Ein erkäl­tungsähn­lich­es Virus, das inner­halb weniger Monate um den gesamten Erd­ball zieht, über­forderte Regierun­gen, über­lastete Kranken­häuser und hil­flose Medi­zin­er – das gab es alles schon ein­mal, vor fast genau 100 Jahren. Ein Rück­blick. 

Behelf­s­mäßiges Kranken­haus in Oak­land, 1918 

„Find­en Sie jeden ver­füg­baren Tis­chler und Schrein­er und lassen Sie sie Särge bauen. Dann nehmen Sie Straße­nar­beit­er und lassen Sie sie Gräber ausheben. Nur dann haben Sie eine Chance, dass die Zahl der Leichen nicht schneller steigt, als Sie sie beerdi­gen kön­nen.“ Diese düstere War­nung stammt nicht etwa aus dem Umfeld ein­er mit­te­lal­ter­lichen Pest­welle, son­dern von Ärzten an der US-amerikanis­chen Ostküste, die ihre Kol­le­gen im West­en des Lan­des im Herb­st 1918 auf das Schlimm­ste vor­bere­it­en. Der Erste Weltkrieg ist noch nicht been­det, da sieht sich die Men­schheit erneut ein­er tödlichen Gefahr gegenüber – dies­mal jedoch nicht aus den Läufen der Geschütze und Maschi­nengewehre kom­mend, son­dern aus der Luft. Jed­er Atemzug kann tödlich­er sein als der Nahkampf im Schützengraben. 

In einem nie gekan­nten Aus­maß wird das Grippe­virus A/H1N1 um den Globus ziehen und eine Spur der Ver­wüs­tung hin­ter­lassen, die alle Kriegs­gräuel über­steigt: Am Ende wer­den der „Spanis­chen Grippe“ mehr Men­schen zum Opfer gefall­en sein als dem vor­ange­gan­genen „Großen Krieg“. Den­noch ist diese schlimm­ste aller mod­er­nen Pan­demien heute aus dem kollek­tiv­en Gedächt­nis so gut wie ver­schwun­den. Auf para­doxe Weise ist der Erste Weltkrieg nicht nur untrennbar mit der Entste­hung der Seuche ver­bun­den, son­dern hat sie auch in der öffentlichen Wahrnehmung über­lagert. Es stellt sich die Frage: Was kann man angesichts von COVID-19 daraus lernen? 

Die Geißeln der Menschheit 

Pan­demien sind so alt wie die Zivil­i­sa­tion selb­st. Seit der Sesshaftwer­dung des Men­schen und der damit ein­herge­hen­den Entwick­lung der Viehhal­tung wur­den immer wieder Viren und Bak­te­rien vom Tier auf den Men­schen über­tra­gen und fan­den in den eng gedrängten und oft unhy­gien­is­chen Städten ide­ale Lebens­be­din­gun­gen. Mit dem Wach­s­tum der Welt­bevölkerung wuchs auch die Bedro­hung durch Infek­tion­skrankheit­en: Tuberku­lose, Cholera, Typhus, Ruhr – die Aufzäh­lung ließe sich noch lange fort­set­zen. Bere­its für das Jahr 165 n. Chr. ist die erste große Pan­demie in den römis­chen Chroniken verze­ich­net, wahrschein­lich durch das Pock­en­virus aus­gelöst. Die weltweit ver­heerend­ste und heute wohl noch bekan­nteste Krankheitswelle war jedoch ohne Zweifel der „Schwarze Tod“ – der zwis­chen 1347 und 1352 wüten­den Lun­gen- und Beu­len­pest fie­len schätzungsweise ein Drit­tel aller Europäer zum Opfer. Auch in den fol­gen­den Jahrhun­derten sorgten die Vari­anten des Bak­teri­ums Yersinia pestis noch mehrere Male für Angst und Schreck­en, ver­schwan­den dann aber aus dem europäis­chen Raum. Andere Krankheit­ser­reger sucht­en die Men­schen weit­er­hin heim, wenn auch in ver­gle­ich­sweise begren­ztem Umfang. Im Zuge der Indus­triellen Rev­o­lu­tion und dem Anwach­sen der Stadt­bevölkerung im 19. Jahrhun­dert stieg die Gefahr erneuter großer Pan­demien dann rapi­de an, zumal neue Tech­nolo­gien wie Dampf­schiff­fahrt und Eisen­bahn dazu beitru­gen, dass sich Krankheit­ser­reger leichter weltweit aus­bre­it­en kon­nten. Trotz der sich entwick­el­nden Hygien­ebe­we­gung, die Entwick­lun­gen in Medi­zin und Biolo­gie vorantrieb und über­all in mon­u­men­tal­en Bauanstren­gun­gen zur Errich­tung von Kanal­i­sa­tio­nen führte, blieb diese Bedro­hung all­ge­gen­wär­tig. Das bewies ein Sub­typ der bis dahin rel­a­tiv unauf­fäl­li­gen, jedoch durch ihre hohe Muta­tions­fähigkeit auf­fal­l­en­den Influen­za­viren in den Jahren 1889 bis 1895, als er im Zuge der „Rus­sis­chen Grippe“ weltweit etwa eine Mil­lion Todes­opfer forderte. „Die Welt hat Grippe“ hieß es damals. Noch weitaus schlim­mer sollte jedoch ein ander­er Stamm des Influen­za-Virus wer­den, der 23 Jahre später die Welt erschüt­terte; zunächst jedoch begann alles ganz harmlos. 

