Am 3. Oktober 2020 jähr­te sich der Tag der Wiedervereinigung zum 30. Mal. Viele der Studierenden ken­nen die Zeit der Teilung Deutschlands nur aus Erzählungen der Eltern und Großeltern. Wie blickt die­se Generation, die nach dem Mauerfall gebo­ren wur­de, auf die Spaltung? Unterscheidet sie noch heu­te zwi­schen Ost und West? Welche Prognosen las­sen sich für die Zukunft tref­fen? Ein Interview mit dem Historiker Dr. Marcus Böick.

Marcus Böick
Foto: pri­vat

Dr. Marcus Böick, gebo­ren 1983 in Aschersleben, forscht vor­ran­gig zu deut­scher und euro­päi­scher Geschichte im 20. Jahrhundert sowie zur Geschichte der Transformationen und Umbrüche nach 1989. Besonderen Fokus leg­te er in sei­nen wis­sen­schaft­li­chen Arbeiten auf die Treuhandanstalt, deren Aufgabe in der Endphase der DDR dar­in bestand, die volks­ei­ge­nen Betriebe zu ver­wal­ten und zu pri­va­ti­sie­ren. In die­sem Zusammenhang war Marcus Böick zwi­schen 2016 und 2017 Leiter der Forschungsprojekts „Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt“ im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums. Seit Oktober 2017 ist Markus Böick Akademischer Rat an der Ruhr-Universität Bochum.

Herr Böick, wür­den Sie sich als Ost- oder Westdeutscher bezeichnen?

Die Frage kann ich mitt­ler­wei­le kaum beant­wor­ten. Ich habe als Kleinkind knapp sie­ben Jahre in der DDR gelebt, danach als Jugendlicher 13 Jahre bis zum Abitur in Sachsen-Anhalt ver­bracht und woh­ne nun schon seit über 16 Jahren im Ruhrgebiet in NRW. Da ist es schwer, sich ein­deu­tig zuzu­ord­nen, zumal man ja vie­le Dinge in der eige­nen Biografie als iden­ti­täts­be­stim­mend fin­den kann – den Beruf, ein Hobby, einen Sportverein. Vielleicht bin ich ein „Wossi“?

Stellen die Begriffe Ost- und Westdeutsch im Jahr 2020 eine poli­tisch kor­rek­te Unterteilung dar? Ist es statt­des­sen ange­mes­se­ner, von den „alten“ und „neu­en“ Bundesländern zu sprechen?

Auch hier fällt mir eine ein­deu­ti­ge Antwort schwer. Natürlich weiß ich aus per­sön­li­cher Erfahrung, aber auch aus mei­ner wis­sen­schaft­li­chen Arbeit, dass sich vie­le Menschen selbst als „ost­deutsch“ iden­ti­fi­zie­ren oder als sol­che iden­ti­fi­ziert wer­den. Explizit als „west­deutsch“ wür­de sich aber umge­kehrt kaum jemand bezeich­nen. Diese schar­fen Ost-West-Kategorien sind in die­ser Form erst nach 1990 ent­stan­den, als sich die ers­te Euphorie nach dem Mauerfall und der Vereinigung gelegt hat­te – und nun viel­mehr der Frust des grau­en Alltags her­vor­trat. Ab 1991/92 tau­chen dann der arro­gan­te „Besserwessi“ und der wei­ner­li­che „Jammerossi“ ver­mehrt auf. Von daher wird man sol­che Kategorien, die ja immer auch kul­tu­rel­le Schubladen sind, sicher stär­ker pro­ble­ma­ti­sie­ren müs­sen, auch und gera­de weil sie zen­tra­ler Bestandteil unse­rer gesell­schaft­li­chen Wirklichkeit sind.

Illustration: Maria Seliverstova

Am 3. Oktober 2020 jährt sich der Tag der Wiedervereinigung zum 30. Mal. Warum sind wir trotz der lan­gen Zeit immer noch auf die­se Teilung fixiert?

Die fort­be­stehen­den Unterschiede zwi­schen Ost und West sind in den letz­ten Jahren wie­der ver­mehrt zum Thema in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit gewor­den. Man war zunächst noch von die­ser „Mauer in den Köpfen“ über­rascht, dann hoff­te man lan­ge Zeit, dass sich das Problem qua­si „bio­lo­gisch“ lösen wür­de. Aber so ein­fach scheint es nicht zu sein.

