Zuhause – ein Wort, wel­ches in den let­zen Monaten mehr an Bedeutung gewon­nen hat. Für die einen löst es Gefühle von Gemütlichkeit, Entspannung und Sicherheit aus – ein Zufluchtsort. Doch für ande­re ist es ein Ort beherrscht von Gewalt.

Ein Jahr liegt hin­ter uns, mit des­sen Verlauf wir alle nicht gerech­net haben. Von einer welt­wei­ten Pandemie getrof­fen muss­ten wir unse­ren Alltag maß­geb­lich ändern – sozia­le Kontakte bis auf ein Minimum ein­schrän­ken und zuhau­se blei­ben. Beschränkungen, die eini­ge von uns här­ter tref­fen als ande­re. Im Besonderen die­je­ni­gen, die häus­li­che Gewalt erfah­ren. Und auch wenn die­ses Problem nicht erst seit Corona exis­tiert, spitzt es sich dadurch immer wei­ter zu.

Die Entscheidung, sich Hilfe zu suchen, ist in den meis­ten Fällen ein lang­wie­ri­ger Prozess. Denn betrof­fe­ne Menschen müs­sen sich aus eige­ner Kraft ins Gedächtnis rufen, dass sie ein selbst­be­stimm­tes Leben füh­ren, wel­ches nicht von Demütigungen und Gewalt gekenn­zeich­net sein soll­te. Das Wiedererlangen die­ser Erkenntnis kann unter­schied­lich lang dau­ern, des­halb ist es umso wich­ti­ger, zahl­rei­che Hilfsangebote anzu­bie­ten. Die Interventionsstelle „Häusliche Gewalt und Stalking“ in Halle, ein Angebot der Arbeiterwohlfahrt Regionalverband Halle-Merseburg e.V., ist eine davon. Die Beratung ist kos­ten­los, unver­bind­lich und streng vertraulich.

Illustration: Ludmila Nischentschenko

Im Telefoninterview gibt Susann Werner, eine von zwei Beraterinnen der Interventionsstelle, Einblicke in ihre Arbeit sowie die Veränderungen, die mit Corona ein­her­gin­gen. Als stu­dier­te Sozialpädagogin berät sie seit einem hal­ben Jahr Opfer häus­li­cher Gewalt und Stalking.

Gibt es einen bestimm­ten Ablauf bei Beratungsgesprächen?

Nein, den gibt es nicht, da wir immer indi­vi­du­ell auf die Probleme der Betroffenen ein­ge­hen und bera­ten. Jedoch ist der ers­te Schritt die Erfragung der Problemlage sowie die Klärung der Wohnsituation. Je nach­dem, was vor­ge­fal­len ist, ent­schei­den wir, wel­che Bereiche der Beratung benö­tigt wer­den: eine Sicherheits‑, Verhaltens- oder psy­cho-
sozia­le Beratung. Natürlich unter­lie­gen wir dabei der Schweigepflicht, dür­fen aber bei Zustimmung der Opfer die Polizei mit einschalten.

Häufig sind Frauen die Opfer bei häus­li­cher Gewalt. Hat sich dadurch Ihr Bild zu Männern verändert?

In unse­rem Beruf unter­schei­den wir nicht zwi­schen Mann oder Frau. Es sind Betroffene, die unse­re Unterstützung benö­ti­gen. Männer sind zwar weni­ger von mas­si­ver kör­per­li­cher Gewalt betrof­fen, jedoch lei­den sie häu­fig unter psy­chi­scher Gewalt.

Wie hal­ten Sie die­se Arbeit see­lisch aus? Entwickelt man eine gewis­se emo­tio­na­le Distanz?

Es ist eine gro­ße Herausforderung, da wir nur die Krisen­intervention sind. Eine kurz­fris­ti­ge Beratung, und danach ver­mit­teln wir wei­ter. Erfolgsgeschichten oder posi­ti­ves Feedback sind daher eher eine Seltenheit. Darum ist es umso wich­ti­ger, dass es zwei Beraterinnen gibt, damit man sich unter­ein­an­der aus­tau­schen kann. Supervisionen und Psycho­hygiene sind in unse­rem Beruf not­wen­dig. Bei Supervisionen, die mehr­mals im Jahr mit Experten statt­fin­den, wer­den Arbeitsprozesse reflek­tiert und Handlungs­alternativen ent­wor­fen. Um eine aus­ge­gli­che­ne psy­chi­sche
Gesundheit zu bewah­ren, darf die Psychohygiene nicht ver­nach­läs­sigt wer­den. Damit ist gemeint, dass wir die Arbeit im Büro las­sen, um im Privaten abschal­ten zu können.

