An den Außengrenzen Europas sterben jeden Tag Menschen. Das sind keine unglücklichen Zufälle, das sind gleichzeitig Folgen und Ziel aktueller EU-Politik, in deren Kurssetzung Deutschland als wirtschaftlich sehr starkes und bevölkerungsreichstes Land des Staatenverbundes eine besonders mächtige Rolle spielt. Ein Artikel über den verfaulten Kern unserer “freiheitlichen und demokratischen Wertegemeinschaft”.
Frankreich, 1938
Dass sich im Juli dieses Jahres die Konferenz von Évian zum 86. Mal jährt — daran werden wohl die wenigsten der beteiligten Instanzen erinnern. Vertreter:innen von 32 Ländern und 71 Hilfsorganisationen waren der Einladung des US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt gefolgt und trafen sich vom 8. bis 15. Juli 1938 im französischen Évian-les-Baines nahe der schweizerischen Grenze. Ziel des Treffens: Ein gemeinsames Besprechen der immer weiter steigenden Zahl an flüchtenden Jüdinnen und Juden (beziehungsweise jener Gruppe von Menschen, die laut Nürnberger Rassegesetze als solche galten) aus Deutschland – auch wenn das nie so benannt wurde. Auf dem Treffen mied man tunlichst die Begriffe „Juden“, „Hitler“ und „Nazideutschland“. Die Hilfsorganisationen hatten kein Stimmrecht, lediglich durften einige von ihnen Wortbeiträge einbringen. Am Ende blieb die Konferenz nahezu ergebnislos. Außer der Dominikanischen Republik war kein Staat bereit, weitere Menschen aufzunehmen. Die USA verwies auf die Obergrenze, die sie sich selbst gesetzt hatte. Chaim Weizmann, der damalige Präsident der Zionistischen Weltorganisation, stellte fest, dass die Welt in zwei Teile zerfallen sei: Die eine, in der Jüdinnen und Juden nicht mehr leben konnten und die andere, die sie nicht hereinließ.
Die Konferenz von Évian ist ein recht unbekanntes und doch wichtiges Ereignis der Geschichte: Die fehlende Hilfsbereitschaft der anderen Staaten erlaubte schließlich das gesamte Ausmaß der Shoah. Nein, niemand der Teilnehmenden fuhr einen Zug übervoller Viehtransporter Richtung Osten. Niemand von ihnen stand mit einem Gewehr in der Hand im Wald von Riga und richtete dort im Sekundentakt. Niemand von ihnen selektierte an einem Bahngleis. Aber sie alle waren der Grund, warum es so viele Menschen waren, die dem industriellen Massenmord der Nazis zum Opfer fallen konnten.
Wieso wissen so wenige von diesem Ereignis? Ist es allein die Scham, die veranlasst, die Geschehnisse in ein vergessendes Schweigen zu hüllen? Oder sind es vielmehr die Parallelen, die man viel zu leicht aus jener Vergangenheit in unsere Gegenwart ziehen kann?
Wir, 2024
Im Juni letzten Jahres hat die EU beschlossen, ihr Asylrecht weiter zu verschärfen. Geflüchtete mit wenig Aussicht auf Asyl sollen in haftähnlichen Bedingungen auf ihre Abschiebung warten, die mit behördlicher Schnellabfertigung durchgesetzt werden soll. Länder, die durch einen Verteilungsschlüssel ihnen zugewiesene Geflohene nicht aufnehmen wollen, können sich mit einer Zahlung davon freikaufen. Außerdem soll die Kooperation mit Ländern außerhalb der EU beim Thema Geflüchtete verstärkt werden. Wenige Tage nach dieser Nachricht traf eine weitere ein: Vor der griechischen Küste war ein Boot voller fliehender Menschen gekentert, über 600 von ihnen sind dabei gestorben. Damit hatte sich mit einem Schlag die offizielle Zahl im Mittelmeer ertrunkener Geflüchteter für 2023 mehr als verdoppelt. Berichten von Überlebenden zufolge habe eine anwesende Patrouille der griechischen Küstenwache nicht etwa versucht, die Menschen von dem übervollen Boot zu bergen, bevor es sank, sondern wollten es stattdessen in italienisches Gewässer und damit außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs schleppen. Abwehr statt Hilfe.
Die EU befestigt ihre Außengrenzen — seit Jahren. Man schirmt sich ab gegen die Menschen, die versuchen, dem Bombenhagel, Terror und Hunger zu entfliehen. Ganz vorne bei der Grenzfestigung mit dabei: Deutschland.
