An den Außengrenzen Europas ster­ben jeden Tag Menschen. Das sind kei­ne unglück­li­chen Zufälle, das sind gleich­zei­tig Folgen und Ziel aktu­el­ler EU-Politik, in deren Kurssetzung Deutschland als wirt­schaft­lich sehr star­kes und bevöl­ke­rungs­reichs­tes Land des Staatenverbundes eine beson­ders mäch­ti­ge Rolle spielt. Ein Artikel über den ver­faul­ten Kern unse­rer “frei­heit­li­chen und demo­kra­ti­schen Wertegemeinschaft”.

Frankreich, 1938

Dass sich im Juli die­ses Jahres die Konferenz von Évian zum 86. Mal jährt — dar­an wer­den wohl die wenigs­ten der betei­lig­ten Instanzen erin­nern. Vertreter:innen von 32 Ländern und 71 Hilfsorganisationen waren der Einladung des US-ame­ri­ka­ni­schen Präsidenten Franklin D. Roosevelt gefolgt und tra­fen sich vom 8. bis 15. Juli 1938 im fran­zö­si­schen Évian-les-Baines nahe der schwei­ze­ri­schen Grenze. Ziel des Treffens: Ein gemein­sa­mes Besprechen der immer wei­ter stei­gen­den Zahl an flüch­ten­den Jüdinnen und Juden (bezie­hungs­wei­se jener Gruppe von Menschen, die laut Nürnberger Rassegesetze als sol­che gal­ten) aus Deutschland – auch wenn das nie so benannt wur­de. Auf dem Treffen mied man tun­lichst die Begriffe „Juden“, „Hitler“ und „Nazideutschland“. Die Hilfsorganisationen hat­ten kein Stimmrecht, ledig­lich durf­ten eini­ge von ihnen Wortbeiträge ein­brin­gen. Am Ende blieb die Konferenz nahe­zu ergeb­nis­los. Außer der Dominikanischen Republik war kein Staat bereit, wei­te­re Menschen auf­zu­neh­men. Die USA ver­wies auf die Obergrenze, die sie sich selbst gesetzt hat­te. Chaim Weizmann, der dama­li­ge Präsident der Zionistischen Weltorganisation, stell­te fest, dass die Welt in zwei Teile zer­fal­len sei: Die eine, in der Jüdinnen und Juden nicht mehr leben konn­ten und die ande­re, die sie nicht hereinließ.

Die Konferenz von Évian ist ein recht unbe­kann­tes und doch wich­ti­ges Ereignis der Geschichte: Die feh­len­de Hilfsbereitschaft der ande­ren Staaten erlaub­te schließ­lich das gesam­te Ausmaß der Shoah. Nein, nie­mand der Teilnehmenden fuhr einen Zug über­vol­ler Viehtransporter Richtung Osten. Niemand von ihnen stand mit einem Gewehr in der Hand im Wald von Riga und rich­te­te dort im Sekundentakt. Niemand von ihnen selek­tier­te an einem Bahngleis. Aber sie alle waren der Grund, war­um es so vie­le Menschen waren, die dem indus­tri­el­len Massenmord der Nazis zum Opfer fal­len konnten.

Das Wort “Shoah” stammt aus dem Hebräischen und ist die Bezeichnung für den sys­te­ma­ti­schen Massenmord jüdi­scher Menschen im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Holocaust; bezieht sich also allein auf jene Opfer, die auf­grund anti­se­mi­ti­scher Motive getö­tet wur­den. Übersetzt bedeu­tet Shoah “die gro­ße Katastrophe” oder “das gro­ße Unglück”. Es gibt ver­schie­de­ne Schreibweisen.

Wieso wis­sen so weni­ge von die­sem Ereignis? Ist es allein die Scham, die ver­an­lasst, die Geschehnisse in ein ver­ges­sen­des Schweigen zu hül­len? Oder sind es viel­mehr die Parallelen, die man viel zu leicht aus jener Vergangenheit in unse­re Gegenwart zie­hen kann?