Weshalb?

Es gibt, bei allen Annäherungen, noch immer mar­kan­te Unterschiede etwa beim Eigentum, aber auch in den Mentalitäten, die sich übri­gens auch bei jün­ge­ren Menschen zei­gen, die die DDR gar nicht mehr selbst erlebt haben. Natürlich sehen wir heu­te, dass Ostdeutsche in Führungspositionen noch immer stark unter­re­prä­sen­tiert sind, oder auch, dass die gro­ßen Unternehmen nicht im Osten ange­sie­delt sind. Vor allem nach 2015 tra­ten aber auch Unterschiede im Wahlverhalten zuta­ge, etwa weil auch die AfD beson­ders gut in den gar nicht mehr so neu­en Ländern abge­schnit­ten hat. All dies sind lang­fris­ti­ge Folgen von 40 Jahren deut­scher Teilung vor 1990, aber auch den unter­schied­li­chen Erfahrungen in der Zeit danach.

Der Großteil der Leser:innen unse­rer Zeitung ist nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung gebo­ren. Eine ähn­li­che Zielgruppe, die 18- bis 29-Jährigen, wur­de in der Studie „Im ver­ein­ten Deutschland gebo­ren ‒ in den Einstellungen gespal­ten?“ der Otto-Brenner Stiftung der IG Metall befragt. Einer der zen­tra­len Aussagen der Studie, „Insgesamt macht es heu­te kei­nen Unterschied mehr, ob man aus West- oder Ostdeutschland kommt“, stimm­ten 57 Prozent der Jugendlichen aus dem Westen zu, wäh­rend nur 33 Prozent der­sel­ben Altersgruppe aus dem Osten die Aussage bestä­ti­gen konn­ten. Worin sehen Sie die Hauptgründe für die­se unter­schied­lich aus­fal­len­de Einschätzung?

Wie gesagt: Eine eige­ne west­deut­sche Identität gibt es im Grunde kaum; hier über­wie­gen eher regio­na­le Eigenheiten – etwa zwi­schen Norden, Süden oder Westen, Stadt oder Land, aber auch zwi­schen ver­schie­de­nen eth­ni­schen Herkünften. NRW oder Bayern, das ist eine klas­si­sche Opposition. Der Osten fällt da noch immer etwas aus dem Muster heraus.

Die jün­ge­ren Ostdeutschen sind also im „luft­lee­ren Raum“ aufgewachsen?

Nein, sie sind ins­be­son­de­re durch ihre Eltern, Großeltern und Freunde geprägt. Und hier über­wiegt dann doch noch das Bewusstsein, etwas anders zu ticken als die Menschen im „Westen“. Dies scheint sich, zumin­dest zum Teil, dann auch auf die nach­fol­gen­den Generationen zu über­tra­gen. Erfahrungsgemäß wird es aber deut­lich kom­pli­zier­ter, wenn jun­ge Menschen ihre alte Heimat oder gar das Land für eine Zeit lang verlassen.

Eine wei­te­re Frage der Studie lau­tet: „Wie häu­fig haben Ihre Eltern oder Familie über die Wiedervereinigung und die Folgen gespro­chen?“ Auf die Fragestellung ant­wor­te­ten 28 Prozent der Heranwachsenden aus dem Westen mit „eher häu­fig“ und „sehr häu­fig“, und rund die Hälfte der Jugendlichen aus dem Osten gaben die­sel­be Antwort. Lässt sich dar­aus schlie­ßen, dass die Eltern aus dem Westen ver­säumt haben, ihren Nachwuchs über die Vergangenheit aufzuklären?

Auch dies ist wenig über­ra­schend. Während sich nach 1990 in der ost­deut­schen Gesellschaft nach dem Ende der DDR qua­si alles in rasan­ter Geschwindigkeit ver­än­dern muss­te, blie­ben im Westen nahe­zu alle Dinge weit­ge­hend unver­än­dert. Natürlich bil­de­te die Einigung einen poli­ti­schen Abschnitt und hat­te auch weit­rei­chen­de Folgen für Europa und die Welt. Aber davon merk­te man etwa im vom Strukturwandel geplag­ten Ruhrgebiet oder im wohl­ha­ben­den Münsterland zunächst ein­mal wenig – außer natür­lich Gelder und Transfers, die der „Aufbau Ost“ noch zu ver­schlin­gen schien. Von daher ist den Eltern in den alten Ländern zunächst kaum vor­zu­wer­fen, dass sie hier ihre Pflicht ver­säumt hät­ten; für vie­le war das ein­fach kein ent­schei­den­der Umbruch.

