Anschläge wie jen­er in Halle vom 9. Okto­ber sind ein­schnei­dende Ereignisse: Sie verun­sich­ern, stellen das gemein­same Zusam­men­leben in Frage. Die psy­chis­che Ver­ar­beitung ist oft schwierig, aber mach­bar. Was so ein Ereig­nis aus­lösen kann – aber nicht muss.

In der Hum­boldt­straße flat­tern in diesem Win­ter bunte Wim­pel über der Straße. Aus­geschnit­tene dreieck­ige Schnipsel, die von Haus zu Haus oder zur näch­sten Straßen­later­ne ges­pan­nt sind. Die Bewohner:innen wollen zeigen, dass das Beken­nt­nis zur Vielfalt stärk­er ist als der recht­sex­treme Ter­ror, der am 9. Okto­ber plöt­zlich und unvorherge­se­hen über das Paulusvier­tel here­in­brach. Gemein­sam aussprechen, wofür man ste­ht, dieses Bedürf­nis ver­spürten viele Hallenser:innen in den Tagen und Wochen danach – eine Reak­tion, die nicht nur eine poli­tis­che Aus­sage ist, son­dern auch ein Bedürf­nis zeigt, die Verun­sicherung gemein­sam zu ver­ar­beit­en. Doch woher kommt dieser Drang, nach dem Atten­tat selb­st zu handeln?

Wie Men­schen mit einem ver­stören­den Ereig­nis umge­hen und es ver­ar­beit­en, ist ganz unter­schiedlich. Zum einen sind da die Bürger:innen der Stadt, die den Anschlag mehr oder weniger nah erlebten. Für manch einen von ihnen ist der All­t­ag schnell wieder zurück, bei anderen hält das mul­mige Gefühl noch eine Weile an. Direkt Betrof­fene, wie Augen­zeu­gen und Ange­hörige der Opfer, kön­nen hinge­gen viel gravieren­deren psy­chis­chen Fol­gen aus­ge­set­zt sein.

Foto: Lau­rin Weger
Medizinischer Trauma-Begriff deutlich enger

Häu­fig fällt in diesem Zusam­men­hang das Wort trau­ma­tisch; zum einen, um das Ereig­nis für die direkt Betrof­fe­nen zu beschreiben, oft aber auch um die Auswirkun­gen auf die gesamte Gesellschaft zu beze­ich­nen. Im medi­zinis­chen Sinne völ­lig kor­rekt ist let­ztere Beze­ich­nung allerd­ings nicht. „Nach den Kri­te­rien der wis­senschaftlichen Klas­si­fika­tion­ssys­teme kann ein Trau­ma nur bei direk­ter Beteili­gung am Geschehen oder ein­er unmit­tel­baren Verbindung zu ein­er beteiligten Per­son vor­liegen“, erk­lärt Dr. Utz Ull­mann, Leit­er der medi­zinis­chen Psy­cholo­gie am Bergmannstrost Klinikum in Halle. Zwar sei nach dem Atten­tat bei vie­len Hallenser:innen eine all­ge­meine Verun­sicherung dur­chaus spür­bar gewe­sen, allerd­ings könne man dabei nicht von einem Trau­ma sprechen. Prof. Dr. Bernd Lep­low, Pro­fes­sor für Psy­cholo­gie an der MLU, erken­nt aber an, dass „für eine Gesellschaft, die sich an demokratis­che, rechtsstaatliche Ver­hält­nisse gewöh­nt hat, so etwas in einem kul­turellen Sinne trau­ma­tisch sein kann.”

