Am 14. Mai kön­nen in der Türkei rund 61 Millionen Wahlberechtigte bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ihre Stimme abge­ben. Dabei ist vor allem das Rennen um die Präsidentschaft so span­nend wie lan­ge nicht mehr, denn Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan droht die Abwahl.

Ein Land kommt nicht zur Ruhe

Istanbul kurz vor den Wahlen. In der Metropole am Bosporus ist der Alltag meist hek­tisch, wegen wei­ter Wege, vol­ler Verkehrsmittel und ver­stopf­ter Straßen. Doch die Atmosphäre hat sich in den letz­ten Monaten auch geän­dert. Wegen eines Seebebens im angren­zen­den Marmara-Meer, wel­ches Seismolog:innen für die nächs­ten Jahre vor­her­sa­gen, ist eine all­ge­mei­ne Anspannung spür­bar. Tourist:innen sieht man nur weni­ge, Universitäten haben vor­sorg­lich auf Online- Lehre umge­stellt. Nachdem am 6. Februar die­sen Jahres ein Erdbeben in der Südosttürkei unzäh­li­ge Menschen unter Betonmassen begrub, ist die Auseinandersetzung mit der bevor­ste­hen­den Naturkatastrophe omni­prä­sent. Viele schla­fen schlecht auf­grund der trau­ma­ti­schen Bilder völ­lig zer­stör­ter Städte wie Antakya oder Adıyaman. Zusätzlich hat die seit 2021 hohe Inflation (aktu­ell bei min­des­tens 50 Prozent) eine Mehrheit der tür­ki­schen Bevölkerung unter die Armutsgrenze gedrückt. In die­se sor­gen­vol­le Atmosphäre fällt eine Wahl, die im hun­derts­ten Jahr der Republik zwei Wege in die Zukunft weist: „Entweder wird Erdoğan ein tota­li­tä­res Regime eta­blie­ren, oder er wird gestürzt, und die Tür zur Demokratie wird sich wie­der öff­nen“, beschreibt der im deut­schen Exil leben­de tür­ki­sche Schriftsteller Can Dündar die Situation.

Die westliche Perspektive

Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Fliegerjacke auf sei­nem Instagramkanal. Quelle: https://www.instagram.com/p/CrtAtkFo6qf/

Aus Europa bli­cken die­ser Tage neben Exilant:innen des Regimes auch Journalist:innen und Politiker:innen gespannt in Richtung Türkei. Viele hof­fen, dass bei einem Wahlsieg der Opposition staat­li­che Strukturen refor­miert — und so lang­fris­ti­ge Demokratisierungsprozesse in Gang gesetzt wer­den. Weil Präsident Recep Tayyip Erdoğan die freie Meinungsäußerung unter­drückt und isla­mo-kon­ser­va­ti­ve Wertvorstellungen in die Gesellschaft trägt, reprä­sen­tiert er für vie­le Europäer:innen ein auto­kra­ti­sches System, wel­ches mit­tels Repressionen sei­ne Macht auf­recht erhält. Bei den bevor­ste­hen­den Wahlen zur 28. Großen Nationalversammlung und Präsidentschaftswahl droht ihm und sei­ner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) nach 21 Jahren am Machthebel nun das Aus. In der inter­na­tio­na­len Zusammenarbeit erwar­tet man von einem Regierungswechsel wie­der mehr Diplomatie und Annäherung. Seit Erdoğan das „EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen“ auf­kün­dig­te, herrscht Sorge vor poli­ti­schem Druck durch ein­sei­ti­ge Grenzöffnungen, wie gesche­hen 2020 an der grie­chisch-tür­ki­schen Grenze. Etwa vier Millionen syri­sche Geflüchtete befin­den sich aktu­ell in der Türkei, leben in pre­kä­ren Verhältnissen und sind Zielscheibe rech­ter Hetze. Damit sie dort­blei­ben, anstatt die lebens­ge­fähr­li­che Weiterfahrt nach Europa zu ris­kie­ren, schickt die EU im Rahmen des Abkommens seit 2016 Milliardenhilfen.