Ein Krieg und seine Krankheit 
Ver­sorgung von Grippeerkrank­ten in Wash­ing­ton, D.C., 1918/1919

Trotz ihres heuti­gen Namens begann die Aus­bre­itung des Influen­za-Sub­typs A/H1N1 nicht in Spanien. Wo genau der Ursprung dieses Virus-Stammes liegt, lässt sich nicht mehr genau sagen; ver­mut­lich lag er irgend­wo in Nor­dameri­ka. Zunächst wurde diese Form der alt­bekan­nten Grippe jedoch nicht medi­al beachtet, da im Früh­jahr 1918 der Erste Weltkrieg mit der let­zten deutschen Offen­sive an der West­front in seine finale Phase überg­ing. Nur einige wenige Ärzte in den Vere­inigten Staat­en wandten sich angesichts der ungewöhn­lichen Heftigkeit dieser Grippe an die Gesund­heits­be­hör­den, welche jedoch nicht darauf reagierten. Immer­hin war die Sterblichkeit­srate der Krankheit nicht beson­ders hoch – gle­ichzeit­ig star­ben täglich Tausende von Sol­dat­en in den Schützen­gräben. So kon­nte sich das Virus unge­hin­dert in einem Aus­bil­dungslager der US-Armee ver­bre­it­en, in dem Zehn­tausende auf eng­stem Raum zusam­mengepfer­cht waren – ein Katalysator für die weit­ere Aus­bre­itung des Erregers. Tat­säch­lich soll­ten Krieg und Krankheit bald eine unheil­volle Verbindung einge­hen: Auf den Trup­pen­trans­portern über­querte H1N1 in Winde­seile den Atlantik und fand in den dicht gedrängten und unhy­gien­is­chen Schützen­gräben den ide­alen Nährbo­den. Ständig wurde neues „Men­schen­ma­te­r­i­al“ nachgeliefert und bald klagten immer mehr Sol­dat­en über das kurze, aber heftige „three-day-fever“. Auch unter der Zivil­bevölkerung Europas bre­it­ete sich das Virus immer weit­er aus; noch immer war die Sterblichkeit­srate aber ver­gle­ich­sweise niedrig. Das änderte sich jedoch plöt­zlich ab August 1918, als, bed­ingt durch die hohe Anzahl an Infizierten, das Virus erneut mutierte und nun einen sehr viel tödlicheren Ver­lauf hat­te. Die Beson­der­heit: Nicht Alte und Kleinkinder waren beson­ders gefährdet, son­dern vor allem jün­gere Men­schen zwis­chen 20 und 40 Jahren. Es war diese zweite, die „Herb­st­welle“, welche sich in Winde­seile weltweit aus­bre­it­ete und Mil­lio­nen von Opfern forderte. 

Astrologie und Massengräber 
Ein Schaffn­er ver­weigert Fahrgästen ohne Schutz­maske die Mit­fahrt (Seat­tle, 1918) 