Wir, 2024

Im Juni letz­ten Jahres hat die EU beschlos­sen, ihr Asylrecht wei­ter zu ver­schär­fen. Geflüchtete mit wenig Aussicht auf Asyl sol­len in haft­ähn­li­chen Bedingungen auf ihre Abschiebung war­ten, die mit behörd­li­cher Schnellabfertigung durch­ge­setzt wer­den soll. Länder, die durch einen Verteilungsschlüssel ihnen zuge­wie­se­ne Geflohene nicht auf­neh­men wol­len, kön­nen sich mit einer Zahlung davon frei­kau­fen. Außerdem soll die Kooperation mit Ländern außer­halb der EU beim Thema Geflüchtete ver­stärkt wer­den. Wenige Tage nach die­ser Nachricht traf eine wei­te­re ein: Vor der grie­chi­schen Küste war ein Boot vol­ler flie­hen­der Menschen geken­tert, über 600 von ihnen sind dabei gestor­ben. Damit hat­te sich mit einem Schlag die offi­zi­el­le Zahl im Mittelmeer ertrun­ke­ner Geflüchteter für 2023 mehr als ver­dop­pelt. Berichten von Überlebenden zufol­ge habe eine anwe­sen­de Patrouille der grie­chi­schen Küstenwache nicht etwa ver­sucht, die Menschen von dem über­vol­len Boot zu ber­gen, bevor es sank, son­dern woll­ten es statt­des­sen in ita­lie­ni­sches Gewässer und damit außer­halb ihres Zuständigkeitsbereichs schlep­pen. Abwehr statt Hilfe.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel 3

Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.

Die EU befes­tigt ihre Außengrenzen — seit Jahren. Man schirmt sich ab gegen die Menschen, die ver­su­chen, dem Bombenhagel, Terror und Hunger zu ent­flie­hen. Ganz vor­ne bei der Grenzfestigung mit dabei: Deutschland.

Deutschland? Das Land, des­sen Kanzlerin 2015 noch groß­mü­tig mein­te „Wir schaf­fen das“? Nun ja, man darf nicht ver­ges­sen, dass zu dem Zeitpunkt, als Angela Merkel die­sen Satz sag­te, bereits der größ­te Teil der etwa eine Millionen Flüchtenden aus dem Jahr in bezie­hungs­wei­se in der Nähe Deutschlands war. So schnell hät­te man kei­ne Zäune an der bay­ri­schen Grenze bau­en kön­nen. Dass über­haupt eine so gro­ße Zahl auf ein­mal nach Deutschland kam, lag wie­der­um allein an einem Kommunikationsfehler im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Dort hat­te man sich ange­sichts der stei­gen­den Asylanträge in Absprache mit der Regierung intern auf eine vor­über­ge­hen­de Aussetzung der Durchführung der Dublin-III-Verordnung geei­nigt. Ein offi­zi­el­les Statement soll­te das eigent­lich nicht wer­den. Nach einem Tweet vom BAMF-Account jedoch, der genau das ver­kün­de­te, hieß es plötz­lich: Deutschland macht die Grenzen auf. Solidarität aus Versehen.

Pufferzone Nachbarland

Moment mal, Dublin III? In Deutschland gilt seit 1993 die soge­nann­te Drittstaatenregelung. Wenn ein asyl­su­chen­der Mensch indi­rekt über ande­re Länder nach Deutschland ein­reist, in wel­chen er kei­ne poli­ti­sche Verfolgung zu befürch­ten hat, hat er kein Recht auf deut­sches Asyl. Das Schengener Abkommen von 1995 unter­brach jedoch die­se Praxis, da Ländergrenzen inner­halb der EU nun anders gewer­tet wur­den. 1997 wie­der­um wur­de das Dubliner Übereinkommen ein­ge­setzt, wonach die Drittstaatenregelung nun EU-weit gilt, sprich: Asylsuchende müs­sen ihren Antrag in jenem EU-Land stel­len, das sie als ers­tes betre­ten. Seitdem wur­de die­se Vereinbarung zwei wei­te­re Male aktua­li­siert, der­zeit nennt sich die Verordnung also Dublin III.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel 14, Absatz 1

Jeder hat das Recht, in ande­ren Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.

