li­schen Psychiatrieklinik bewegt ihn fast dazu, den neu­en Job wie­der hin­zu­schmei­ßen. Wie, so fragt er sich betrof­fen, konn­te es so weit kom­men mit einer Einrichtung, die einst als die bes­te ihrer Art auf der gan­zen Welt galt? Und dies auch noch in Halle, der Stadt Reils, des gro­ßen Pioniers der Psychiatrie, der sich immer so sehr für die mensch­li­che Behandlung der Kranken ein­ge­setzt hatte … 

Ein Blick in den Park der Klinik

Ort der Innovation 

„Ihre Rede sey kurz, bün­dig und licht­voll. Die Gestalt des Körpers kom­me der Seele zu Hülfe und flö­ße Furcht und Ehrfurcht ein. Er sey groß, stark, mus­ku­lös, der Gang majes­tä­tisch; die Miene fest; die Stimme don­nernd.“ So stellt sich Johann Christian Reil den idea­len Psychiater vor. Auch wenn der 1759 in Ostfriesland gebo­re­ne Arzt mit die­ser Beschreibung wohl ein wenig hoch greift, zeigt sie doch, wie ernst es ihm mit der Behandlung psy­chisch Kranker ist. Seit 1787 als Medizinprofessor in Halle tätig, hat er sich nicht nur als Anatom und Chirurg einen Namen gemacht. Zu sei­nem hal­li­schen Kurbetrieb gehö­ren Parks, Salons und ein Theater, selbst Goethe lässt sich nach Schillers Tod 1805 hier von ihm behan­deln. Und auch wenn Reil eini­ge Jahre spä­ter nach Berlin und dann nach Göttingen geru­fen wird, bleibt er Halle noch immer ver­bun­den, hält sich regel­mä­ßig in der Stadt auf und wird schließ­lich auf dem ihm von König Friedrich Wilhelm III. geschenk­ten Berg begra­ben – dem Standort des heu­ti­gen Bergzoos. Neben sei­ner prak­ti­schen Tätigkeit ver­fasst er vie­le wis­sen­schaft­li­che Schriften, berät außer­dem Wilhelm von Humboldt. Doch Reils wahr­schein­lich größ­tes Vermächtnis ist sei­ne Pionierarbeit im Bereich der „Psychiatrie“ – ein Begriff, den er selbst prägt. Der „deut­sche Pinel“ setzt sich für die Etablierung der Nervenheilkunde als eigen­stän­di­ges Fachgebiet und die Errichtung spe­zi­el­ler Heilanstalten ein, ent­wi­ckelt ers­te Ansätze zu Behandlungsmethoden wie der Beschäftigungs- und Schocktherapie, betont die Wichtigkeit des Zusammenspiels von Psychosomatik und Psychologie mit kör­per­li­cher Heilung. Und immer wie­der pocht der lei­den­schaft­li­che Philanthrop dar­auf, wie wich­tig ein guter Umgang mit den Patienten sei, die nun ein­mal nicht nur ret­tungs­lo­se „Irre“ sei­en, son­dern Kranke, die man hei­len müs­se, statt sie unter unmensch­li­chen Bedingungen ein­fach wegzusperren. 

Doch bis zur Verwirklichung von Reils Ideen ist es noch ein lan­ger Weg, wie sich nach sei­nem Tod 1813 zeigt. Immerhin gelingt es unter der Ägide sei­nes Schülers Christian Friedrich Nasse, das schon seit lan­gem bestehen­de „Zucht- und Irrenhaus” – ein Gefängnis für Straftäter und psy­chisch Kranke – zu refor­mie­ren, die bei­den Gruppen getrennt unter­zu­brin­gen und schließ­lich in eine neue „Irrenanstalt“ zu über­füh­ren. Ein wei­te­rer bedeu­ten­der Schritt gelingt Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Einrichtung einer neu­en, außer­halb der Stadt in Nietleben gele­ge­nen Anstalt. Vorbei ist die Zeit der Zuchthäuser mit ihren dunk­len Räumen, Ketten und ent­setz­li­chen hygie­ni­schen Bedingungen; zwar sind die „Irren“ immer noch weit­ge­hend von der Stadtbevölkerung iso­liert, doch immer­hin nicht ganz und gar. Schließlich lan­det einer von Reils Nachfolgern, Eduard Hitzig, 1891 den gro­ßen Wurf: Im Norden von Halle, auf einem Gelände in der heu­ti­gen Julius-Kühn-Straße, wird eine moder­ne psych­ia­tri­sche Klinik ein­ge­weiht. Die neue Anstalt besteht aus meh­re­ren Villen und Pavillons inmit­ten eines Parks, mit viel Platz, Licht und Luft. Die Kranken sind nicht mehr vom Rest der Gesellschaft getrennt, auch wenn das bei den Anwohnern für eini­gen Unmut sorgt – flüch­ti­ge Patienten sind kei­ne Seltenheit, ins­be­son­de­re ange­sichts der Konditorei im Erdgeschoss der Klinik. Doch Hitzig gelingt es, sei­ne Einrichtung gegen alle Angriffe zu ver­tei­di­gen, denn sein Konzept ist weg­wei­send: Keine kaser­nen­ar­ti­ge Unterbringung mehr, mit lan­gen Korridoren und zel­len­ar­ti­gen Räumen, son­dern ein­zel­ne Pavillons, die für eine klei­ne­re Anzahl von Patienten aus­ge­legt sind, dif­fe­ren­ziert nach Krankheitsform und ‑sta­di­um. Der Erfolg gibt ihm recht: die Zahl der Aufnahmen steigt fast um das Vierfache, die neue Klinik gilt als Vorreiterin, erwirbt sich bald auch inter­na­tio­na­les Ansehen, gilt zeit­wei­lig sogar als die bes­te der Welt. 