Von Anfang an kur­sierten viele Falschmel­dun­gen und halt­lose Speku­la­tio­nen bezüglich der neuen, tödlichen Grippe­form. Schon der Name der Pan­demie war irreführend: Da die Presse der kriegführen­den Staat­en der Zen­sur unter­lag, erschienen die ersten Mel­dun­gen in den Zeitun­gen des neu­tralen Spaniens. Doch nicht nur die Beze­ich­nung der Seuche war im Grunde ein Fall von „Fake News“, bald kur­sierten auch die abstruses­ten Gerüchte über Ursprung und Wesen der Grippe. So manch­er behauptete, kos­mis­che Ein­flüsse wären schuld, andere ver­muteten Vergif­tungsak­tio­nen durch das deutsche Mil­itär. Tat­säch­lich lit­ten die deutschen Sol­dat­en aber selb­st an der Krankheit; sog­ar der neue Reich­skan­zler Max von Baden blieb von ihr nicht ver­schont. Zwar reagierten nun einige Gesund­heits­be­hör­den und ord­neten Quar­an­täne­maß­nah­men an; meist waren diese Maß­nah­men jedoch unko­or­diniert und kamen oft zu spät, zumal es kein Heilmit­tel gegen die Krankheit gab. So mussten Ärzte und Wis­senschaftler hil­f­los dabei zuse­hen, wie nach und nach der gesamte Globus unter den Ein­fluss der Grippe geri­et. Während die Kranken­häuser ihre Über­las­tungs­gren­zen erre­icht­en, wur­den Ratschläge erteilt, wie man sich vor der Ansteck­ung schützen könne: Men­schen­men­gen seien zu mei­den, Gesicht und Hände möglichst oft zu waschen. Der Absatz von anti­sep­tis­chen Sprays schoss in die Höhe, über­all auf den Straßen tru­gen die Men­schen nun Atem­schutz­masken. In New York ver­haftete die Polizei 500 Per­so­n­en, die ver­boten­er­weise auf die Straße gespuckt hat­ten. Trotz dieser Maß­nah­men forderte die Herb­st­welle und auch die auf sie fol­gende, schwächere dritte Welle Anfang 1919 eine nie dagewe­sene Zahl an Opfern. In Mon­tre­al mussten Priester die Sterbe­sakra­mente auf offen­er Straße erteilen, da die Leichen­hallen völ­lig über­füllt waren. Beson­ders betrof­fen waren indi­gene Völk­er, die kaum über Abwehrkräfte gegen das Influen­za­virus ver­fügten. Auch zahlre­iche Promi­nente ver­schonte die Influen­za nicht: Der öster­re­ichis­che Maler Egon Schiele und der Begrün­der der Sozi­olo­gie Max Weber fie­len ihr eben­so zum Opfer wie der New York­er Immo­bilien­speku­lant Fred­er­ick Trump, dessen Sohn mit der dadurch anfal­l­en­den Lebensver­sicherung das schlecht gehende Fam­i­liengeschäft sanieren kon­nte. Mod­er­nen Schätzun­gen zufolge star­ben zwis­chen 25 und 50 Mil­lio­nen Men­schen weltweit an der Spanis­chen Grippe – der Erste Weltkrieg dage­gen forderte „nur“ 17 Mil­lio­nen Opfer. Doch die Welt sollte den Sub­typ A/H1N1 nicht zum let­zten Mal gese­hen haben: 1977 kostete ein Aus­bruch in der Sow­je­tu­nion 700.000 Men­schen das Leben, 2009 schließlich waren zwis­chen 100.000 und 400.000 Opfer durch die „Schweinegrippe“-Pandemie zu beklagen. 

Rosige Aussichten? 

Die Par­al­le­len der Spanis­chen Grippe zur COVID-19-Pan­demie sind unverkennbar: eher unvor­bere­it­etes und unko­or­diniertes Han­deln von Behör­den, ver­bre­it­ete Hys­terie, Fake News und eine explodierende Nach­frage nach Hygie­n­eartikeln. Ob die neue Pan­demie eben­falls so schnell dem Vergessen anheim­fall­en wird wie ihre ein Jahrhun­dert zurück­liegende Vor­läuferin, bleibt abzuwarten; über­raschend hätte sie jeden­falls nicht kom­men sollen. Seit dem Ende des Influen­za-Aus­bruchs von 1918/19 war für Epi­demi­olo­gen das Auftreten ein­er neuen Krankheitswelle nur eine Frage der Zeit, denn mit wach­sender Welt­bevölkerung steigt auch das sta­tis­tis­che Risiko von Muta­tio­nen bei Erregern. 1918 betrug die Anzahl der Men­schen noch 1,65 Mil­liar­den – 2016 lag sie bere­its bei 7,42 Mil­liar­den. Wie hoch die Opfer­zahl von SARS-CoV­‑2 mit sein­er Sterblichkeit­srate von cir­ca zwei Prozent am Ende betra­gen wird, kann zurzeit noch nie­mand abschätzen. Die Influen­za von 1918/19 hat­te, je nach medi­zinis­ch­er Ver­sorgungslage, eine Sterblichkeit­srate von fünf bis zehn Prozent. Eines ist jedoch sich­er: Die Men­schheit ist heute stärk­er ver­net­zt und zahlre­ich­er als jemals zuvor. Vielle­icht sind weltweite Krankheitswellen der Preis, den wir für diese Lebensweise zahlen müssen; COVID-19 wird jeden­falls mit hoher Wahrschein­lichkeit nicht die let­zte Pan­demie des 21. Jahrhun­derts bleiben. Es liegt an uns, ob wir das näch­ste Mal bess­er vor­bere­it­et sein wer­den als 1918 – oder 2020. 

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Niklas Majstrak
Niklas Majstrak
3 Jahre zuvor

Stark­er Artikel!