Wenn man sich eine Karte der EU anschaut, wird man fest­stel­len: Als flie­hen­der Mensch ist es ganz schön schwie­rig, als ers­tes EU-Land Deutschland zu errei­chen. Warum Deutschland – das mit Frankreich mäch­tigs­te Land in der EU – die­se Politik unter­stützt, ist klar: So sind wir zur Aufnahme sehr vie­ler Menschen nicht ver­pflich­tet und kön­nen mit Verweis auf die Zuständigkeit ande­rer Länder kon­se­quent abschie­ben oder schlicht Hilfe ver­wei­gern. So lie­ßen deut­sche Behörden zum Beispiel im letz­ten Winter hun­der­te Menschen im Grenzland zu Polen unver­sorgt frie­ren und beschos­sen die­se sogar zeit­wei­se mit Wasserwerfern. Sie soll­ten zurück nach Polen und dort Asyl beantragen.

Andere EU-Länder, vor allem im Südosten, enga­gie­ren inzwi­schen Asylbewerber:innen, die ihnen hel­fen, Flüchtende an ihren Grenzen ille­gal zurück­zu­schla­gen (das kann man ruhig wort­wört­lich neh­men). Sie ver­spre­chen ihren Helfer:innen im Gegenzug einen Aufenthaltstitel. Deutschland macht sei­ne Drecksarbeit immer­hin noch selbst – oder lässt das Winterwetter für sich arbeiten.

Dublin III ist auch ein wich­ti­ger Grund, war­um ein Drittel aller deut­schen Abschiebungen im letz­ten Jahr in ande­re EU-Länder erfolg­te. Vor allem nach Griechenland schiebt Deutschland viel und häu­fig ab. Gerade dort sind die Zustände in vie­len Geflüchtetenlagern kata­stro­phal. Nicht immer gibt es sau­be­res Wasser. 2020 berich­te­te eine Ärztin aus dem Lager Moria auf Lesbos, das Häufigste, was sie bei Kindern behand­le, sei­en Rattenbisse. Griechenland hat seit der Finanzkrise 2008 mit gro­ßen Löchern in sei­nem Staatshaushalt zu kämp­fen, das Geld reicht kaum für die sozia­le Absicherung der eige­nen Bevölkerung. Das Land bekommt auch kei­ne ech­ten Möglichkeiten dafür, müs­sen doch durch die mit den EU-Finanzhilfen auf­ge­zwun­ge­nen Sparmaßnahmen haupt­säch­lich Staatsschulden getilgt wer­den. Diese bestehen wie­der­um zu gro­ßen Teilen bei deut­schen und fran­zö­si­schen Banken. Deutschland schiebt also Menschen und Verantwortung an ein Land ab, das durch EU-Politik finan­zi­ell aus­blu­tet, wäh­rend das Geld in den deut­schen und fran­zö­si­schen Finanzsektor fließt.

Mittelmeer – Grenzfeste und Massengrab

Griechenland ist ein Extrembeispiel, doch auch bei­spiels­wei­se Bulgarien, eben­falls nicht das öko­no­misch stärks­te Land in der EU, war bis zur Abdichtung der soge­nann­ten „Balkanroute“ – dem Landweg in die EU – kom­plett über­las­tet. Ein wei­te­rer Staat, der durch Dublin III mit der Aufnahme von Flüchtenden seit Jahren über­for­dert ist, ist Italien. Abgesehen von den innen­po­li­ti­schen Konsequenzen, die sich dort unter ande­rem durch ein gro­ßes Erstarken rech­ter Kräfte aus­drü­cken, wur­de das Land auch beim Thema Seenotrettung von der EU im Stich gelas­sen. Von Oktober 2013 bis Oktober 2014 betrieb Italien eine Marineoperation namens Mare Nostrum. In der Zeit konn­ten etwa 150 000 flie­hen­de Menschen aus dem Mittelmeer gebor­gen und vor einem wahr­schein­li­chen Ertrinken geret­tet wer­den. Die Kosten von 114 Millionen Euro trug das Land allein. Auf Anfrage bei der EU, ob denn in deren 115 Milliarden Euro schwe­ren Haushalt Möglichkeiten zur finan­zi­el­len Unterstützung auf­find­bar sei­en, erfolg­te kei­ne Reaktion. 114 Millionen Euro für 150 000 Gerettete, das sind rund 760 Euro für ein Menschenleben. Das war der EU zu teu­er. Mare Nostrum wur­de eingestellt.

