30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist Sachsen-Anhalt für Studierende aus ganz Deutschland extrem attraktiv: In kein anderes Bundesland kommen prozentual mehr junge Menschen zum Studieren. Gleichzeitig verliert Sachsen-Anhalt auch prozentual die meisten Absolventen. Eine Spurensuche nach den Ursachen für diese scheinbar widersprüchliche Lage.
Ein sonniger Dienstagvormittag im Februar. Die Cafeteria auf dem Steintor-Campus ist nur spärlich besetzt, einige Studierende haben sich zum Lernen verabredet, andere zum Frühstücken. Unter ihnen ist Hannah Bramekamp, aufgewachsen in Bonn. Nach der Schule absolvierte sie einen Freiwilligendienst im Burgund in Frankreich, mittlerweile steht sie kurz vor ihrem Bachelor-Abschluss in Interkulturellen Europa- und Amerikastudien (IKEAS). „Als ich erzählt habe, dass ich in Halle studieren will, haben alle zuerst an Halle in Westfalen gedacht“, erzählt Hannah bei einem Kaffee. „Ich meinte aber das Halle ‚da drüben‘. Da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, wie stark dieses Ost-West-Bild immer noch verankert ist, zumindest in der Generation meiner Eltern.“
Halle galt lange Zeit als das Zentrum der DDR-Chemieproduktion. Das Bild einer dreckigen Industriestadt, der „Diva in Grau“, nicht zuletzt geprägt durch den Anblick der Plattenbauten von Halle-Neustadt, ist bis heute weit verbreitet. Auch – oder sogar vor allem – bei Menschen, die Halle noch nie mit eigenen Augen gesehen haben.
„Wer heute ein Studium anfängt, kann keine eigenen Ost-West-Erfahrungen gemacht haben“, stellt Prof. Dr. Christian Tietje, Rektor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), fest. „Die DDR ist tiefste Geschichte und nichts Reales mehr in der Selbstwahrnehmung junger Menschen.“ Tatsächlich ist Halle nur ein Beispiel zahlreicher ostdeutscher Universitätsstädte, die für Studienanfänger seit Jahren hochattraktiv sind. In der Nachwende-Generation gilt Halle längst als attraktive, lebenswerte und sogar naturnahe Studentenstadt. „Ich hatte immer nur gehört, Halle sei so hässlich“, meint auch Hannah Bramekamp. „Als ich herkam, war ich total positiv überrascht – wahrscheinlich, weil ich nichts erwartet hatte.“
Ostdeutschlands Hochschulen sind beliebt wie nie zuvor
Ein überdurchschnittlich hoher Zuzug Studierender in die ostdeutschen Bundesländer ist auch statistisch belegt: Im März 2019 veröffentlichten die Universität Maastricht, der Personaldienstleister Studitemps aus Köln und das Unternehmen Constata mit Sitz in Bonn gemeinsam eine vielbeachtete Studie. Dafür befragten die Wissenschaftler zwischen 2012 und 2018 in drei Wellen jeweils zwischen 18 000 und 21 000 Studierende, Hochschulabsolventen und Schüler aus ganz Deutschland zu ihrem Umzugsverhalten im Zusammenhang mit ihrem Studium. Sachsen-Anhalt erhält laut dieser Studie am sogenannten „Ersten Übergang“, dem Wechsel von der Schule an die Hochschule, ein Plus an Studierenden von 31,3 Prozent. Das bedeutet in konkreten Zahlen: Wenn 100 Schüler in Sachsen-Anhalt im Sommer ihr Abitur machen, gibt es im Herbst 131 Studienanfänger im Land. Allerdings studiert laut Zahlen der Kultusministerkonferenz nur knapp jeder zweite Sachsen-Anhalter in seiner Heimat. Von den 131 Studienanfängern stammen also nur gut 50 von hier, die übrigen 81 sind zugezogen. Damit bildet Sachsen-Anhalt nicht nur mehr Studierende aus, als es Schüler zum Abitur führt, der Anteil zugezogener Studienanfänger ist auch höher als der einheimischer.
