Ein immer fortwähren­der Fluss aus Tex­ten, Bildern, bewegten Bildern. Was schafft es in den Kanon der bre­it­en medi­alen Öffentlichkeit?  
Medi­ale Aufmerk­samkeit kann ein wichtiges Druck­mit­tel in poli­tis­chen Angele­gen­heit­en sein – so auch im Kon­text des gewalt­samen Vorge­hens der iranis­chen Regierung gegen die eigene Bevölkerung.  

Jina (Mah­sa) Ami­ni starb am 16. Sep­tem­ber 2022 nach ihrer Fes­t­nahme von der iranis­chen Sit­ten­polizei. Seit­dem gehen die Men­schen in Iran unter dem Leit­spruch Jin, Jiyan, Azadî (kur­dis­che Ver­sion von Zan, Zen­de­gi, Azadî, deutsche Über­set­zung: Frau, Leben, Frei­heit) auf die Straße und das in einem Land, in dem der leis­es­te Wider­stand gegen das Regime den Tod bedeuten kann. 

Nach der uner­müdlichen Ver­bre­itung von Infor­ma­tio­nen über Social Media, allen voran durch Iraner:innen und einige wenige Journalist:innen, find­en Berichte über die Proteste nach und nach auch ihren Weg in eine bre­it­ere (medi­ale) Öffentlichkeit: Die Tagess­chau berichtet, Talk­shows laden Expert:innen ein, Joko und Klaas über­re­ichen ihre Insta­gram-Kanäle und die damit ein­herge­hende Reich­weite an die iranis­chen Aktivistin­nen Azam Jan­gravi und Sarah Ramani, Insti­tu­tio­nen bekun­den ihre Sol­i­dar­ität. Auch die Kun­sthochschule Burg Giebichen­stein sowie der Stu­Ra der Mar­tin-Luther-Uni­ver­sität Halle-Wit­ten­berg sol­i­darisieren sich Ende Novem­ber mit den Kämpfen in Iran. Von der MLU gab es keine öffentliche Posi­tion­ierung, kein Zeichen der Anteil­nahme über Insta­gram; trotz Hin­weisen und Nachricht­en von Iraner:innen aus Halle und ein­er Demon­stra­tion vor Ort auf dem Uni­ver­sität­splatz.  
In Gesprächen mit den iranis­chen Stu­dentin­nen Hev­i­dar* und Azadeh* zeigt sich Ent­täuschung über aus­bleibende Reak­tio­nen aus dem Umfeld und von Seit­en der Uni­ver­sität: Aufmerk­samkeit von hier sei wichtig – es sei wichtig, dass hingeschaut wird, so Hev­i­dar. Bei­de erzählen einige Wochen nach Beginn der fem­i­nis­tis­chen Rev­o­lu­tion davon, nahezu per­ma­nent die Nachricht­en zu aktu­al­isieren. Ein nor­maler All­t­ag kaum denkbar. 

Nichts zu verlieren 

Hev­i­dar studiert in Halle und lebt seit vier Jahren in Deutsch­land. Es ist Ende Novem­ber, als wir miteinan­der sprechen; über zwei Monate dauern die Proteste zum Zeit­punkt unser­er Unter­hal­tung bere­its an. Kon­takt zu ihrer Fam­i­lie in Iran habe Hev­i­dar sel­ten, nicht mal zwei oder drei Minuten Gespräch wären ohne Unter­brechung der Verbindung möglich. 

 
Schon im Novem­ber 2019 wurde das Inter­net in der Islamis­chen Repub­lik Iran gekappt. Auch damals haben die Men­schen in vie­len Städten Irans gegen Wirtschaft und Poli­tik protestiert; Aus­lös­er war die Bekan­nt­gabe zur Erhöhung der Ben­z­in­preise.  
Dabei wur­den – ver­bor­gen vor den Augen der Welt durch den Inter­net-Shut­down – nach Angaben von Amnesty Inter­na­tion­al inner­halb von vier Tagen min­destens 304 Men­schen getötet. Während des gesamten Protestzeitraums von knapp zwei Wochen gab es Bericht­en zufolge etwa 1500 Todes­opfer – eines davon war der Cousin von Azadeh. 