Die Kontrahenten

Wahlwerbung der zweit­stärks­ten Oppositionspartei Iyi Parti in Istanbul: „Die Türkei wird Geschichte schrei­ben“ Quelle: Autor

Wenige Tage vor der Wahl sind rie­si­ge Plakate der zwei Präsidentschaftskandidaten in Istanbul all­ge­gen­wär­tig, obgleich die staats­na­hen Medien den Wahlkampf der Opposition blo­ckie­ren. Aktuelle Umfragen zei­gen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwi­schen Amtsinhaber Erdoğan und sei­nem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu an. Eine Stichwahl am 28. Mai ist nicht unwahr­schein­lich, da mög­li­cher­wei­se kei­ner der bei­den Kandidaten über den erfor­der­li­chen Schwellenwert von 50+1 Prozent kommt. Das Momentum liegt jedoch vor allem aus zwei Gründen bei der Opposition: Erstens treibt die fata­le Zinspolitik der Regierung die Inflation in die Höhe — und die Bevölkerung in den Ruin. Zweitens machen nicht nur Betroffene der Erdbebenkatastrophe loka­le AKP- Administrationen für den Einsturz unzäh­li­ger Gebäude mit­ver­ant­wort­lich. Um wei­ter­re­gie­ren zu kön­nen, friert der Präsident vor­über­ge­hend die Inflation ein und erhöht fünf Tage vor der Wahl noch­mals die Arbeiterlöhne um 45 Prozent. Erdoğan insze­niert sich als Sicherheitsgarant, preist die tech­no­lo­gi­sche Entwicklung des tür­ki­schen Militärs an und pola­ri­siert mit schar­fer Rhetorik gegen die LGBT- Community.
Derweil kün­digt Kılıçdaroğlu „eine Zeit der Heilung und Versöhnung“ an und ent­schul­digt sich für die aus­gren­zen­de Minderheitenpolitik ver­gan­ge­ner CHP- Regierungen. Eine poli­tisch diver­se Allianz unter Vorsitz der sozi­al­de­mo­kra­tisch ori­en­tier­ten Republikanischen Volkspartei (CHP) strebt an, die AKP- Herrschaft abzu­lö­sen. Erklärtes Ziel des „Sechser-Tisches“ ist die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Rückkehr zur par­la­men­ta­ri­schen Demokratie, nach­dem 2018 ein Präsidialsystem ein­ge­führt wor­den war (sie­he unten). Neben der Beendigung von Korruption und Wirtschaftskrise ver­spricht der 74- jäh­ri­ge Kılıçdaroğlu sei­nen Landsleuten außer­dem eine zeit­na­he Visa- Freiheit für den Schengenraum. Die Syrer:innen jedoch sol­len auf geord­ne­tem Weg in ihr unsi­che­res Heimatland abge­scho­ben wer­den. Die Schärfe in Diskursen um die Zukunft der Geflüchteten nimmt dabei seit Jahren zu und könn­te der Opposition Stimmen am rech­ten Rand ein­tra­gen, wobei unklar ist, inwie­fern auch die aktu­ell mit­re­gie­ren­de, rechts­ex­tre­me MHP von aus­län­der­feind­li­chen Ressentiments in der Bevölkerung pro­fi­tie­ren wird.
Um Erdoğan zu ent­mach­ten, schlos­sen sich der CHP neben der natio­na­lis­ti­schen “Guten Partei” (IYI) außer­dem klei­ne­re isla­mis­ti­sche Parteien- sowie Abspaltungen der AKP an. Unterstützung erhält das Bündnis in den pro­gres­si­ven Städten wie Izmir, Ankara und Istanbul, von jun­gen Menschen, sowie benach­tei­lig­ten Gruppen wie Kurd:innen oder Alevit:innen. Grade ers­te­re kön­nen ent­schei­dend zu einem Wahlsieg der Opposition bei­tra­gen, da die von vie­len Kurd:innen unter­stütz­te Grüne Linke Partei (Yeşil Sol) zwar aus dem Oppositionsbündnis aus­ge­schlos­sen wur­de, jedoch ihre Anhänger:innen dazu auf­ge­ru­fen hat, für Kılıçdaroğlu zu stimmen. 