Den Eltern aus dem Westen kann man also dies­be­züg­lich kei­nen Vorwurf machen.

Teils, teils. Es stimmt schon, dass die Neugier hier lan­ge Zeit kaum aus­ge­prägt gewe­sen ist. Während der Osten immer sehr stark auf den Westen fixiert blieb, war das umge­kehrt nicht oft der Fall. Das hat natür­lich Spuren auch in der Erinnerungskultur hin­ter­las­sen, die heu­te stark zer­klüf­tet ist.

Ein aus­sa­ge­kräf­ti­ges Ergebnis lie­fert auch das Statement: „Die Menschen in Ostdeutschland wur­den nach der Wiedervereinigung oft unfair behan­delt.“ Jugendliche aus dem Westen stimm­ten dem zur Hälfte zu, wäh­rend im Osten rund drei Viertel dafür plä­dier­ten. Welchen Einfluss auf das Leben der Kinder hat die Selbstzuschreibung der Eltern als „Wendeverlierer“?

Illustration: Maria Seliverstova

Dieser Einfluss dürf­te hier ganz zen­tral sein. Viele jun­ge Menschen ken­nen die Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern über die Härte der Umbrüche, die nach 1990 über die Menschen her­ein­ge­bro­chen sind. Statt rasch „blü­hen­der Landschaften“ präg­ten gera­de in den ers­ten Jahren eine star­ke Orientierungs- und Arbeitslosigkeit das Bild. Viele Menschen muss­ten sich kom­plett umori­en­tie­ren. Manchen gelang dies erstaun­lich gut, ande­ren hin­ge­gen weni­ger. Solche unver­hoff­ten Umbruchphasen sind extrem beweg­te Zeiten, die zugleich auch vie­le Enttäuschungen und regel­rech­te Traumata pro­du­zie­ren kön­nen. Karrieren wur­den schlag­ar­tig been­det, lang­fris­ti­ge Planungen qua­si von einem Tag auf den ande­ren über den Haufen geworfen.

Andererseits ist aber auch kaum zu unter­schät­zen, wel­che unge­ahn­ten Freiheiten und Möglichkeiten die neue Zeit mit sich brach­te – in der Politik, aber auch beim Konsum oder im Bildungsbereich. Jedoch konn­ten nicht alle Menschen in glei­cher Weise dar­an teil­ha­ben. Es mach­te auch einen gro­ßen Unterschied, wie alt man im Jahr 1989 kon­kret gewe­sen ist.

Inwiefern hat­te das Alter einen Einfluss auf die neu­en Optionen und Freiheiten ab 1989?

Jüngeren eröff­ne­ten sich vie­le neue Möglichkeiten, Menschen mitt­le­ren Alters muss­ten um ihren Job kämp­fen, Ältere hin­ge­gen konn­ten viel­leicht ein­fach in Rente gehen. Von daher zie­hen vie­le Menschen auch heu­te noch eine sehr gemisch­te Bilanz, ohne dass alle Ostdeutsche pau­schal als „Wendeverlierer“ zu betrach­ten wären; es gibt natür­lich auch nicht weni­ge „Wendegewinner“.

Eine wei­te­re Aussage inner­halb der Studie lau­tet: „Es gab Dinge in der DDR, die bes­ser waren als im Westen.“ Dem schlos­sen sich Jugendliche aus dem Westen zu 35 Prozent an, wäh­rend die­sel­be Altersgruppe aus dem Osten sogar zu rund zwei Dritteln zustimm­te. Welche „Dinge“ asso­zi­ier­ten die Jugendlichen Ihrer Meinung nach mit der Aussage? Gab es viel­leicht sogar unter­schied­li­che Vorstellungen bei der Beantwortung der Frage, in Abhängigkeit von ost- oder west­deut­scher Herkunft?