Auch Azadeh studiert in Halle. Im Sep­tem­ber 2022 besucht sie das erste Mal nach drei Jahren wieder ihre Fam­i­lie in Iran. Während sie dort ist, stirbt Jina Amini. 

Wieder hier erzählt Azadeh, dass es bei den Demon­stra­tio­nen um mehr gehe als um den Hijab: Um die Wirtschaft, die Gesamt­lage in Iran – die Men­schen sähen keine Zukun­ft, kön­nten sich nichts leis­ten, es gebe keine Sicherheit. 

 
Das spiegelt sich auch in den Worten von Natal­ie Amiri, deutsch-iranis­che Jour­nal­istin, in ihrer Insta­gram-Sto­ry vom 10./11. Dezem­ber wider: „Die Luft wurde den Men­schen in der islamis­chen Repub­lik zum Atmen genom­men; ein­er­seits auf­grund der des­o­lat­en wirtschaftlichen Lage, auf­grund der jahre­lan­gen Sank­tio­nen, aber auch wegen der Mis­s­wirtschaft und Kor­rup­tion, Erniedri­gung und Diskri­m­inierung durch das Regime“. Der große Unter­schied zu den Jahren davor sei, dass die Men­schen sich nicht mehr ein­schüchtern ließen: „Die Men­schen haben nichts mehr zu ver­lieren und ste­hen einem Regime gegenüber, das alles zu ver­lieren hat“. 

Für die Freiheit 

Hev­i­dar erzählt, dass die Mut­ter ein­er Klassenkam­eradin getötet wurde – erschossen mit mehreren Kugeln während eines Protests in den ersten Wochen der fem­i­nis­tis­chen Rev­o­lu­tion. Sie sei eine tolle Frau gewe­sen, eine Per­son mit Lächeln, mutig und stark. Sie hätte ihre Tochter immer dazu aufge­fordert, ihr Essen mit ihren Klassenkam­eradin­nen zu teilen. 

Hev­i­dar berichtet von Unter­hal­tun­gen mit ihrem Vater – er schäme sich, noch am Leben zu sein, wo auf der Straße Kinder und Jugendliche ermordet wer­den. Er sage ihr immer, dass Rev­o­lu­tio­nen ihre Kosten haben und sie bere­it sein müssen, ihr Leben dafür zu geben, damit ihre Kinder, ihre Enkelkinder und die näch­sten Gen­er­a­tio­nen vielle­icht ein­mal frei in diesem Land leben kön­nten. „Wir müssen Hoff­nung haben, wir müssen ein­fach weit­er machen“, so Hev­i­dar. Die Men­schen hät­ten es satt: Wozu noch leben, wenn Töchter, Müt­ter, Schwest­ern, Brüder von der Regierung getötet wurden? 

Sie hat­te ihr Kopf­tuch auf, trug eine lange Hose und eine Bluse, darüber einen Man­tel, dessen Knöpfe geöffnet waren, als die Sit­ten­polizei auf sie zukam und sie ansprach, schildert Hev­i­dar eine Erin­nerung aus ihrer Jugend: Sie solle ihren Man­tel zu machen. Ein Moment der Angst, der Gedanke, mitgenom­men zu wer­den. Ihr Vater wäre direkt zu ihr gekom­men. Allein diese Minuten wären beängsti­gend gewe­sen, erzählt Hev­i­dar, auch wenn eigentlich nichts weit­er passiert sei. 
Es ist Pflicht für Frauen in Iran, den Hijab zu tra­gen – Jina wurde abge­führt, weil ihrer nicht ord­nungs­gemäß saß; auch öffentlich­es Tanzen und Sin­gen ist für Frauen in der Islamis­chen Repub­lik verboten. 

Hev­i­dar wün­scht sich, dass aufge­hört wird, das Regime zu ver­harm­losen, dass die Regierung nicht als solche akzep­tiert wird, dass [weit­ere] poli­tis­che Sank­tio­nen ver­hängt wer­den. Auch wenn sie wisse, dass Verän­derun­gen aus dem Inneren her­aus begin­nen müssen, find­et sie Druck von außen sin­nvoll und gut für die Revolution. 