Deutschland? Das Land, dessen Kanzlerin 2015 noch großmütig meinte „Wir schaffen das“? Nun ja, man darf nicht vergessen, dass zu dem Zeitpunkt, als Angela Merkel diesen Satz sagte, bereits der größte Teil der etwa eine Millionen Flüchtenden aus dem Jahr in beziehungsweise in der Nähe Deutschlands war. So schnell hätte man keine Zäune an der bayrischen Grenze bauen können. Dass überhaupt eine so große Zahl auf einmal nach Deutschland kam, lag wiederum allein an einem Kommunikationsfehler im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Dort hatte man sich angesichts der steigenden Asylanträge in Absprache mit der Regierung intern auf eine vorübergehende Aussetzung der Durchführung der Dublin-III-Verordnung geeinigt. Ein offizielles Statement sollte das eigentlich nicht werden. Nach einem Tweet vom BAMF-Account jedoch, der genau das verkündete, hieß es plötzlich: Deutschland macht die Grenzen auf. Solidarität aus Versehen.
Pufferzone Nachbarland
Moment mal, Dublin III? In Deutschland gilt seit 1993 die sogenannte Drittstaatenregelung. Wenn ein asylsuchender Mensch indirekt über andere Länder nach Deutschland einreist, in welchen er keine politische Verfolgung zu befürchten hat, hat er kein Recht auf deutsches Asyl. Das Schengener Abkommen von 1995 unterbrach jedoch diese Praxis, da Ländergrenzen innerhalb der EU nun anders gewertet wurden. 1997 wiederum wurde das Dubliner Übereinkommen eingesetzt, wonach die Drittstaatenregelung nun EU-weit gilt, sprich: Asylsuchende müssen ihren Antrag in jenem EU-Land stellen, das sie als erstes betreten. Seitdem wurde diese Vereinbarung zwei weitere Male aktualisiert, derzeit nennt sich die Verordnung also Dublin III.
Wenn man sich eine Karte der EU anschaut, wird man feststellen: Als fliehender Mensch ist es ganz schön schwierig, als erstes EU-Land Deutschland zu erreichen. Warum Deutschland – das mit Frankreich mächtigste Land in der EU – diese Politik unterstützt, ist klar: So sind wir zur Aufnahme sehr vieler Menschen nicht verpflichtet und können mit Verweis auf die Zuständigkeit anderer Länder konsequent abschieben oder schlicht Hilfe verweigern. So ließen deutsche Behörden zum Beispiel im letzten Winter hunderte Menschen im Grenzland zu Polen unversorgt frieren und beschossen diese sogar zeitweise mit Wasserwerfern. Sie sollten zurück nach Polen und dort Asyl beantragen.
Andere EU-Länder, vor allem im Südosten, engagieren inzwischen Asylbewerber:innen, die ihnen helfen, Flüchtende an ihren Grenzen illegal zurückzuschlagen (das kann man ruhig wortwörtlich nehmen). Sie versprechen ihren Helfer:innen im Gegenzug einen Aufenthaltstitel. Deutschland macht seine Drecksarbeit immerhin noch selbst – oder lässt das Winterwetter für sich arbeiten.
Dublin III ist auch ein wichtiger Grund, warum ein Drittel aller deutschen Abschiebungen im letzten Jahr in andere EU-Länder erfolgte. Vor allem nach Griechenland schiebt Deutschland viel und häufig ab. Gerade dort sind die Zustände in vielen Geflüchtetenlagern katastrophal. Nicht immer gibt es sauberes Wasser. 2020 berichtete eine Ärztin aus dem Lager Moria auf Lesbos, das Häufigste, was sie bei Kindern behandle, seien Rattenbisse. Griechenland hat seit der Finanzkrise 2008 mit großen Löchern in seinem Staatshaushalt zu kämpfen, das Geld reicht kaum für die soziale Absicherung der eigenen Bevölkerung. Das Land bekommt auch keine echten Möglichkeiten dafür, müssen doch durch die mit den EU-Finanzhilfen aufgezwungenen Sparmaßnahmen hauptsächlich Staatsschulden getilgt werden. Diese bestehen wiederum zu großen Teilen bei deutschen und französischen Banken. Deutschland schiebt also Menschen und Verantwortung an ein Land ab, das durch EU-Politik finanziell ausblutet, während das Geld in den deutschen und französischen Finanzsektor fließt.