Prof. Dr. Lep­low
Foto: Jonas Kyora

Ein Trau­ma im wis­senschaftlichen Sinn ist außer­dem weniger ein psy­chis­ch­er Zus­tand als vielmehr ein Ereig­nis. Es wird aus­gelöst, wenn Men­schen in abso­lut außergewöhn­liche Sit­u­a­tio­nen ver­set­zt wer­den. „Zen­traler Moment ein­er Trau­m­a­sit­u­a­tion ist der Kon­trol­lver­lust, ver­bun­den mit einem Gefühl der per­sön­lichen Bedro­hung”, erk­lärt Ull­mann das Geschehen. „Häu­fig wird dann eine Schock­reak­tion aus­gelöst“, so Ull­mann weit­er. Wichtig zu ver­ste­hen sei aber, dass hier­bei „eine nor­male Reak­tion auf eine unnor­male Sit­u­a­tion erfol­gt“. Auf Grund der absoluten Unnor­mal­ität des Ereigniss­es kön­nten Aufgeregth­eit, Ori­en­tierungslosigkeit und Erin­nerungslück­en mögliche Fol­gen sein. Erst wenn diese Symp­tome län­gere Zeit anhal­ten und nicht durch eigene Ver­ar­beitungsstrate­gien eingedämmt wer­den kön­nen, spricht man von einem pathol­o­gis­chen, also krankhaften Zus­tand, bei dem die Betrof­fe­nen pro­fes­sionelle Hil­fe brauchen.

Es hilft zu handeln

Zunächst wer­den näm­lich bei allen – sowohl bei direkt Beteiligten als auch bei indi­rekt Betrof­fe­nen – die Bewäl­ti­gungsmech­a­nis­men abgerufen, die beim Men­schen automa­tisch in Krisen­si­t­u­a­tio­nen aktiviert wer­den: All­ge­mein „braucht man genü­gend Hand­lungskom­pe­tenz, um irgen­det­was zu tun, um seine Sta­bil­ität zurück­zugewin­nen“, führt Ull­mann aus. Auch Prof. Lep­low betont, wie wichtig es ist, nach trau­ma­tis­chen Ereignis­sen die „son­st frei fließen­den Gefüh­le” in Hand­lun­gen zu kanal­isieren. „Anson­sten bleibt im Gehirn ein Stres­sor aktiv.” Als Stres­sor beze­ich­net man in der Psy­cholo­gie einen Impuls, der den Men­schen darauf vor­bere­it­et zu han­deln. In trau­ma­tis­chen Sit­u­a­tio­nen, erk­lärt Lep­low, komme es zu ein­er gravieren­den Aktivierung von Stres­soren, die ohne ver­ar­bei­t­ende Hand­lun­gen nach dem Ereig­nis fortbeste­hen. Aber auch die Unmöglichkeit, selb­st zu han­deln, sei für sich genom­men bere­its ein Stressor.

Oft­mals, so Ull­mann, helfe es, sich in solchen Sit­u­a­tio­nen beispiel­sweise mit Fre­un­den und Bekan­nten auszu­tauschen. Manche wür­den im Garten arbeit­en oder Musik hören. Was jedem dabei am meis­ten hil­ft, hänge sehr von der indi­vidu­ellen Per­sön­lichkeit ab. Bei ein­er so mas­siv­en Belas­tung wie nach einem Ter­ro­ran­schlag könne es passieren, „dass man danach wie betäubt ist, man kann also diese Bewäl­ti­gungsmech­a­nis­men gar nicht abrufen.“ Die Hil­fe, die dann von aus­ge­bilde­ten Ther­a­peuten und Seel­sorg­ern geleis­tet wird, „begin­nt mit ganz kleinen Din­gen“, erk­lärt Ull­mann. „Man fragt den Patien­ten zum Beispiel zu Beginn, auf welchem Stuhl er sitzen möchte, um ihm so immer mehr die Kon­trolle zurück­zugeben.“ Außer­dem wer­den die meis­ten Patienten:innen zunächst abgeschot­tet. Sie sollen geschützt wer­den, um sich regener­ieren zu kön­nen und nicht durch Kon­fronta­tio­nen mit den Ereignis­sen in Gesellschaft, Presse und sozialen Medi­en „sekundär trau­ma­tisiert“ zu werden.