Mitte März: Azadeh habe keine wirk­liche Hoff­nung mehr, die Men­schen seien ent­täuscht, hät­ten sich an die Sit­u­a­tion gewöh­nt, glaubt sie. Das Leben laufe weit­er, alles sei noch ein­mal teur­er gewor­den. Die Insta­gram-Kanäle ihrer Bekan­nten in Iran wür­den den Anschein erweck­en, als sei nie etwas passiert. Mit Hijab gin­ge jedoch kaum noch jemand auf die Straße, zumin­d­est in ihrer Heimat­stadt – ein Bild, was sich in Social-Media-Beiträ­gen bestätigt. 

15.03.23, @sepideqoliyan twit­tert ein Video.  
Es zeigt sie selb­st, Sepi­deh Qolian, nach vier Jahren und sieben Monat­en aus der Haft ent­lassen. Dazu schreibt sie auf Per­sisch „[…] Dieses Mal kam ich her­aus und hoffte auf die Frei­heit des Iran! […]“.  
Im Video zu sehen ist, wie sie mit offen­em Haar und Blu­men­strauß im Arm zwis­chen Men­schen auf der Straße ent­langge­ht und etwas ruft. Das Video wird geteilt und kom­men­tiert, ihre Rufe mehrfach (mit leicht verän­dertem) Wort­laut über­set­zt – ihre Worte richt­en sich an Khamenei, den ober­sten Führer Irans: Wir ziehen dich runter auf die Erde/Wir brin­gen dich unter die Erde.  

16.03.23, @DuezenTekkal, @Khani2Mina, @NatalieAmiri, … twit­tern. 

Sepi­deh Qolian wurde wieder verhaftet. 

„Die Wahrheit sind wir” 

Der Insta­gram-Kanal iran­de­taineere­ports veröf­fentlicht seit Mitte Dezem­ber Infor­ma­tio­nen über Per­so­n­en, die inhaftiert, getötet oder exeku­tiert wur­den; auf Kau­tion freige­lassen oder ver­misst wer­den. Noch immer wer­den, oft mehrfach täglich, Beiträge gepostet. 41, 69, 7. Abstrak­te Zahlen, die vielle­icht vergessen lassen, dass hin­ter jed­er Zahl Men­schen ste­hen. Men­schen mit Beziehun­gen, Bedürfnis­sen, Träu­men, Emo­tio­nen, Schmerzen und Hoff­nun­gen. Der Insta­gram-Kanal gibt einen Ein­blick in einige Geschicht­en, zeigt Gesichter hin­ter den Zahlen, liefert einen kurzen Kon­text – unter anderem zu 41 zum Tode verurteil­ten, 69 in Gefahr eines Todesurteils schweben­den und sieben exeku­tierten Per­so­n­en (Stand: 11.04.2023). Das tat­säch­liche Aus­maß an Hin­rich­tun­gen geht noch weit darüber hin­aus:  
Amnesty Inter­na­tion­al berichtet am 2. März von min­destens 94 Men­schen, die allein in 2023 von iranis­chen Behör­den hin­gerichtet wur­den. Beson­ders betrof­fen sind Kurd:innen und Belutsch:innen – eth­nis­che Min­der­heit­en in Iran. Grund­lage für die Hin­rich­tun­gen seien unfaire Gerichtsver­fahren, die Geständ­nisse mit­tels Folter erpresst. Dieter Karg von Amnesty Inter­na­tion­al fordert Druck von Seit­en der deutschen Regierung. 

Mitte April: Nach Nou­ruz, dem iranis­chen Neu­jahr, sei alles noch mal ein biss­chen anders gewor­den; es geht weit­er, Proteste laufen, erzählt Azadeh. Die Regierung ver­suche neue Regeln zu set­zen, die Sit­ten­polizei solle alle Frauen ohne Hijab auf der Straße ein­sam­meln – das wür­den sie jedoch nicht schaf­fen. Die Kopf­tuch­pflicht wird nun mit­tels Überwachungskam­eras kon­trol­liert, wird auf Social Media und in Nachricht­en berichtet. 