Mittelmeer – Grenzfeste und Massengrab
Griechenland ist ein Extrembeispiel, doch auch beispielsweise Bulgarien, ebenfalls nicht das ökonomisch stärkste Land in der EU, war bis zur Abdichtung der sogenannten „Balkanroute“ – dem Landweg in die EU – komplett überlastet. Ein weiterer Staat, der durch Dublin III mit der Aufnahme von Flüchtenden seit Jahren überfordert ist, ist Italien. Abgesehen von den innenpolitischen Konsequenzen, die sich dort unter anderem durch ein großes Erstarken rechter Kräfte ausdrücken, wurde das Land auch beim Thema Seenotrettung von der EU im Stich gelassen. Von Oktober 2013 bis Oktober 2014 betrieb Italien eine Marineoperation namens Mare Nostrum. In der Zeit konnten etwa 150 000 fliehende Menschen aus dem Mittelmeer geborgen und vor einem wahrscheinlichen Ertrinken gerettet werden. Die Kosten von 114 Millionen Euro trug das Land allein. Auf Anfrage bei der EU, ob denn in deren 115 Milliarden Euro schweren Haushalt Möglichkeiten zur finanziellen Unterstützung auffindbar seien, erfolgte keine Reaktion. 114 Millionen Euro für 150 000 Gerettete, das sind rund 760 Euro für ein Menschenleben. Das war der EU zu teuer. Mare Nostrum wurde eingestellt.
Die EU startete daraufhin eine eigene Operation namens Frontex Plus beziehungsweise Triton. Frontex ist die 2004 in Warschau gegründete Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache. Die Aktion Triton sollte jedoch nicht das Ausmaß des “sehr ehrgeizigen” Vorgängerprogramms umfassen, wie es die damalige EU-Kommissarin für Innenpolitik, Cecilia Malmström, ausdrückte, und wurde mit nicht einmal einem Drittel des Budgets von Mare Nostrum ausgestattet. Ziel war von nun an auch nicht mehr das Retten von Menschenleben, dafür habe Frontex laut Deutschem Innenministerium weder das Mandat noch die Ressourcen, es ginge lediglich um Grenzschutz. Bis heute können Frontex zahlreiche illegale Push-Backs nachgewiesen werden, also Aktionen, bei denen Asylsuchende gewaltsam am Eintritt in EU-Gebiet gehindert werden. Auch Fälle, in denen Frontex-Boote jede Hilfe bei drohendem Schiffsbruch oder Gewalt durch die libysche und tunesische Küstenwache verweigerten, gibt es zuhauf.
Gleichzeitig wurde das Mittelmeer Schauort sogenannter Krisenbewältigungsoperationen. Die European Union Naval Force – Mediterranean (EUNAVFOR MED) startete 2015 die Operation Sophia. Offiziell soll EUNAVFOR MED Hilfe bei der Fluchtursachenbekämpfung leisten, jedoch konzentriert man sich lediglich auf Schleuser, die Fliehenden den Weg nach Europa ermöglichen. Es werden also die Fluchtwege anvisiert — nicht die Ursachen. Das Ziel von Sophia war das Beobachten und Erfassen lybischer und tunesischer Schleppernetzwerke. Seenotrettung erfolgte hin und wieder, war aber zweitrangig. Gestemmt wird EUNAVFOR MED durch die Marine verschiedener EU-Länder, auch Deutschland. 2020 erfolgte der Übergang zu Operation Irini. Da es sich nun offiziell um einen militärischen Einsatz handelt, musste der Bundestag das Mandat für die deutsche Partizipation erteilen. Bei Irini spielen die Leben Fliehender eine noch geringere Rolle. Formal soll das Waffenembargo gegenüber Libyen durchgesetzt werden, weshalb Schlepperboote als vermeintliche Schmuggeltransporte festgesetzt werden können. Wirklichen Erfolg hat die Operation nicht wirklich vorzuweisen, aber immerhin kann man so weiterhin Menschen auf ihren Weg nach Europa aufhalten.