Sachsen-Anhalt weist unter den Flächenländern das bundesweit höchste Zuzugsplus an Studierenden auf, dahinter folgt Sachsen mit einem Plus von 25,4 Prozent. Hessen und Bayern sind die einzigen westdeutschen Flächenländer, die ein Studierendenplus verzeichnen, beide nur im einstelligen Bereich. Die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin weisen deutlich höhere Werte auf, was laut den Verfassern der Studie jedoch hauptsächlich durch Zuwanderung aus den benachbarten Flächenländern verursacht wird und auch aufgrund der starken strukturellen Unterschiede zwischen Stadtstaat und Flächenland gesondert betrachtet werden muss.
Rektor Christian Tietje ist sichtlich stolz auf die Beliebtheit Sachsen-Anhalts und damit auch seiner Universität: „Die MLU zeichnet sich durch moderne Lerninhalte, einen engagierten Lehrkörper, einen guten Betreuungsschlüssel und attraktive Räumlichkeiten aus. Niedrige Lebenshaltungskosten machen Halle als Stadt natürlich ansprechend, auch wenn das für viele sicher nicht der ausschlaggebende Punkt ist.“
Günstige Mieten – das ist tatsächlich einer der Aspekte, die Stefan Jaschik nennt, wenn er nach Vorteilen eines Studiums in Halle gefragt wird. Als Studienbotschafter der MLU für den Bereich Physik ist der gebürtige Dresdner etwa viermal im Jahr auf Studienmessen deutschlandweit im Einsatz. Außerdem bloggt er über sein Studium und das Studentenleben in Halle und steht der Marketing-Abteilung der MLU für Kampagnen zur Studierendengewinnung zur Verfügung.
„Es kommt schon vor, dass Leute mich auf Messen auch nach Jobperspektiven in Halle fragen. Dann sage ich als Studienbotschafter natürlich ja, die gibt es.“ Stefan selber wird im Sommer sein Masterstudium in Medizinischer Physik abschließen und ist noch unsicher, ob er in Halle bleiben wird. „Ich habe mit meinem Abschluss die Möglichkeit, eine zweijährige Ausbildung anzuhängen und dann in der Klinik zu arbeiten.“ Die Wahrscheinlichkeit, dass das in Halle funktioniert, liege bei „30 Prozent“, schätzt Stefan Jaschik.
Medizinische Physik ist nicht der einzige Studiengang, mit dem es Absolventen in Mittel- und Ostdeutschland schwer haben: Sachsen-Anhalt hat historisch bedingt keinen akademisch geprägten Arbeitsmarkt. Zahlreiche Absolventen beabsichtigen daher, ihren ostdeutschen Studienort zu verlassen, so die zweite große Erkenntnis der Studie. Erneut steht Sachsen-Anhalt an der Spitze: Aus diesem Bundesland wollen prozentual die meisten Absolventen auch wieder in andere Länder abwandern, nämlich 64 Prozent, mehr als jeder zweite. Ähnlich gravierend stellt sich die Lage in Brandenburg (minus 57,1 Prozent) und in Thüringen dar (minus 49,0 Prozent). Die Länder, die einen starken Zuzug von Studienanfängern erleben, verzeichnen gleichzeitig einen erheblichen Wegzug von Absolventen.
Zunächst handelt es sich dabei um einen völlig logischen Vorgang: Wo mehr Menschen zuziehen, ziehen auch wieder mehr Menschen weg. Betrachtet man allerdings das Gesamtsaldo der innerdeutschen Studierendenmigration, das die Bewegung vom Abitur über das Studium hinweg bis zur Aufnahme der Erwerbstätigkeit darstellt, fällt auf, dass nicht nur zugezogene Studierende ihre Studienregion wieder verlassen. Auch jeder zweite aus Sachsen-Anhalt stammende Studienanfänger steigt nicht in seinem Heimatbundesland ins Berufsleben ein.
Profiteure dieser Wanderungsbewegungen sind ohnehin erwerbsstarke Regionen sowie die drei deutschen Stadtstaaten. Etwa Hamburg verzeichnet ein astronomisches Saldo von plus 234,4 Prozent, das einzige Flächenland mit positivem Saldo ist Bayern.