Die EU star­te­te dar­auf­hin eine eige­ne Operation namens Frontex Plus bezie­hungs­wei­se Triton. Frontex ist die 2004 in Warschau gegrün­de­te Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache. Die Aktion Triton soll­te jedoch nicht das Ausmaß des “sehr ehr­gei­zi­gen” Vorgängerprogramms umfas­sen, wie es die dama­li­ge EU-Kommissarin für Innenpolitik, Cecilia Malmström, aus­drück­te, und wur­de mit nicht ein­mal einem Drittel des Budgets von Mare Nostrum aus­ge­stat­tet. Ziel war von nun an auch nicht mehr das Retten von Menschenleben, dafür habe Frontex laut Deutschem Innenministerium weder das Mandat noch die Ressourcen, es gin­ge ledig­lich um Grenzschutz. Bis heu­te kön­nen Frontex zahl­rei­che ille­ga­le Push-Backs nach­ge­wie­sen wer­den, also Aktionen, bei denen Asylsuchende gewalt­sam am Eintritt in EU-Gebiet gehin­dert wer­den. Auch Fälle, in denen Frontex-Boote jede Hilfe bei dro­hen­dem Schiffsbruch oder Gewalt durch die liby­sche und tune­si­sche Küstenwache ver­wei­ger­ten, gibt es zuhauf.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel 25, Absatz 1

Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der sei­ne und sei­ner Familie Gesundheit und Wohl gewähr­leis­tet, ein­schließ­lich Nahrung , Kleidung , Wohnung, ärzt­li­che Versorgung und not­wen­di­ge sozia­le Leistungen. […]

Gleichzeitig wur­de das Mittelmeer Schauort soge­nann­ter Krisenbewältigungsoperationen. Die European Union Naval Force – Mediterranean (EUNAVFOR MED) star­te­te 2015 die Operation Sophia. Offiziell soll EUNAVFOR MED Hilfe bei der Fluchtursachenbekämpfung leis­ten, jedoch kon­zen­triert man sich ledig­lich auf Schleuser, die Fliehenden den Weg nach Europa ermög­li­chen. Es wer­den also die Fluchtwege anvi­siert — nicht die Ursachen. Das Ziel von Sophia war das Beobachten und Erfassen lybi­scher und tune­si­scher Schleppernetzwerke. Seenotrettung erfolg­te hin und wie­der, war aber zweit­ran­gig. Gestemmt wird EUNAVFOR MED durch die Marine ver­schie­de­ner EU-Länder, auch Deutschland. 2020 erfolg­te der Übergang zu Operation Irini. Da es sich nun offi­zi­ell um einen mili­tä­ri­schen Einsatz han­delt, muss­te der Bundestag das Mandat für die deut­sche Partizipation ertei­len. Bei Irini spie­len die Leben Fliehender eine noch gerin­ge­re Rolle. Formal soll das Waffenembargo gegen­über Libyen durch­ge­setzt wer­den, wes­halb Schlepperboote als ver­meint­li­che Schmuggeltransporte fest­ge­setzt wer­den kön­nen. Wirklichen Erfolg hat die Operation nicht wirk­lich vor­zu­wei­sen, aber immer­hin kann man so wei­ter­hin Menschen auf ihren Weg nach Europa aufhalten.