Die Fakten
Unter häus­li­cher Gewalt sind zual­ler­erst nicht die nor­ma­len Familienstreitigkeiten zu ver­ste­hen, wel­che in jedem Haushalt zu fin­den sind. Es sind schwe­re Gewalt­taten, die über meh­re­re Jahre andau­ern kön­nen. Dem Opfer wird hier­bei phy­si­scher, psy­chi­scher, sexu­el­ler oder sozia­ler Schaden zuge­fügt. Opfer von Partnerschafts­gewalt sind zu über 81 Prozent Frauen, dar­un­ter lebt die Hälfte mit den Tatverdächtigen zusam­men. Das zeigt die zuletzt ver­öf­fent­lich­te kri­mi­nal­sta­tis­ti­sche Auswertung zur Partnerschaftsgewalt des Bundeskriminalamts. 2019 gab es 141 792 erfass­te Fälle, die Opfer von Partnerschaftsgewalt wur­den, davon waren knapp 115 000 weib­lich. In einer Studie „Gewalt gegen Frauen. Eine EU-wei­te Erhebung“ im Jahr 2014 gab rund jede drit­te Frau an, min­des­tens ein­mal kör­per­li­che und/oder sexu­el­le Gewalt seit dem 16. Lebensjahr erlebt zu haben. Die Dunkelziffer wird jedoch deut­lich höher ein­ge­schätzt, da Studien und Statistiken das gesam­te Ausmaß nicht wider­spie­geln können.

Wurden Beratungen in die­sem Jahr auf­grund der Pandemie und des Lockdowns ver­mehrt in Anspruch genommen?

Definitiv. So vie­le Betroffene wie im Jahr 2020 gab es in den letz­ten 18 Jahren, seit­dem es die Interventionsstelle gibt, noch nie. Natürlich stei­gen die Zahlen von Jahr zu Jahr kon­ti­nu­ier­lich. Der Grund hier­für ist nicht, dass es mehr Betroffene gewor­den sind, son­dern Menschen infor­mier­ter sind und sich mehr trau­en, Hilfe zu suchen. Der nor­ma­le Zuwachs liegt im Jahr bei fünf Prozent. Im ver­gan­ge­nen Jahr haben wir jedoch einen Anstieg von etwa einem Drittel ver­zeich­net. Dass es einen Zusammenhang mit Corona geben muss, liegt auf der Hand. Verständlicherweise. Durch Homeoffice, Kurzarbeit und das stän­di­ge Aufeinanderhocken haben sich die Zustände zuhau­se verschlechtert.

Über Gewalt gegen Frauen zu spre­chen gilt bei vie­len noch als Tabuthema. Es wird meist ver­harm­lost und klein­ge­re­det. Wird ihrer Meinung nach zu wenig dage­gen unter­nom­men, auch in der Politik?

Innerhalb der Corona-Pandemie wur­de ver­mehrt über das Thema berich­tet und Nummern, wie das Hilfetelefon, über sozia­le Netzwerke ver­teilt. Jedoch ist es auf jeden Fall noch ein Tabuthema. Menschen wol­len sich ungern mit Themen wie die­sen aus­ein­an­der­set­zen oder über­haupt dar­über reden – auch nicht in der Politik. Und dass es ein unbe­lieb­tes Thema ist, merkt man den Betroffenen an, da eine gro­ße Scham besteht, über die Dinge zu reden,
die ihnen pas­siert sind. Zwar gibt es Frauenhäuser und Beratungsstellen, davon jedoch viel zu wenig, genau­so wenn es um die Personalausstattung geht. Wir sind am Limit.

Was kann dage­gen unter­nom­men werden?

Aus per­sön­li­cher Erfahrung weiß ich, dass Öffentlichkeitsarbeit sehr wenig Anklang fin­det, denn die meis­ten ver­schlie­ßen hier­bei nur Augen und Ohren. Wichtiger ist es, dort die Informationen zu streu­en, wo sich poten­ti­ell Betroffene auf­hal­ten. Und dass Fachkräfte in Schulen, Kindergärten und der Polizei sich ent­spre­chend schu­len las­sen, damit sie die Zeichen erken­nen und han­deln kön­nen. Aber auch jeder von uns, soll­te auf­merk­sam sein und nicht die Augen vor Dingen ver­schlie­ßen, bei denen man ein ungu­tes Gefühl ver­spürt. Lieber ein­mal mehr nach­fra­gen als ein­mal zu wenig.

Illustration: Ludmila Nischtschenko

Wichtige Telefon-num­mern im Notfall

Frauenhaus Halle: 0345 4441414
Interventionsstelle Halle: 0345 6867907
Hilfetelefon: 08000 116 016
Polizei: 110

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