Demokratieverfall der letzten Jahre

Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), zur­zeit in Koalition mit der rechts­ex­tre­men Partei der natio­na­lis­ti­schen Bewegung (MHP), regiert seit 2002 durch­gän­gig als stärks­te poli­ti­sche Kraft. Wer von den schät­zungs­wei­se 6,5 Millionen Erstwähler:innen beim bevor­ste­hen­den Urnengang sei­ne Stimme abgibt, des­sen Geburt fällt so auch mit dem Beginn der über zwan­zig­jäh­ri­gen Regierungszeit Recep Tayyip Erdoğans zusam­men.
Im Jugendalter erleb­te die „Generation Z“ die Gezi-Proteste, wel­che 2013 die bis­her letz­ten Gefühle zivil­ge­sell­schaft­li­chen Aufbruchs weck­ten. Damals wei­te­te sich eine Demonstration gegen die Bebauung des Istanbuler Gezi-Parks zu lan­des­wei­ten Protesten mit meh­re­ren Millionen Teilnehmer:innen aus. Mit der Niederschlagung der Bewegung zemen­tier­te das Regime neben der grü­nen Oase am Taksim-Platz auch die anti-säku­la­re Autokratie.
2016 kam es zum Putschversuch des Militärs gegen die Regierung, wel­cher auch dar­an schei­ter­te, dass sich nach einem Aufruf des Präsidenten brei­te Massen den Putschisten ent­ge­gen­stell­ten. Tage spä­ter trat der Ausnahmezustand in Kraft. Seither trifft Erdoğan per Dekret wich­ti­ge poli­ti­sche Entscheidungen allei­ne, ohne das Parlament ein­zu­be­zie­hen. Ein Beispiel ist der Ausstieg aus der inter­na­tio­na­len Istanbul- Konvention zum Schutz von Frauenrechten, was par­tei­über­grei­fend vie­le Frauen frus­triert. Seit 2018 nach einem Verfassungsreferendum ein Präsidialsystem eta­bliert wur­de, lau­fen alle wich­ti­gen Schnittstellen der Staatsgewalten beim Präsidenten zusam­men: Er ernennt die meis­ten Verfassungsrichter, die Minister und den Oberbefehlshaber der Armee. Er kann sein Veto gegen Gesetze ein­le­gen und mit­tels Präsidialverordnungen regieren.

Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu will die Inflation in den Griff krie­gen. Ein Kilo Tomaten ist in der Türkei mehr als dop­pelt so teu­er, wie noch vor einem Jahr. Quelle: https://www.instagram.com/p/CsHgHx4LBBh/

Zwischen Pragmatismus und Resignation

Nachdem 2021 vie­le Student:innen der Istanbuler Bosporus- Universität gegen einen neu ein­ge­setz­ten regie­rungs­treu­en Rektor pro­tes­tier­ten, folg­ten Haftstrafen und Terrorismusvorwürfe. Haben jun­ge Menschen ange­sichts die­ser Entwicklungen Hoffnung, dass nach einem Wahlsieg Kılıçdaroğlus die Zukunft für sie bes­ser wird? Zunächst ein­mal: In der Türkei poli­ti­sche Fragen offen zu dis­ku­tie­ren ist schwie­rig. Nach jah­re­lan­gen Repressionen gegen oppo­si­tio­nel­le Stimmen ist die Bevölkerung hin­sicht­lich frei­er Meinungsäußerung resi­gniert. Laut einer Befragung der Konrad- Adenauer- Stiftung aus dem Jahr 2022 wol­len knapp 73 Prozent der 18–25-jährigen Türk:innen das Land ver­las­sen. Ein expli­zi­tes Bekenntnis zu Kemal Kılıçdaroğlu, wel­cher ja die Wiederherstellung demo­kra­ti­scher Grundrechte- und die Visa- Freiheit für die EU in Aussicht gestellt hat, fin­det man unter jun­gen Menschen aller­dings sel­ten. Vielleicht liegt es dar­an, dass der CHP- Vorsitzende in der Vergangenheit wich­ti­ge Wahlen und so auch das Vertrauen der Jugend ver­lo­ren hat. Ihm fehlt es außer­dem an Charisma und Überzeugungskraft im Wahlkampf. Im per­sön­li­chen Gespräch zei­gen sich vie­le, ange­sichts der erns­ten Lage, von der Rhetorik des 74- Jährigen ent­täuscht, trau­en ihm nicht zu eine wirk­li­che Verbesserung her­bei­füh­ren zu kön­nen. Dazu kommt die Sorge, das Sechserbündnis kön­ne aus­ein­an­der­bre­chen, wäh­rend die jet­zi­ge Regierung Stabilität ver­spricht. Wenn der Plan der Opposition jedoch auf­geht, wird am kom­men­den Sonntag ein brei­tes gesell­schaft­li­ches Bündnis Kılıçdaroğlu zum Präsidenten machen. Was sei­ne Wählerschaft eint, sind weni­ger Überzeugungen als viel­mehr das Leiden aus Jahren poli­ti­scher Unterdrückung und öko­no­mi­scher Zwänge. Daher ist die Stimme für Kılıçdaroğlu oft eine prag­ma­ti­sche Entscheidung gegen ein nicht hin­nehm­ba­res Weiter-So. Auch wenn die AKP- Regierung ange­sichts ihrer bis­he­ri­gen Durchhaltefähigkeit unbe­sieg­bar erschei­nen mag, war sie noch nie so schwach wie jetzt.

Autor: Lennart Kreuzfeld

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