Es gibt jedoch auch jene, die sich dem poli­tisch zumin­dest gedul­de­ten, wenn nicht gar for­cier­ten Sterben im Mittelmeer ent­ge­gen­stel­len. Die zivi­le Seenotrettung ist für vie­le auf dem Meer Treibende ihre ein­zig ech­te Chance auf Überleben und eine Zukunft in Europa. Verschiedene Organisationen, über Spenden finan­ziert, durch­kreu­zen mit ihren Schiffen das Mittelmeer, um dort die Menschen von ihren kaum schwimm‑, geschwei­ge denn navi­gier­fä­hi­gen “Booten” zu holen und an die euro­päi­sche Küste zu schaf­fen. Doch ist die Reichweite und Dichte der zivi­len Seenotrettung weder annä­hernd aus­rei­chend, um das gan­ze Meer abzu­si­chern, noch kön­nen die Retter:innen unge­hin­dert ihre Arbeit ver­rich­ten. Die EU und ein­zel­ne ihrer Länder legen der zivi­len Seenotrettung immer wie­der Steine in den Weg, indem sie ihren Schiffen kei­ne Ausfuhrgenehmigung ertei­len oder sie mit Geretteten an Bord nicht anle­gen las­sen. Ein bekann­tes Beispiel war die offi­zi­ell ille­ga­le Hafeneinfahrt der Sea-Watch 3 auf Lampedusa im Juni 2019, nach­dem die­se wochen­lang mit 40 Geretteten das Mittelmeer durch­kreuzt hat­te, ohne eine Anlegeerlaubnis von einem der angren­zen­den EU-Staaten zu erhal­ten. Die Kapitänin des Schiffes, Carola Rackete, wur­de dar­auf­hin von den ita­lie­ni­schen Behörden fest­ge­nom­men. Organisationen wird immer wie­der mit offi­zi­el­len Festnahmen, unter ande­rem wegen ille­ga­ler Schlepperei, gedroht. Auf See kam es schon zu meh­re­ren Zusammenstößen mit Frontex, aber auch der liby­schen und tür­ki­schen Küstenwache.

Die europäische “Sicherheit” wird in der Sahara verteidigt

Weil unmit­tel­ba­re Grenzsicherung sehr auf­wen­dig ist, hat man sich in der EU über­legt: Wie wäre es, wenn wir Nicht-EU-Länder ein­be­zie­hen in unse­ren Grenzschutz? Das pas­siert vor allem durch Verträge. Der soge­nann­te „Flüchtlingspakt“ von 2016 dürf­te das bekann­tes­te Beispiel sein. Die tür­ki­sche Regierung hält syri­sche Flüchtende von der euro­päi­schen Grenze ab und muss jene Geflüchtete zurück­neh­men, die es auf die grie­chi­schen Ägäis-Inseln schaf­fen, jedoch kein Anrecht auf Asyl haben. Im Gegenzug flie­ßen Milliarden Euro von EU-Geldern in das Land am Bosporus. Ob die­ses Pakts dürf­te die Wiederwahl Recep Tayyip Erdoğans als tür­ki­sches Staatsoberhaupt bei eini­gen Entscheidungsträger:innen in der EU für Erleichterung gesorgt haben, schließ­lich war er es, mit dem der Vertrag geschlos­sen wur­de. So bleibt die „Balkanroute“ vor­erst dicht.