Verfall und Reformbemühungen 

Doch die­se Blütezeit der hal­li­schen Psychiatrie wird Anfang des 20. Jahrhunderts von auf­zie­hen­den dunk­len Wolken über­schat­tet. Dafür steht sinn­bild­lich Gabriel Anton, Leiter der Klinik zwi­schen 1905 und 1926, der neben sei­nen wis­sen­schaft­li­chen Leistungen im Bereich der Psychopathologie und der Bewegungsstörungen auch Entartungs- und Degenerationsthesen sowie unver­hoh­len natio­na­lis­ti­sche und ras­sis­ti­sche Ideen ver­tritt, bis hin zu Konzepten wie „Rassenhygiene“ und „Gesundheit des Volkskörpers“. Im Gegensatz dazu steht Antons Humanität im Umgang mit den Kranken und sein Engagement für die Versorgung ent­wick­lungs­ge­stör­ter Kinder, doch dies kann nicht über die grund­sätz­li­che Tendenz hin zu euge­ni­schen Ideen hin­weg­täu­schen, die nach der Machtergreifung der Nazis schließ­lich zur offi­zi­el­len Doktrin wird. Antons Nachfolger, Alfred Hauptmann, wird als Jude trotz hoher aka­de­mi­scher Ehren und Verdienste 1936 ent­las­sen und in die Emigration gezwun­gen. Seinen Platz nimmt der über­zeug­te Nationalsozialist und „Rassenhygieniker“ Paul Hilpert ein, unter dem es zur Mitwirkung an der Sterilisation von psy­chisch Kranken kommt. Sein Tod 1939 ver­hin­dert mög­li­cher­wei­se noch Schlimmeres; den­noch wer­den ab 1940 auch tau­sen­de von ehe­ma­li­gen hal­li­schen Psychiatrie-Patienten zu Opfern der berüch­tig­ten „Aktion T4“ – der Ermordung von psy­chisch Kranken und geis­tig Behinderten durch das NS-Regime im Rahmen der soge­nann­ten “Euthanasie”. Hilperts Nachfolger Fritz Flügel ist eine undurch­sich­ti­ge Figur, ein oppor­tu­nis­ti­sches NSDAP-Mitglied, das sich aber „poli­tisch nicht beson­ders her­vor­ge­tan habe“. Immerhin trägt er ver­mut­lich dazu bei, eine direk­te Beteiligung der Julius-Kühn-Straße an den Euthanasiemorden zu ver­hin­dern; ein spä­ter behaup­te­ter Einsatz für poli­tisch Verfolgte und Juden in der Klinik ist aber äußerst zweifelhaft. 

Nach dem Ende der Nazizeit hat die hal­li­sche Universitätspsychiatrie mit eini­gen Schwierigkeiten zu kämp­fen: Kriegszerstörungen, Platzmangel, unsi­che­re Personalverhältnisse – der nach 1945 wei­ter im Amt ver­blie­be­ne Fritz Flügel flieht 1949 in den Westen. Dennoch bes­sern sich die Zustände in der Frühzeit der DDR zunächst: Auf Wiederaufbau und Entnazifizierung fol­gen eini­ge the­ra­peu­ti­sche und fach­li­che Innovationen. Allerdings stel­len Ärzte- und Ressourcenmangel ein ernst­haf­tes Problem dar, und die grund­sätz­li­chen Bedingungen in den Psychiatrien der DDR erschei­nen immer rück­stän­di­ger. Daher for­mu­lie­ren eini­ge Ärzte 1963 und erneut 1974 Thesenkataloge zu einer grund­le­gen­den Reform der ost­deut­schen Psychiatrien, deren Umsetzung sich jedoch bald als sehr schwie­rig erweist. Der Wille zu mehr Humanität, ganz im Sinne Reils, ist zwar vor­han­den, aber für die Umsetzung feh­len oft die Ressourcen. So ent­wi­ckelt sich die DDR-Psychiatrie, dar­un­ter auch die hal­li­sche Klinik, immer mehr zu einem wider­sprüch­li­chen Gemisch aus hoff­nungs­lo­ser Rückständigkeit und punk­tu­el­len Lichtblicken. Vieles ist abhän­gig von den Persönlichkeiten der Ärzte und Pfleger: So berich­tet eine Patientin des Klinikums Dösen, dass es Anfang der 80er Jahre einen merk­li­chen Unterschied zwi­schen jün­ge­ren, pro­gres­si­ven Ärzten und denen der alten Schule gibt. Während die geschlos­se­ne Station kaum mehr als ein ver­git­ter­tes Kellergeschoss ist, mit Türen ohne Klinken, und in eini­gen Fällen auch noch – erfolg­los – auf Elektroschocks zurück­ge­grif­fen wird, ermu­tigt man gleich­zei­tig die Patienten der offe­nen Station, am Leben teil­zu­neh­men, zum Friseur zu gehen oder in der Gruppe die Oper zu besuchen. 