Es gibt jedoch auch jene, die sich dem politisch zumindest geduldeten, wenn nicht gar forcierten Sterben im Mittelmeer entgegenstellen. Die zivile Seenotrettung ist für viele auf dem Meer Treibende ihre einzig echte Chance auf Überleben und eine Zukunft in Europa. Verschiedene Organisationen, über Spenden finanziert, durchkreuzen mit ihren Schiffen das Mittelmeer, um dort die Menschen von ihren kaum schwimm‑, geschweige denn navigierfähigen “Booten” zu holen und an die europäische Küste zu schaffen. Doch ist die Reichweite und Dichte der zivilen Seenotrettung weder annähernd ausreichend, um das ganze Meer abzusichern, noch können die Retter:innen ungehindert ihre Arbeit verrichten. Die EU und einzelne ihrer Länder legen der zivilen Seenotrettung immer wieder Steine in den Weg, indem sie ihren Schiffen keine Ausfuhrgenehmigung erteilen oder sie mit Geretteten an Bord nicht anlegen lassen. Ein bekanntes Beispiel war die offiziell illegale Hafeneinfahrt der Sea-Watch 3 auf Lampedusa im Juni 2019, nachdem diese wochenlang mit 40 Geretteten das Mittelmeer durchkreuzt hatte, ohne eine Anlegeerlaubnis von einem der angrenzenden EU-Staaten zu erhalten. Die Kapitänin des Schiffes, Carola Rackete, wurde daraufhin von den italienischen Behörden festgenommen. Organisationen wird immer wieder mit offiziellen Festnahmen, unter anderem wegen illegaler Schlepperei, gedroht. Auf See kam es schon zu mehreren Zusammenstößen mit Frontex, aber auch der libyschen und türkischen Küstenwache.
Die europäische “Sicherheit” wird in der Sahara verteidigt
Weil unmittelbare Grenzsicherung sehr aufwendig ist, hat man sich in der EU überlegt: Wie wäre es, wenn wir Nicht-EU-Länder einbeziehen in unseren Grenzschutz? Das passiert vor allem durch Verträge. Der sogenannte „Flüchtlingspakt“ von 2016 dürfte das bekannteste Beispiel sein. Die türkische Regierung hält syrische Flüchtende von der europäischen Grenze ab und muss jene Geflüchtete zurücknehmen, die es auf die griechischen Ägäis-Inseln schaffen, jedoch kein Anrecht auf Asyl haben. Im Gegenzug fließen Milliarden Euro von EU-Geldern in das Land am Bosporus. Ob dieses Pakts dürfte die Wiederwahl Recep Tayyip Erdoğans als türkisches Staatsoberhaupt bei einigen Entscheidungsträger:innen in der EU für Erleichterung gesorgt haben, schließlich war er es, mit dem der Vertrag geschlossen wurde. So bleibt die „Balkanroute“ vorerst dicht.
Doch es gibt auch weitere Staaten, mit denen die EU-Verträge hat, um Fliehende von den europäischen Außengrenzen fernzuhalten. 2014 wurde der Khartoum Process ins Leben gerufen, laut Website „a platform for political cooperation amongst the countries along the migration route between the Horn of Africa and Europe. It aims at establishing a continuous dialogue for enhanced cooperation on migration and mobility.“ De facto kooperiert(e) man für diesen Pakt unter anderem mit Umar al-Baschir, dem bis 2019 im Sudan herrschenden islamistisch-fundamentalistischen Diktator, gegen den ein internationaler Haftbefehl wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt. Salva Kiir Mayardit, Präsident Südsudans, ist ebenso Teil der Vereinbarung, unter dessen Regierung Kriegsverbrechen wie systematische Vergewaltigungen und das Anheuern von Kindersoldaten nachgewiesen sind. Und auch Eritrea ist involviert, dessen Präsident Isayas Afewerki eine Quasi-Diktatur führt und politische Gegner:innen foltern und ermorden lässt. Mit diesen und weiteren Staaten schloss die EU in den letzten Jahren vermehrt Abkommen, die die Auszahlung von Entwicklungshilfen an das Festhalten (potenzieller) Flüchtender knüpft. Die Kooperation sorgt auch dafür, dass man bei der Stärkung von Regierungsstrukturen hilft, damit jene mehr Möglichkeiten haben, um Fliehende und ihre Helfer:innen aufzuhalten. So gibt es beispielsweise Unterstützung bei der Ausbildung von Polizeikräften. Die EU stärkt also Diktaturen und Terrorherrschaften, damit weniger flüchtende Menschen Europa erreichen. Das sind wohl auch die Kooperationen mit Nicht-EU-Staaten, die mit dem neuen Asylrecht von letztem Jahr ausgebaut werden sollen.
Die europäischen Werte
Die Verantwortlichen der Konferenz von Évian haben sich geweigert, Menschen zu retten. Hier kann man noch anmerken, dass sie trotz guter Informationen auch 1938 nicht das Ausmaß und die Systematik hinter der Shoah absehen konnten. Dennoch: Sie entsagten ihre Unterstützung. Sie unterließen es, mögliche Hilfe zu leisten.