Ich den­ke, man hebt hier einer­seits zumeist auf die viel­be­müh­ten „sozia­len Errungenschaften“ ab, die sich die SED selbst oft auf die Fahnen geschrie­ben hat. Hierzu zäh­len klas­si­scher­wei­se die aus­ge­dehn­te Kinderbetreuung, die Polikliniken, der sozia­le Wohnungsbau oder die fort­ge­schrit­te­ne Frauenerwerbstätigkeit. Aber bei die­sen Aspekten darf man nicht aus dem Blick ver­lie­ren, dass die DDR eine Fürsorgediktatur gewe­sen ist, die sich die Loyalität ihrer Bürger durch sozia­le Wohltaten erkau­fen woll­te – was übri­gens in den 1980er-Jahren immer schlech­ter funk­tio­niert hat. Und zu die­sem System gehör­te eben auch nicht nur die wohl­tä­ti­ge Seite, son­dern auch die repres­si­ve – in Gestalt von Staatssicherheit und Grenzregime. Hier muss man sich sicher vor all­zu mil­den Urteilen hüten, die den har­ten Diktaturcharakter des SED-Regimes im Nachgang völ­lig aus­blen­den wollen.

Andererseits haben vie­le Ostdeutsche nach 1990 den gesell­schaft­li­chen Zusammenhalt und auch das Gemeinschaftsgefühl ver­misst, die die diver­sen Nischen vor 1990 gebo­ten haben. Ob der rea­le Staatssozialismus in den Farben der DDR heu­te wirk­lich alter­na­ti­ve Modelle für anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche, sozia­le oder gar öko­lo­gi­sche Lebens- und Wirtschaftsformen im 21. Jahrhundert bereit­hal­ten kann – da wäre ich eher skep­tisch. Allerdings geht es bei die­ser Diskussion oft auch um Fragen der Anerkennung. Man sehnt sich danach, dass man auch im Westen aner­kennt, dass nicht alles, was in der DDR getan und gesagt wur­de, pau­schal „schlecht“ gewe­sen ist. Dies macht die Diskussion aber auch so kompliziert.

Die Erhebung „Kinder der Einheit ‒ same but (still) dif­fe­rent“ führ­te das Institut für Demoskopie Allensbach 2019 im Auftrag von McDonald’s durch. Dafür wur­den 1600 15- bis 24-Jährige befragt. Aus der Studie geht her­vor, dass Vorurteile beid­sei­tig exis­tie­ren. So beschrei­ben sich Ostdeutsche im Gegensatz zu Westdeutschen selbst als „ärmer“, „beschei­de­ner“ und „boden­stän­di­ger“, wäh­rend sie von Westdeutschen mit den Begriffen „offe­ner“, „ärmer“ und „ras­sis­ti­scher“ asso­zi­iert wer­den. Westdeutsche bezeich­nen sich selbst im Vergleich zu Ostdeutschen als „offe­ner“, „rei­cher“ und „welt­of­fe­ner“, wäh­rend sie in der Fremdbeschreibung mit Begriffen wie „arro­gan­ter“, „bes­ser bezahlt“ und „rei­cher“ beti­telt wer­den. Auch mit dem Ziel, sol­che Vorurteile mini­mie­ren zu kön­nen, for­der­te der Thüringer Bildungsminister Helmut Holter im Januar 2019 mehr Ost-West-Schüleraustausche. Stellt die­ser Vorschlag eine ziel­füh­ren­de Möglichkeit dar, um die Vorurteile jun­ger Menschen mini­mie­ren zu können?

Generell soll­ten alle inter­ak­ti­ven Formate stär­ker geför­dert wer­den, die den dia­lo­gi­schen Austausch zwi­schen ver­schie­de­nen Gruppen för­dern kön­nen. Das erweist sich häu­fig als unge­mei­ne per­sön­li­che Bereicherung, weil man so einen direk­ten Blick hin­ter die gän­gi­gen Klischees wer­fen kann. Im Ost-West-Verhältnis wäre das in der Tat eine enor­me
Bereicherung, aber letzt­lich nicht nur dort. Gleiches gilt natür­lich auch mit Blick auf ande­re Gruppen – etwa Menschen mit Migrationshintergrund –, aber auch den Austausch mit ande­ren Ländern in Europa oder dar­über hin­aus. Leider sind der­lei Formate immer mit erheb­li­chem Aufwand ver­bun­den und rela­tiv kost­spie­lig – an der Schule, aber auch an der Universität. Es gibt dort natür­lich vie­le Bemühungen und Initiativen im Kleinen und das auch schon seit vie­len Jahren. Aber hier besteht noch reich­lich Luft nach oben, das ist ganz klar.