Absolventenexport als Gütesiegel
Die hohe Abwanderungsrate von Absolventen sieht MLU-Rektor Christian Tietje allerdings nicht als Problem, sondern vielmehr als Qualitätsmerkmal der Lehre an seiner Universität. „Es ist nicht die primäre Aufgabe einer Universität, für die Region auszubilden, sondern möglichst in europäisch-internationalen Maßstäben“, so der Rektor. Soll heißen: Absolventen aus Halle sind hochqualifiziert und so gefragt, dass sie ihren Arbeitsort frei wählen können. Tietje bringt es auf den Punkt: „Eine Uni wäre keine Uni, wenn sie nicht für den internationalen Arbeitsmarkt ausbilden würde. Und eine Uni ist umso erfolgreicher, je mehr Absolventen dort Fuß fassen.“
Tatsächlich sind die Erkenntnisse in diesem zweiten Teil der Studie mit Vorsicht zu genießen: Erfasst wurde lediglich, ob eine Absicht vorliege, abzuwandern, nicht jedoch, ob dies auch tatsächlich erfolgte. Die Hochschule Anhalt mit Hauptsitz in Köthen befragte zwischen 2005 und 2016 rund 18 000 ihrer Absolventen zu deren Mobilitätsverhalten nach dem Studium und gewann dabei die Erkenntnis, dass von den aus Sachsen-Anhalt stammenden, zwischenzeitlich abgewanderten Personen 81 Prozent während des Erfassungszeitraums wieder zurückkehrten. Diese Zahlen mögen die Erkenntnisse der Maastricht-Studie etwas relativieren, wobei nicht vergessen werden darf, dass die Martin-Luther-Universität aufgrund des erheblich größeren Studienangebots sicherlich mehr Studierende anzieht, die nicht aus Sachsen-Anhalt stammen, und damit auch weniger Rückkehrer aufweisen dürfte.
Sachsen-Anhalts Wissenschaftsminister Prof. Dr. Armin Willingmann (SPD) war selbst bis vor wenigen Jahren Rektor der Hochschule Harz in Wernigerode. „Jedes Land versucht, sein Hochschulsystem so zu organisieren, dass es zu den vielfältigen Anforderungen passt. In Sachsen-Anhalt sind das zwei Universitäten, eine Kunsthochschule und fünf Hochschulen in staatlicher sowie zwei in kirchlicher Trägerschaft“, zählt der Minister auf. „Dabei gehen wir selbstverständlich davon aus, dass Studienplätze nicht nur für sogenannte Landeskinder vorgehalten werden. Wir rechnen also bereits bei den Kapazitäten von Studienplätzen ein, dass Studierende zuziehen. Dadurch entstehen dem Land Sachsen-Anhalt Ausbildungskosten, die – wenn Sie so wollen – anderen Bundesländern zugutekommen.“ Die Verfasser der Studie beziffern diese mit jährlich 304 Millionen Euro, geben allerdings keine genaue Rechengrundlage an. Minister Armin Willingmann steht ihnen daher kritisch gegenüber: „Diese Zahlen verkennen neben erheblichem Mittelzufluss, der gerade durch den Zuzug entsteht, dass Bildung und Wissenschaft sich nicht von vorne bis hinten anhand einer Kosten-Nutzen-Rechnung betriebswirtschaftlich durchrechnen lassen.“ Man dürfe nicht vergessen, dass durch Hochschulpakt und Länderfinanzausgleich auch viel Geld nach Sachsen-Anhalt fließe. „Der Mehrwert, der alleine dadurch entsteht, dass Menschen hier studieren, ist ohnehin höher als die Bildungsausgaben“, konstatiert Willingmann und verweist auf die kurzfristige Kaufkraft der Studierenden, die kulturelle Bereicherung der Gesellschaft sowie die langfristige Verbundenheit der Absolventen mit der Region.