Das tut auch die EU – und gleichzeitig noch mehr. Während sie die Grenze um „ihren Teil“ der Welt immer enger zieht, versteht sie genau, welche Konsequenzen ihr Handeln hat. Die Verantwortlichen wissen, warum die Menschen sich auf die Flucht machen. Sie sind ja selbst verantwortlich für viele Fluchtursachen. Die Instabilität, Armut und Gewalt in Teilen Afrikas und der Arabischen Welt lassen sich klar auf neokoloniale Strukturen zurückführen. Allein für jeden Dollar Entwicklungshilfe, die die sogenannte Westliche Welt nach Afrika schickt, fließen von dort mehr als zwei Dollar Wirtschaftskraft in unsere Taschen; konservativ geschätzt. Bis heute findet hier das systematische ökonomische Ausbluten eines gesamten Kontinents zu unseren Gunsten statt.
Menschen verlieren ihre Existenzgrundlage vor Ort, wenn Deutschland seine Geflügelabfälle oder übrige Milch dort für Dumpingpreise anbietet, die kein:e lokale:r Bauer oder Bäuerin unterbieten kann, ohne sich selbst in den Ruin zu treiben. Versucht ein Land wie Kenia, die eigene Wirtschaft vor den Billigprodukten aus Europa zu schützen, wird es mit Zwangszöllen zum Offenhalten seiner Grenzen gezwungen. Korrupten Diktaturen lassen sich Uran, Gold und Kobalt unbürokratischer und billiger abkaufen als etablierten Demokratien. Religionskriege werden befeuert, um den Zugang zu Öl zu sichern. Wir, die sogenannte Westliche Welt, sind die Fluchtursache Nummer eins. Die Auswirkungen der Klimakatastrophe, die hauptsächlich durch unseren massiven Konsum und CO2-Ausstoß hervorgerufen wird, wird in den nächsten Jahren noch mehr Menschen in die Flucht treiben.
Die Folgen unseres Handels klopfen an unsere Tür und was machen wir? Wir bauen einen Zaun. Da kommt dann Stacheldraht obendrauf. Wir engagieren einen Wachschutz innerhalb des Zaunes. Wir engagieren ein paar dieser Leute außerhalb des Zaunes, bieten ihnen eine Krume unseres Reichtums, und sie bilden dafür nochmal einen Schlägertrupp an der Außenseite. Die Verantwortlichen dieser Politik – und das sind nicht nur konservative und rechte Kräfte – wissen auch, was außerhalb dieses Zaunes passiert.
Diktatoren und Warlords verbreiten Terror. Menschen werden für Jahre ohne Haftbefehle in libysche Lager und Gefängnisse gesteckt und gefoltert oder von der tunesischen Regierung ohne jegliche Versorgung in der Wüste ausgesetzt, wo viele von ihnen verdursten. Schlepper und kriminelle Banden erpressen Geld. Sie drohen Eltern, ihre Kinder zu ermorden, sollten sie nicht zahlen. Können die Eltern das nicht, werden die Kinder als Zwangsarbeiter:innen oder Zwangsprostituierte verkauft. Oder sie greifen Frauen auf der Flucht auf und vergewaltigen sie, während ihre Verwandten das Ganze live am Telefon mit anhören müssen. Wenn diese kein Geld aufbringen können, werden die Opfer ermordet. Manchmal werden ihnen vorher noch die Organe entnommen für den Schwarzmarkt – gern auch ohne echte Betäubung. Nicht wenige verkaufen aber auch freiwillig eine Niere, schließlich ist eine Flucht teuer. Die medizinischen Rahmenbedingungen sind dabei trotzdem nicht besser. Da wacht man eben mit frischer OP-Narbe in einem Park auf.
Das ist die Politik der Friedensnobelpreisträgerin EU – eine Ausgeburt von Rassismus, Klassismus und Muslimfeindlichkeit. Durch den russischen Angriffskrieg auf ihr Land sind inzwischen 8,2 Millionen Ukrainer:innen in andere europäische Staaten geflüchtet, etwa 1,1 Millionen halten sich derzeit in Deutschland auf. Die Aufnahme und Versorgung von ihnen wurde im europäischen Konsens als Selbstverständlichkeit gewertet. Wenn aber 2015 EU-weit 1,3 Millionen Menschen vornehmlich aus Syrien, Irak und Pakistan Asylanträge stellen, dann wird von einer “Flüchtlingskrise” gesprochen, oder einer “Flüchtlingswelle”, die uns zu überrollen droht.
Doch bevor uns armen Europäer:innen das passiert, lassen wir die Schutzsuchenden lieber ersaufen. Und wer im nächsten Urlaub an der Adria im Restaurant seinen herrlich zubereiteten Fisch genießt, sollte lieber nicht zu genau überlegen, was der gefressen hatte, dass er so schön fett wurde.
Text und Fotos: Ronja Hähnlein