Zwei Prozent aller Student:innen haben eine Lese-Rechtschreibschwäche. Das bringt besondere Probleme im Studium mit sich, die viele aus Furcht vor Ausgrenzung oder Vorurteilen für sich behalten. Eine Betroffene spricht offen über ihr alltägliches Studienleben mit Legasthenie.
Marie* lacht viel, ist hilfsbereit, und redet über so viele Themen, die sie interessieren, ohne Punkt und Komma. Auch in Vorlesungen beteiligt sie sich in fast jeder Sitzung und hat keine Scheu davor, einen Vortrag zu halten.
Doch Marie hat Legasthenie – eine Behinderung, die man ihr auf den ersten sowie auf den zweiten Blick nicht ansehen würde.
Verborgene Barrieren: Symptome und Diagnose der Legasthenie
„Mein Gehirn ist schnell überfordert bei Wörtern, die ich weniger häufig schreibe oder die sich ähnlich anhören. Sieht, egal wie ich es schreibe, falsch aus. (…) Manchmal komme ich aber auch bei meinem Gehirn nicht mit und verhaspele mich daher beim Schreiben, achte weniger auf Zeichensetzung, aber auch nicht auf Groß- und Kleinschreibung. Da wird häufig, wenn ich schnell schreibe, mein g zum d“.
Tatsächlich handelt es sich bei Maries Fall um keine Seltenheit. Laut Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks sind schätzungsweise zwei Prozent aller deutschen Student:innen von einer Leserechtschreibstörung, auch Legasthenie, betroffen. Abgeleitet vom lateinischen ‚legere‘ (lesen) und dem altgriechischen ‚asthéneia‘ (Schwäche), spricht man wortwörtlich von einer Leseschwäche. Sie gilt als Lernstörung und ist durch die WHO als Behinderung anerkannt, welche in keinem Zusammenhang mit den intellektuellen Fähigkeiten der Betroffenen steht.
Die Symptome umfassen laut dem Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V. Anzeichen beim Lesen wie niedrige Lesegeschwindigkeit und häufiges Stocken. Aber auch Schwierigkeiten, den Inhalt des gelesenen Textes wiederzugeben oder Ersetzen, Auslassen oder Austauschen von Wörtern, Silben oder Buchstaben sind ausschlaggebend. Beim Schreiben kommt es unter anderem zu Problemen in der Grammatik oder der Zeichensetzung, aber auch ganz unscheinbare Dinge wie eine unleserliche Handschrift, können in einigen Fällen ein Anzeichen für eine Legasthenie darstellen.
Die meisten Betroffenen erfahren diese Schwierigkeiten im Grundschulalter, worauf oftmals zügig eine Diagnose ihrer Legasthenie folgt. Auch Marie merkt an: „Ich hatte eigentlich schon immer Probleme mit dem Schreiben, besonders schlimm war es bei Diktaten. Ich lese auch recht langsam und brauche immer etwas länger, ob beim Schreiben oder beim Lesen.“ Sie selbst habe glücklicherweise noch keine Diskriminierung wegen ihrer Behinderung erlebt, fügt aber hinzu, dass sie sich in der Schule von ihren Lehrer:innen oftmals nicht ernst genommen gefühlt habe und diese ihr Problem nicht als solches wahrgenommen hätten.
Studieren mit Legasthenie
Auch an der Universität kann es zu Komplikationen kommen. Oftmals müssen die verschiedensten Lerninhalte von Vorlesungen oder Seminaren innerhalb kürzester Zeit erfasst und verarbeitet werden, was bei einigen Legastheniker:innen zu erhöhtem Stresspotenzial führen kann. Trotzdem entschied sich Marie für ein Studium. Ihre Diagnose habe bei der Wahl ihrer Studienfächer weniger eine Rolle gespielt als ihr eigentliches Interesse an den Fächern selbst. Als Studentin der Anglistik, Amerikanistik sowie der Slawistik fühlt sie sich sehr wohl, obwohl sie ab und zu mit einigen Hindernissen zu kämpfen habe:
„Beim Studieren ist es hauptsächlich das Problem, dass ich (…) auch beim Schreiben nicht gut bei Dozent:innen mitkomme und Aufnahme nicht immer eine Möglichkeit für mich ist. Beim Polnischen merke ich es besonders, dass ich bei den Buchstaben schnell durcheinanderkomme, besonders wenn sie gleich oder ähnlich ausgesprochen werden. Englisch fällt mir im Vergleich am leichtesten.“
Hilfe zur Selbsthilfe
Tatsächlich greifen viele Studierende, die mit einer Legasthenie, diagnostiziert wurden, zu einer Ansammlung an Tricks und Kniffen. Diese helfen ihnen, unerkannt und mit weniger Schwierigkeiten durch ihr Studium zu kommen. Die gängigste Hilfe dabei ist wahrscheinlich die automatische Rechtschreibprüfung in Textverarbeitungsprogrammen. Aber auch auditive Unterstützung wie Diktierfunktionen, Sprachausgaben und Aufnehmen von einzelnen Vorlesungen zu Zwecken der Aufzeichnung von Notizen erweisen sich als hilfreich. Diese Hilfsmittel sind allerdings hauptsächlich technischer Natur und helfen nicht, wenn man sich in einer schriftlichen Prüfung beweisen muss. Jedoch bringt Maries eigentliche Behinderung auch positive Nebeneffekte mit sich: „Ich muss etwas sozialer sein als andere und aus mir herauskommen, um um Hilfe zu bitten. Ich versuche immer zu schauen, ob Kommiliton:innen vielleicht ihre Mitschriften mit mir teilen können – in der Hoffnung, dass ich nicht rüberkomme wie eine faule Studentin.“
Da wären sie wieder – die befürchteten Vorurteile. Dabei kann man Marie unter keinen Umständen unterstellen, sie wäre faul. Ihre Diagnose beeinflusst dabei nicht nur ihren Studienalltag: „Ich versuche in meiner Freizeit so viel wie möglich zu schreiben, um mich mit komplizierten Wörtern auseinanderzusetzen. Ich versuche auch mehr mit Computer zu schreiben, da dieser die meisten Fehler erkennt und markiert.“ Zudem kommt ein etwas überraschendes Hobby: Tatsächlich liest Marie für ihr Leben gern.