Globaler und lokaler Arbeitsmarkt in ungleicher Konkurrenz
„Natürlich haben wir als Universität auch eine regionale Verantwortung“, räumt Rektor Christian Tietje ein. Fach- und Lehrkräftemangel stellten Herausforderungen dar, die der Mitwirkung der Universitäten bedürften. „Aber es ist zweitrangig, ob ein Absolvent nach Tokio, Rio oder in den Saalekreis geht.“
Tino Schlögl vom Career Center der Uni Halle bildet seit mehr als zehn Jahren eine Schnittstelle zwischen Absolventen, die Schwierigkeiten beim Start ins Berufsleben haben, und Unternehmen in der Region, die dringend auf qualifizierte Fachkräfte angewiesen sind. In seinen Beratungsgesprächen weise er natürlich auf Angebote in der Region hin, betont er. „Aber wenn jemand nicht in der Region bleiben will oder kann, ist es nicht meine Aufgabe, ihn zum Hierbleiben zu bewegen.“
Wissenschaftsminister Willingmann verweist auf den Weinberg-Campus: Der zweitgrößte Technologiepark Ostdeutschlands generiere mit seiner regen Startup-Szene selbst neue Arbeitsplätze, insbesondere für hochqualifizierte Akademiker. „Außerdem betreiben wir eine erfolgreiche Ansiedlungspolitik von Unternehmen und schaffen auch damit akademische Arbeitsplätze.“ Auf diese ohnehin schon existierenden Angebote müsse stärker hingewiesen werden, findet Willingmann. Wie darüber hinaus Fachkräfte, an denen es nicht nur Sachsen-Anhalt bereits jetzt und zukünftig womöglich noch stärker mangeln wird, langfristig an das Land gebunden werden können, sagt der Minister nicht. Der Lehrkräftemangel zumindest werde durch bereits in die Wege geleitete Maßnahmen in zehn Jahren behoben sein, äußert er zuversichtlich.
Hannah Bramekamp hat schon konkrete Pläne für die Zeit nach dem Bachelor-Abschluss: Sie will ein weiteres Mal nach Frankreich, diesmal nach Paris, wo sie bereits zwei Auslandssemester absolviert hat. „Dort möchte ich erst mal Praktika machen, für den Master will ich wieder nach Deutschland zurückgehen.“ Halle kommt für sie dann nicht mehr infrage, weil ihr favorisierter Master-Studiengang an der MLU nicht angeboten wird. Ihr Berufsleben sieht Hannah langfristig auch nicht in Sachsen-Anhalt. „Ich kann mir Halle grundsätzlich gut zum Leben vorstellen“, meint sie, die Stadt sei lebendig und die Region auch landschaftlich schön. „Aber meine Familie und viele Freunde sind nun einmal in der Heimat.“
Auch Stefan Jaschiks Kommilitonen werden Halle nach ihrem Abschluss überwiegend verlassen, weiß er zu berichten. „Für die, die in der Wissenschaft bleiben wollen, ist es durchaus üblich, an eine andere Uni zu gehen. Die anderen haben meistens noch kein genaues Ziel, aber wahrscheinlich wird es bei vielen dann doch Richtung Westen gehen, ins Ruhrgebiet oder nach Baden-Württemberg“, meint Stefan. Dort gibt es aufgrund der höheren Bevölkerungsdichte mehr Kliniken und damit auch für Stefan eine größere Bandbreite an potenziellen Arbeitsmöglichkeiten. Für sich selbst schließt er diese Regionen allerdings aus und würde prinzipiell gerne in Mitteldeutschland bleiben. Dabei ist Halle nur eine Möglichkeit unter mehreren Städten: „Ob das dann Dessau ist, Magdeburg, Wernigerode oder auch wieder Dresden, irgendwo, wo man auch gut wohnen kann, das wäre schön. Wahrscheinlich wird es aber eher Niedersachsen oder Thüringen werden.“
Es wäre falsch, auf den bloßen Zahlen der Studie zu insistieren, ohne Effekte zu berücksichtigen, die sich nicht in Zahlen ausdrücken lassen. Gibt es ein besseres Mittel zum Aufpolieren des Namens der Stadt Halle als junge Menschen, die das Bild der „grauen Diva“ in der Welt ausmalen? Die Studie belegt eindrucksvoll, dass offenbar schon viel Farbe erfolgreich verstrichen wurde.
Sachsen-Anhalt wird nicht von heute auf morgen einen vielfältigen akademischen Arbeitsmarkt ausprägen. Es muss auch niemand auf Zwang die Zahl der bleibenden Absolventen in die Höhe treiben. Wichtig ist jedoch, dass Studierende den Respekt vor ihrer Studienregion behalten und Sachsen-Anhalt, wie der gesamte Osten Deutschlands, nicht unfreiwillig von der modernen, attraktiven Hochschulregion zum reinen Billig-Bildungsland wird.