Natal­ie Amiri schreibt in einem Insta­gram-Beitrag vom 10. April 2023: „Egal mit wem ich im #iran spreche, er/sie sagt mir: ‘Wir wer­den unser Ziel erre­ichen…’ Es wird ein langer gefährlich­er Weg wer­den, mit unglaublich vie­len Hür­den […]. Der West­en hat kein Inter­esse an ein­er Verän­derung der Lage in der Region […]. Die angren­zen­den patri­ar­chalis­chen islamis­chen Län­der haben genau­so wenig Inter­esse daran, dass durch die Kraft der Frauen ein Regime der Män­ner fällt. Chi­na und Rus­s­land prof­i­tieren sowieso durch dieses Regime. Am Ende bleibt also nur die Kraft und der Wille der Menschen”. 

Nach wie vor sind soziale Medi­en der Raum, über den ein großer Teil der Berichter­stat­tung stat­tfind­et; in dem auf den fortwähren­den Kampf der Bevölkerung und die Bru­tal­ität der iranis­chen Regierung aufmerk­sam gemacht wird; in dem uner­müdlich von Folter, Verge­wal­ti­gun­gen, Vergif­tun­gen und Hin­rich­tun­gen berichtet wird. 

In Iran sei jede Per­son mit Handy in der Hand ein:e Journalist:in; wobei Journalist:in nicht das richtige Wort ist, glaubt Hev­i­dar – aber sozusagen eine Per­son, die berichtet, was genau auf der Straße passiert: „Die Wahrheit sind wir“, sagt sie in unserem Gespräch. 

Umgeben von zahlre­ichen Nachricht­en aus aller Welt wer­den Pri­or­itäten in der medi­alen Berichter­stat­tung geset­zt – müssen Pri­or­itäten geset­zt wer­den. Welche Geschicht­en erzählen, welche Kämpfe sehen, welche Men­schen­rechtsver­let­zun­gen benen­nen wir? Ob bewusst oder unbe­wusst, werten wir durch unsere Pri­or­itäten Ereignisse; werten Men­schen­leben. 
Ins­beson­dere in Krisen- und Über­lebenssi­t­u­a­tio­nen wird medi­ale Aufmerk­samkeit zu ein­er Währung, die Leben ret­ten kann – dafür muss jedoch hinge­se­hen wer­den. Nach wie vor kön­nen wir mit unseren Inter­ak­tio­nen, vor allem auf Social Media, der iranis­chen Bevölkerung zu Sicht­barkeit, Reich­weite und Aufmerk­samkeit ver­helfen, denn noch immer kämpfen Men­schen in Iran gegen die autoritäre Regierung: Für ihre Rechte, für ihre Frei­heit, für ihre Zukunft. 

 *Namen von der Redak­tion geändert 

Neben der Inter­ak­tion über Social Media für Reich­weite gibt es auch die Möglichkeit mit­tels Snowflake zu helfen. Snowflake ist ein Sys­tem, mit dessen Hil­fe Men­schen aus der ganzen Welt auf zen­sierte Inhalte im Inter­net zugreifen kön­nen. Nutzer:innen wer­den dafür zufäl­lig mit einem Snowflake-Proxy zusam­menge­bracht. Dazu braucht es Snowflake-Prox­ys, die von Frei­willi­gen aus Län­dern mit wenig Inter­net­zen­sur instal­liert wur­den. Auf der Web­seite https://snowflake.torproject.org/ find­en sich weit­ere Infor­ma­tio­nen darüber, wie das Sys­tem funk­tion­iert und wie ein Snowflake-Proxy herun­terge­laden wer­den kann – grund­sät­zlich benötigt der Down­load nichts weit­er als einen Lap­top oder ein Smart­phone und eine funk­tion­ierende Internetverbindung. 

Text und Illus­tra­tio­nen: Renja‑A. Dietze 

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