Doch es gibt auch wei­te­re Staaten, mit denen die EU-Verträge hat, um Fliehende von den euro­päi­schen Außengrenzen fern­zu­hal­ten. 2014 wur­de der Khartoum Process ins Leben geru­fen, laut Website „a plat­form for poli­ti­cal coope­ra­ti­on amongst the coun­tries along the migra­ti­on rou­te bet­ween the Horn of Africa and Europe. It aims at estab­li­shing a con­ti­nuous dia­lo­gue for enhan­ced coope­ra­ti­on on migra­ti­on and mobi­li­ty.“ De fac­to kooperiert(e) man für die­sen Pakt unter ande­rem mit Umar al-Baschir, dem bis 2019 im Sudan herr­schen­den isla­mis­tisch-fun­da­men­ta­lis­ti­schen Diktator, gegen den ein inter­na­tio­na­ler Haftbefehl wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor­liegt. Salva Kiir Mayardit, Präsident Südsudans, ist eben­so Teil der Vereinbarung, unter des­sen Regierung Kriegsverbrechen wie sys­te­ma­ti­sche Vergewaltigungen und das Anheuern von Kindersoldaten nach­ge­wie­sen sind. Und auch Eritrea ist invol­viert, des­sen Präsident Isayas Afewerki eine Quasi-Diktatur führt und poli­ti­sche Gegner:innen fol­tern und ermor­den lässt. Mit die­sen und wei­te­ren Staaten schloss die EU in den letz­ten Jahren ver­mehrt Abkommen, die die Auszahlung von Entwicklungshilfen an das Festhalten (poten­zi­el­ler) Flüchtender knüpft. Die Kooperation sorgt auch dafür, dass man bei der Stärkung von Regierungsstrukturen hilft, damit jene mehr Möglichkeiten haben, um Fliehende und ihre Helfer:innen auf­zu­hal­ten. So gibt es bei­spiels­wei­se Unterstützung bei der Ausbildung von Polizeikräften. Die EU stärkt also Diktaturen und Terrorherrschaften, damit weni­ger flüch­ten­de Menschen Europa errei­chen. Das sind wohl auch die Kooperationen mit Nicht-EU-Staaten, die mit dem neu­en Asylrecht von letz­tem Jahr aus­ge­baut wer­den sollen.

Die europäischen Werte

Die Verantwortlichen der Konferenz von Évian haben sich gewei­gert, Menschen zu ret­ten. Hier kann man noch anmer­ken, dass sie trotz guter Informationen auch 1938 nicht das Ausmaß und die Systematik hin­ter der Shoah abse­hen konn­ten. Dennoch: Sie ent­sag­ten ihre Unterstützung. Sie unter­lie­ßen es, mög­li­che Hilfe zu leisten.

Das tut auch die EU – und gleich­zei­tig noch mehr. Während sie die Grenze um „ihren Teil“ der Welt immer enger zieht, ver­steht sie genau, wel­che Konsequenzen ihr Handeln hat. Die Verantwortlichen wis­sen, war­um die Menschen sich auf die Flucht machen. Sie sind ja selbst ver­ant­wort­lich für vie­le Fluchtursachen. Die Instabilität, Armut und Gewalt in Teilen Afrikas und der Arabischen Welt las­sen sich klar auf neo­ko­lo­nia­le Strukturen zurück­füh­ren. Allein für jeden Dollar Entwicklungshilfe, die die soge­nann­te Westliche Welt nach Afrika schickt, flie­ßen von dort mehr als zwei Dollar Wirtschaftskraft in unse­re Taschen; kon­ser­va­tiv geschätzt. Bis heu­te fin­det hier das sys­te­ma­ti­sche öko­no­mi­sche Ausbluten eines gesam­ten Kontinents zu unse­ren Gunsten statt.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel 2

Jeder hat Anspruch auf alle in die­ser Erklärung ver­kün­de­ten Rechte und Freiheiten, ohne irgend­ei­nen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, poli­ti­scher oder sons­ti­ger Anschauung, natio­na­ler oder sozia­ler Herkunft, Vermögen, Geburt oder sons­ti­gem Stand. […]

Menschen ver­lie­ren ihre Existenzgrundlage vor Ort, wenn Deutschland sei­ne Geflügelabfälle oder übri­ge Milch dort für Dumpingpreise anbie­tet, die kein:e lokale:r Bauer oder Bäuerin unter­bie­ten kann, ohne sich selbst in den Ruin zu trei­ben. Versucht ein Land wie Kenia, die eige­ne Wirtschaft vor den Billigprodukten aus Europa zu schüt­zen, wird es mit Zwangszöllen zum Offenhalten sei­ner Grenzen gezwun­gen. Korrupten Diktaturen las­sen sich Uran, Gold und Kobalt unbü­ro­kra­ti­scher und bil­li­ger abkau­fen als eta­blier­ten Demokratien. Religionskriege wer­den befeu­ert, um den Zugang zu Öl zu sichern. Wir, die soge­nann­te Westliche Welt, sind die Fluchtursache Nummer eins. Die Auswirkungen der Klimakatastrophe, die haupt­säch­lich durch unse­ren mas­si­ven Konsum und CO2-Ausstoß her­vor­ge­ru­fen wird, wird in den nächs­ten Jahren noch mehr Menschen in die Flucht treiben.