Rituale geben Gemeinschaftsgefühl
Dr. Utz Ull­mann
Foto: Jonas Kyora

Nichts­destotrotz sei die öffentliche Reak­tion auf den Anschlag eben­so ver­ständlich. Das Konz­ert auf dem Mark­t­platz zehn Tage später, die Trauer­märsche und die Kundge­bun­gen vor der Syn­a­goge der jüdis­chen Gemeinde Halles seien deshalb eine nor­male Reak­tion gewe­sen. „Auch wenn für den betrof­fe­nen Einzel­nen die gezielte indi­vidu­elle ther­a­peutis­che Dimen­sion wichtiger ist, sind Rit­uale für die Stadt als solche wichtig“, schätzt Ull­mann ein. Auch Lep­low ist der Mei­n­ung, Rit­uale seien für Men­schen eine Möglichkeit, ihre Erfahrun­gen zu kanal­isieren, was dem Stres­sor des Nichthandelnkön­nens ent­ge­gen­wirken könne. Diejeni­gen, die sich durch diese Bekun­dun­gen nicht ange­sprochen gefühlt haben, sind laut Ull­mann nicht weniger nor­mal, im Gegen­teil: “Sie haben dann genü­gend Bewäl­ti­gungsres­sourcen, um die Geschehnisse allein zu verarbeiten.”

Nicht ganz unprob­lema­tisch sind allerd­ings die Besuche zahlre­ich­er Politiker:innen im Anschluss an den Anschlag. Während Bun­de­spräsi­dent Stein­meier und Innen­min­is­ter See­hofer ver­gle­ich­sweise unaufgeregt am Tag danach die Syn­a­goge besuchen und ihr Mit­ge­fühl aussprechen, sorgt der Kurzbe­such des US-amerikanis­chen Außen­min­is­ters Mike Pom­peo vier Wochen später für erhe­blichen Wirbel: Hub­schrauber der Polizei kreisen über dem Nor­den der Stadt, die Lud­wig-Wucher­er-Straße ist abges­per­rt, das Paulusvier­tel wird wieder zur Hochsicher­heit­szone. Zwar könne die aus­ge­drück­te Wertschätzung durch die Besuche und Anteils­bekun­dun­gen dur­chaus für das Stadtkollek­tiv sin­nvoll sein, „für einzelne Betrof­fene kann darin allerd­ings wieder eine gewisse Rein­sze­nierung eines Aus­nah­mezu­s­tandes liegen”, gibt Ull­mann zu bedenken. Let­z­tendlich müsse man immer diese zwei Seit­en sehen.

Als das Jahr 2019 zu Ende geht, ist im hal­lis­chen All­t­ag vom Anschlag nicht mehr viel zu spüren. Für die Stadt­bevölkerung scheint eine Rück­kehr zur Nor­mal­ität möglich. Prof. Lep­low führt dies auch darauf zurück, dass die Ver­ar­beitung in der Stadt gut funk­tion­iert hat. „Danach ist man dann zur Nor­mal­ität überge­gan­gen. Das ist mein­er Ein­schätzung nach auch richtig, denn man täte ja dem Täter einen großen Gefall­en, wenn das städtis­che Gle­ichgewicht zer­stört wor­den wäre.“ Und Dr. Ull­mann lobt den Zusam­men­halt, der während der Ver­ar­beitung zu spüren gewe­sen sei: „Das zeigt, dass, so unter­schiedlich die Leben­se­in­stel­lun­gen der Men­schen auch sind, man doch Hoff­nung haben kann, dass sich in schwieri­gen Krisen­si­t­u­a­tio­nen gegen­seit­ig unter­stützt wird und jed­er auf andere Men­schen zählen kann.”

Text: Jonas Kyo­ra
Recherche: Anja Thomas, Pauline Franz, Jonas Kyora

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