Illustration: Maria Seliverstova

Einen wei­te­ren Themenkomplex, der in der Studie ange­schnit­ten wird, stellt die Problematik der Abwanderung dar. Während in Westdeutschland ins­ge­samt 18 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen für ihre Ausbildung oder ihr Studium bezie­hungs­wei­se ihren der­zei­ti­gen Arbeitsplatz in eine ande­re Region umzo­gen, waren es in Ostdeutschland 27 Prozent der Männer und sogar 34 Prozent der Frauen. Worin liegt Ihrer Meinung nach der Hauptgrund für die gestei­ger­te Mobilität beson­ders vie­ler jun­ger Frauen Ostdeutschlands?

Dies ist ein lang­fris­ti­ger Trend, bei dem sich Ost-West-Dynamiken mit Stadt-Land-Gegensätzen ver­bin­den und teil­wei­se auch ver­stär­ken. Viele jun­ge Menschen ver­las­sen die Provinz und zie­hen in die grö­ße­ren Städte mit ihrem brei­ten Angebot an Kultur, Bildung und Freizeit. Städte bie­ten mehr Möglichkeiten. Auf den Osten traf das nach 1990 noch viel dra­ma­ti­scher zu, da auch hier die länd­li­chen Regionen ganz mas­siv von Betriebsschließungen und Arbeitslosigkeit betrof­fen waren. Ich ken­ne das auch aus eige­ner Erinnerung: Für die meis­ten Mitschüler in mei­nem Jahrgang bot sich etwa kaum die Möglichkeit, in der Heimat einen Ausbildungsplatz zu bekom­men. Mittlerweile hat sich die Situation dies­be­züg­lich ver­än­dert, und viel­leicht wird auch hier die Corona-Pandemie ein Umdenken bewir­ken. Dennoch sind Abwanderung und Dauerpendeln Phänomene, die wir in Deutschland vor allem im Osten des Landes fin­den kön­nen. Und in ganz beson­de­rem Maße sind es natür­lich auf­stiegs­wil­li­ge jun­ge Frauen, die die­sen Regionen nach 1990 den Rücken gekehrt haben – was dort wie­der­um ganz eige­ne Problemlagen erzeugt hat. Allerdings gibt es der­lei „abge­häng­te“ Regionen auch im Westen, und eini­ge Regionen in Ostdeutschland ste­hen mitt­ler­wei­le im Vergleich sehr gut da – vor allem die grö­ße­ren Universitätsstädte, die seit eini­ger Zeit wie­der kräf­tig wachsen.

Die Abwanderung jun­ger Frauen aus struk­tur­schwa­chen Regionen bil­det einen ent­schei­den­den Faktor, der die Unzufriedenheit jun­ger Männer, vor allem in den ost­deut­schen Bundesländern, erhöht. Sehen Sie einen Zusammenhang zwi­schen einem rela­ti­ven „Überschuss“ an Männern und Wahlerfolgen rechts­ex­tre­mer Parteien?

Natürlich muss man mit der­lei Schlüssen stets vor­sich­tig sein. Dennoch scheint sich in die­sen Regionen eine sehr span­nungs­ge­la­de­ne sozia­le Situation ent­wi­ckelt zu haben, in der sich vor allem Männer als Verlierer eines „Systems“ sehen, das aus abge­ho­be­nen
„Eliten“ besteht.

Welche schein­ba­re Gefahr geht nach Ansicht der Männer von die­sen abge­ho­be­nen „Eliten“ aus?

Sie neh­men ihnen nicht nur die Frauen weg, son­dern begüns­ti­gen schein­bar auch alle ande­ren außer sie selbst – sei­en es Geflüchtete, Menschen mit Migrationshintergrund oder aus der LGBTQ-Community. Da sam­melt sich dann schnell eine Menge Frust. und männ­li­cher Frust ent­lädt sich dann eben häu­fi­ger auch in Gewalt und Wut. Und natür­lich schlägt sich das auch in der Suche nach ein­fa­chen Antworten und poli­ti­schen Angeboten nie­der, die kla­re Schuldige benen­nen und schein­bar hand­fes­te Lösungen ver­spre­chen. Da dür­fen dann Männer noch „ech­te Kerle“ sein, die daheim „die Hosen anha­ben“. Dass etwa die AfD sich beson­ders gro­ßer Beliebtheit bei jün­ge­ren ost­deut­schen Männern erfreut, kann dann wie­der­um weni­ger überraschen.