Doch es gibt auch ande­re Berichte aus Kliniken der DDR, die sich gera­de­zu wie Horrorgeschichten anhö­ren: Drakonische Tagesabläufe, Psychiatrien als bes­se­re Verwahranstalten, Patienten, die Arbeitsdienste ver­rich­ten müs­sen, ohne die der Betrieb zum Erliegen kom­men wür­de, sogar Patientinnen, die zur Abtreibung gedrängt wer­den, weil ihre Kinder sonst „schi­zo­phren gebo­ren wer­den wür­den“. In eini­gen Bereichen wir­ken die Gedanken der NS-Zeit offen­sicht­lich immer noch fort. Gleichzeitig ver­schlech­tert sich die mate­ri­el­le Lage der Kliniken immer mehr, auch in Halle ver­fal­len die Gebäude, die schmu­cken Pavillons im Park sind bald hoff­nungs­los über­füllt; das Personal kann nur wenig dar­an ändern. Und so sinkt die von Reil inspi­rier­te, von Hitzig erbau­te Einrichtung immer wei­ter her­ab, bis sie in dem Zustand ange­kom­men ist, in dem sie Andreas Marneros 1992 zum ers­ten Mal sieht, mit geschlos­se­nen Einrichtungen, die fast an die Zuchthäuser zur Reils Zeit erinnern. 

Hauptgebäude der Klinik für Psychiatrie, benannt nach Eduard Hitzig

Neuanfang in alten Mauern 

Doch trotz sei­nes anfäng­li­chen Entsetzens schmeißt Marneros den neu­en Job nicht gleich wie­der hin, son­dern stellt sich der Herausforderung, eine gan­ze Klinik von Grund auf zu erneu­ern. Als Erstes ver­schwin­den die Gitterstäbe, dann wer­den Schritt für Schritt die Bedingungen für die Patienten ver­bes­sert. Die alten Gebäude wer­den reno­viert, neue gebaut und moder­ne­re Therapiemethoden ein­ge­führt, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten. Das Ergebnis ist jedoch bemer­kens­wert: Besucht man heu­te die Julius-Kühn-Straße, so emp­fängt einen wie­der eine lich­te, grü­ne Oase inmit­ten der Stadt, mit meh­re­ren Gebäuden für die ver­schie­de­nen Arten von psy­chi­schen Erkrankungen, ganz nach Eduard Hitzigs Vorstellungen. Die geschlos­se­nen Stationen befin­den sich in den licht­durch­flu­te­ten bun­ten Neubauten, ein­ge­bet­tet in einen Garten, zwar nach außen hin ver­schlos­sen, aber im Inneren kaum von einer gewöhn­li­chen Krankenhausstation zu unter­schei­den. Einen Unterschied gibt es aller­dings: Der Betreuungsschlüssel ist deut­lich höher als in ande­ren Kliniken, die Ärzte kön­nen sich mehr Zeit für ihre Patienten neh­men, es gibt regel­mä­ßi­ge Besprechungen zu ein­zel­nen Fällen, die Oberärzte sehen jeden neu­en Patienten per­sön­lich und Therapieverläufe wer­den im Team bespro­chen – kei­nes­wegs eine Selbstverständlichkeit. Zwar kom­men Fixierungen und Zwangsmedikationen in man­chen Fällen vor, doch vom Klischee der Gummizelle und Zwangsjacke könn­te man hier nicht wei­ter ent­fernt sein. Auch einem Außenstehenden wird schnell deut­lich, dass alle Beteiligten enga­giert um das Wohl und die Würde der Patienten bemüht sind. Jeder wird unvor­ein­ge­nom­men behan­delt, egal ob chro­nisch depres­siv, manisch schi­zo­phren oder vor­be­straft und sucht­krank. Wer in die Julius-Kühn-Straße kommt, kann sich sicher sein, Hilfe und Sicherheit zu erhal­ten. Und vor allem gibt es eine Gewissheit: Hier bleibt man als Patient ein Mensch und ist kein Objekt, das weg­ge­sperrt und über des­sen Kopf hin­weg ent­schie­den wird – ganz im Geiste Reils, des Begründers der hal­li­schen Psychiatrie. 

Text und Fotos: Paul Thiemicke 

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