Die Spielzeit 2019/20 des neuen theater in Halle ist gestartet – unter anderem mit einer Inszenierung von Lessings “Nathan der Weise”. Darin lassen sich die Macher*innen die Geschlechter herzlich egal sein und bringen genau zur richtigen Zeit ein Plädoyer für Menschlichkeit und Verständigung auf die Bühne.
Aha, der Nathan also! Ob es ein Statement des Theaters ist, angesichts der (partei-)politischen Lage Sachsen-Anhalts und der gesamten Republik genau diesen Klassiker aufzuführen? Schließlich gilt das Ideendrama von Gotthold Ephraim Lessing als das Plädoyer für Humanismus und Toleranz schlechthin.
Doch geht es in der Originalvorlage vor allem um die Verständigung zwischen Judentum, Christentum und Islam, so spannt das Inszenierungsteam rund um Ronny Jakubaschk den Bogen wesentlich weiter: Identität überhaupt soll das große Thema der Inszenierung sein, kündigte Dramaturgin Sophie Scherer schon vorab im Interview mit Radio Corax an. Deutlich wird das auch an der Besetzungsliste. Denn nahezu alle männlichen Rollen werden von Schauspielerinnen übernommen – und alle weiblichen von Schauspielern.
Nebensächliche Pronomen und Spiel mit der Identität
„We’re all born naked and the rest is drag“, hat RuPaul vor Jahren gesungen. An diese Zeile erinnert das Ensemble, wenn es in den ersten Minuten auf einem Schiff im schlichten Saal anreist – alle vorerst in den gleichen rotschwarzen Ganzkörperanzügen – und sich vor aller Augen zu kostümieren beginnt: Judith Butlers „doing gender“ quasi als „doing drama“. An diesem Abend steht nicht die alberne Überzeichnung vermeintlich geschlechtertypischen Verhaltens im Vordergrund. Stattdessen geht es vielmehr darum, zu zeigen, dass Schauspieler*innen schlichtweg Rollen mit Eigenschaften darstellen. Die Pronomen werden dabei nahezu zur Nebensache. Daja, die Gesellschafterin für Nathans Ziehtochter Recha, könnte in ihrer körperlichen Unsicherheit genauso gut der nervöse, aber ganz witzige Typ von nebenan sein.
Die Kontingenz von Identität wird auch in den schwindelerregenden Rollenwechseln verdeutlicht, die beispielsweise Nicoline Schubert und Matthias Walter vollziehen. Das amüsiert nicht nur das anwesende Publikum, sondern auch die übrigen Schauspieler*innen, die in ihren Spielpausen am Rand hocken und ihren Kolleg*innen beim Spiel zuschauen. Das Schiff vom Beginn hält, in wenigen Handgriffen umgebaut, als Bühne her. Trotz des Zaubers, den Musik, Nebel und Schattenspielelemente mit sich bringen, liegt unter dem Abend durchweg ein augenzwinkerndes „Hey – ist aber alles Theater, okay?“
Immer noch ein Plädoyer für Menschlichkeit
Lessing veröffentlichte „Nathan der Weise“ vor 240 Jahren. Es ist erschreckend, wie viel Aktualität dieser Stoff immer noch in sich trägt: Sei es der religiöse Fundamentalismus des Patriarchen oder der Antisemitismus gegen Nathan; sei es Rechas Schicksal, als junge Frau für sämtliche Projektionen herhalten zu müssen oder des Tempelherrn Unfähigkeit, als junger Mann zu seiner eigenen Verletzlichkeit zu stehen.
Das nt geht den Klassiker mit Humor an. So wird der tyrannische Patriarch in seiner im wahrsten Sinne des Wortes überschäumenden Autorität so überspitzt dargestellt, dass über ihn vor allem gelacht werden kann. Trotzdem strahlt die Inszenierung auch etwas Düsteres aus, was unter anderem an der Maske liegen mag, die jede*n einzelne*n Spieler*in an den Joker erinnern lässt. Neben dem Augenzwinkern scheint noch eine weitere Botschaft den Abend zu bestimmen: „Seht her, wir sind die grotesken Clowns – und wir spielen euch immer noch ein Plädoyer für Menschlichkeit und Verständigung vor.“
Nathan der Weise neues theater Halle
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Ronny Jakubaschk
Bühne und Kostüme: Alexandre Corazzola
Dramaturgie: Sophie Scherer
Mit: Petra Ehlert, Alexander Pensel, Matthias Walter, Nicoline Schubert, Nils Andre Brünnig, Marlene Tanczik
Weitere Infos und Termine unter buehnen-halle.de/nathanderweise