Mit dem Wahlverhalten jun­ger Erwachsener hat sich auch die Organisation More in Common aus­ein­an­der­ge­setzt. Sie unter­such­te in ihrer Studie „Die ande­re deut­sche Teilung“ das Wahlverhalten einer Stichprobe von 4000 Personen und teil­te die­se in sechs Kategorien ein. Besonders vie­le jun­ge Menschen las­sen sich der Gruppe der „Enttäuschten“ zuord­nen, die eine Wahlabsicht für die AfD von 28 Prozent aufweist.

Dieses Ergebnis stimmt wirk­lich nach­denk­lich und viel­leicht auch etwas traurig.

Die Zahlen der letz­ten Monate bestä­ti­gen die Zuweisung der Organisation, da bei­spiels­wei­se die U‑30-Jährigen bei der Wahl in Thüringen 2019 die AfD am häu­figs­ten von allen ande­ren Parteien wähl­ten. Welche Ursachen sehen Sie dafür, dass sich gera­de vie­le jun­ge Menschen in Ostdeutschland die­ser Gruppe zuord­nen lassen?

Illustration: Maria Seliverstova

Wir sehen in Europa gene­rell – gera­de auch im Süden oder Osten des Kontinents – dass jun­ge Menschen zuneh­mend das ban­ge Gefühl haben, dass ihre Zukunft nicht mehr wirk­lich in den eige­nen Händen liegt, dass sich hier weni­ger Chancen auf­tun, son­dern viel­mehr viel­fäl­ti­ge Bedrohungen und Gefahren lauern.

Stichwort Klimawandel.

Genau, der Klimawandel berei­tet enor­me Sorgen, man den­ke natür­lich an die „Fridays for Future“-Bewegung. Zugleich ste­hen aber auch Fragen glo­ba­ler oder eth­ni­scher Ungleichheiten wie­der stär­ker im Fokus. Schließlich erschwe­ren Digitalisierung und Globalisierung noch wei­ter die Orientierung: die Möglichkeiten erschei­nen einer­seits gren­zen­los, aber die Risiken und Kosten erschei­nen ande­rer­seits schwer abschätz­bar und zudem höchst ungleich ver­teilt. Aber dies ist ins­ge­samt nichts völ­lig Neues; ähn­li­che Konfliktlagen zwi­schen den ver­schie­de­nen Generationen hat es auch in den 1970er- und 1980er-Jahren gege­ben. Und in nicht all­zu fer­ner Zukunft wird es sicher auch eine Diskussion dar­über geben, wer die Folgekosten der jüngs­ten Corona-Maßnahmen zu tra­gen hat … Die „Ostjugend“ fügt sich da also durch­aus in eine brei­te­re Generationenlage ein, die man durch­aus erns­ter neh­men müsste.

Was muss pas­sie­ren, damit wir 2050, zum 60. Jahrestag der Wiedervereinigung, nicht mehr über Ost und West reden?

Vielleicht müss­te man, gera­de in Deutschland, Vielfalt eher als Bereicherung und nicht immer nur als zu bekämp­fen­des Problem sehen. So wich­tig gleich­wer­ti­ge Lebensverhältnisse und fai­re Chancen gera­de für Menschen aus benach­tei­lig­ten Gruppen natür­lich sind – nicht jede Differenz ist per se etwas Schlechtes. In der deut­schen poli­ti­schen Kultur herrscht jedoch ein hohes Bedürfnis nach Einheit und Einigkeit, was mit der spä­ten Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert zu tun hat. Aber viel­leicht wer­den wir im Jahr 2050 noch immer über „Ostdeutsche“ reden, aber dies mög­li­cher­wei­se stär­ker in einem euro­päi­schen Kontext stel­len? Aber bei der­lei Prognosen soll­te man – gera­de und beson­ders als Historiker/in – stets enor­me Vorsicht und Zurückhaltung üben.

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