Leider hält sich das Vorurteil, Legastheniker:innen seien dumm oder faul, immer noch hartnäckig. Doch berühmte Beispiele beweisen das Gegenteil, wie das des Schweizers Jacques Dubochet, der, trotz Legasthenie, 2017 den Nobelpreis für Chemie erhielt. Auch weitere bekannte Namen wie Thomas Edison, Walt Disney und Steven Spielberg leb(t)en mit der unsichtbaren Behinderung und konnten diesen Vorurteilen trotzen.
Auffällig vielen Legastheniker:innen wird zudem eine höhere soziale und emotionale Intelligenz nachgewiesen, so eine Studie der University of California, San Francisco aus dem Jahr 2020. Weitere Stärken ließen sich in der Kreativität und dem unkonventionellen Denken erkennen.
Wege zur Unterstützung im Studium
Im Studium lässt sich aktives Schreiben und Lesen jedoch nicht vermeiden. Wo bekommen Betroffene also Hilfe?
Nach dem Deutschen Studentenwerk ist es grundsätzlich möglich, mit einer Legasthenie-Diagnose einen Nachteilsausgleich zu erhalten, der neben finanzieller Unterstützung auch eine Berücksichtigung in Belangen des Studiums selbst mit sich bringt. An der Uni Halle umfassen solche Maßnahmen laut Website beispielsweise „längere Bearbeitungszeiten für Klausuren oder Hausarbeiten, schriftliche Prüfungen durch mündliche Prüfungen ersetzen, Klausur durch Hausarbeit ersetzen, oder auch Erholungspausen in Klausuren“.
Als Anlaufstelle an der MLU gilt die Beratungsstelle für Inklusion, die im Beantragungsprozess beratend zur Seite stehen kann, einen Nachteilsausgleich zu erzielen. Diese Anträge der Studierenden mit Legasthenie werden dann vom Studien- und Prüfungsausschuss überprüft und bestenfalls genehmigt. Das Urteil über Maries Nachteilsausgleich steht aktuell noch aus.
Sie hat an der Universität zunehmende gute Erfahrungen damit gemacht, offen mit ihrer Diagnose umzugehen. Einige Professor:innen hätten daraufhin, zur Erhaltung der Chancengleichheit, die Rechtschreibung des gesamten Kurses nicht in die Prüfungsbewertung einfließen lassen. Dies seien allerdings nur Ausnahmen und würden die Möglichkeiten, die ein Nachteilsausgleich mit sich bringe, in keiner Weise ersetzen können.
Marie möchte trotzdem aufmerksam machen und gleichzeitig gegen die hartnäckigen Vorurteile, die anderen Betroffenen gegenüber aufgebracht werden, vorgehen. Sie möchte als Beispiel dafür gelten, dass es Leuten mit Legasthenie möglich ist, mit Spaß und Freude aktiv zu studieren, auch wenn sie sich dafür einige Hilfestellungen organisieren musste. Aber wer musste das im eigenen Studium denn nicht?
Eure Legasthenie beeinflusst auch euch in eurem Studium und alltäglichem Leben? Oder eine:r eurer Freund:innen hat sich Euch anvertraut und braucht Unterstützung?
Hier findet ihr einige Anlaufstellen, an die ihr Euch wenden könnt, die euch gern weiterhelfen:
Infos zum Studium mit Legasthenie:
Beratungsstelle für Inklusion
https://www.inklusion.uni-halle.de/
AK Inklusion beim StuRa Halle
https://www.stura.uni-halle.de/ak-inklusion/
Stabstelle für Vielfalt und Chancengleichheit
https://www.rektorin.uni-halle.de/stabsstellen/vielfalt-chancengleichheit/
Studium — Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e.V.
https://www.bvl-legasthenie.de/ausbildung-beruf/studium.html
Die jungen Aktiven — Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e.V.
https://www.bvl-legasthenie.de/junge-aktive.html
*(Name der Befragten wurde auf eigenen Wunsch für den Artikel verändert)
Grafik: Marlene Nötzold