Hinweis

Der fol­gen­de Abschnitt ent­hält genaue­re Darstellungen von Gewalt und spe­zi­ell sexu­el­ler Gewalt.

Die Folgen unse­res Handels klop­fen an unse­re Tür und was machen wir? Wir bau­en einen Zaun. Da kommt dann Stacheldraht oben­drauf. Wir enga­gie­ren einen Wachschutz inner­halb des Zaunes. Wir enga­gie­ren ein paar die­ser Leute außer­halb des Zaunes, bie­ten ihnen eine Krume unse­res Reichtums, und sie bil­den dafür noch­mal einen Schlägertrupp an der Außenseite. Die Verantwortlichen die­ser Politik – und das sind nicht nur kon­ser­va­ti­ve und rech­te Kräfte – wis­sen auch, was außer­halb die­ses Zaunes passiert.

Diktatoren und Warlords ver­brei­ten Terror. Menschen wer­den für Jahre ohne Haftbefehle in liby­sche Lager und Gefängnisse gesteckt und gefol­tert oder von der tune­si­schen Regierung ohne jeg­li­che Versorgung in der Wüste aus­ge­setzt, wo vie­le von ihnen ver­durs­ten. Schlepper und kri­mi­nel­le Banden erpres­sen Geld. Sie dro­hen Eltern, ihre Kinder zu ermor­den, soll­ten sie nicht zah­len. Können die Eltern das nicht, wer­den die Kinder als Zwangsarbeiter:innen oder Zwangsprostituierte ver­kauft. Oder sie grei­fen Frauen auf der Flucht auf und ver­ge­wal­ti­gen sie, wäh­rend ihre Verwandten das Ganze live am Telefon mit anhö­ren müs­sen. Wenn die­se kein Geld auf­brin­gen kön­nen, wer­den die Opfer ermor­det. Manchmal wer­den ihnen vor­her noch die Organe ent­nom­men für den Schwarzmarkt – gern auch ohne ech­te Betäubung. Nicht weni­ge ver­kau­fen aber auch frei­wil­lig eine Niere, schließ­lich ist eine Flucht teu­er. Die medi­zi­ni­schen Rahmenbedingungen sind dabei trotz­dem nicht bes­ser. Da wacht man eben mit fri­scher OP-Narbe in einem Park auf.

Das ist die Politik der Friedensnobelpreisträgerin EU – eine Ausgeburt von Rassismus, Klassismus und Muslimfeindlichkeit. Durch den rus­si­schen Angriffskrieg auf ihr Land sind inzwi­schen 8,2 Millionen Ukrainer:innen in ande­re euro­päi­sche Staaten geflüch­tet, etwa 1,1 Millionen hal­ten sich der­zeit in Deutschland auf. Die Aufnahme und Versorgung von ihnen wur­de im euro­päi­schen Konsens als Selbstverständlichkeit gewer­tet. Wenn aber 2015 EU-weit 1,3 Millionen Menschen vor­nehm­lich aus Syrien, Irak und Pakistan Asylanträge stel­len, dann wird von einer “Flüchtlingskrise” gespro­chen, oder einer “Flüchtlingswelle”, die uns zu über­rol­len droht.

Doch bevor uns armen Europäer:innen das pas­siert, las­sen wir die Schutzsuchenden lie­ber ersau­fen. Und wer im nächs­ten Urlaub an der Adria im Restaurant sei­nen herr­lich zube­rei­te­ten Fisch genießt, soll­te lie­ber nicht zu genau über­le­gen, was der gefres­sen hat­te, dass er so schön fett wurde.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel 28

Jeder hat Anspruch auf eine sozia­le und inter­na­tio­na­le Ordnung, in der die in die­ser Erklärung ver­kün­de­ten Rechte und Freiheiten voll ver­wirk­licht wer­den können.

Text und Fotos: Ronja Hähnlein

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