Anschläge wie jener in Halle vom 9. Oktober sind ein­schnei­den­de Ereignisse: Sie ver­un­si­chern, stel­len das gemein­sa­me Zusammenleben in Frage. Die psy­chi­sche Verarbeitung ist oft schwie­rig, aber mach­bar. Was so ein Ereignis aus­lö­sen kann – aber nicht muss.

Dieser Artikel erschien in
Heft 87 (Januar 2020)

In der Humboldtstraße flat­tern in die­sem Winter bun­te Wimpel über der Straße. Ausgeschnittene drei­ecki­ge Schnipsel, die von Haus zu Haus oder zur nächs­ten Straßenlaterne gespannt sind. Die Bewohner:innen wol­len zei­gen, dass das Bekenntnis zur Vielfalt stär­ker ist als der rechts­ex­tre­me Terror, der am 9. Oktober plötz­lich und unvor­her­ge­se­hen über das Paulusviertel her­ein­brach. Gemeinsam aus­spre­chen, wofür man steht, die­ses Bedürfnis ver­spür­ten vie­le Hallenser:innen in den Tagen und Wochen danach – eine Reaktion, die nicht nur eine poli­ti­sche Aussage ist, son­dern auch ein Bedürfnis zeigt, die Verunsicherung gemein­sam zu ver­ar­bei­ten. Doch woher kommt die­ser Drang, nach dem Attentat selbst zu handeln?

Foto: Laurin Weger

Wie Menschen mit einem ver­stö­ren­den Ereignis umge­hen und es ver­ar­bei­ten, ist ganz unter­schied­lich. Zum einen sind da die Bürger:innen der Stadt, die den Anschlag mehr oder weni­ger nah erleb­ten. Für manch einen von ihnen ist der Alltag schnell wie­der zurück, bei ande­ren hält das mul­mi­ge Gefühl noch eine Weile an. Direkt Betroffene, wie Augenzeugen und Angehörige der Opfer, kön­nen hin­ge­gen viel gra­vie­ren­de­ren psy­chi­schen Folgen aus­ge­setzt sein.

Medizinischer Trauma-Begriff deutlich enger

Häufig fällt in die­sem Zusammenhang das Wort trau­ma­tisch; zum einen, um das Ereignis für die direkt Betroffenen zu beschrei­ben, oft aber auch um die Auswirkungen auf die gesam­te Gesellschaft zu bezeich­nen. Im medi­zi­ni­schen Sinne völ­lig kor­rekt ist letz­te­re Bezeichnung aller­dings nicht. „Nach den Kriterien der wis­sen­schaft­li­chen Klassifikationssysteme kann ein Trauma nur bei direk­ter Beteiligung am Geschehen oder einer unmit­tel­ba­ren Verbindung zu einer betei­lig­ten Person vor­lie­gen“, erklärt Dr. Utz Ullmann, Leiter der medi­zi­ni­schen Psychologie am Bergmannstrost Klinikum in Halle. Zwar sei nach dem Attentat bei vie­len Hallenser:innen eine all­ge­mei­ne Verunsicherung durch­aus spür­bar gewe­sen, aller­dings kön­ne man dabei nicht von einem Trauma spre­chen. Prof. Dr. Bernd Leplow, Professor für Psychologie an der MLU, erkennt aber an, dass „für eine Gesellschaft, die sich an demo­kra­ti­sche, rechts­staat­li­che Verhältnisse gewöhnt hat, so etwas in einem kul­tu­rel­len Sinne trau­ma­tisch sein kann.”

Prof. Dr. Leplow
Foto: Jonas Kyora

Ein Trauma im wis­sen­schaft­li­chen Sinn ist außer­dem weni­ger ein psy­chi­scher Zustand als viel­mehr ein Ereignis. Es wird aus­ge­löst, wenn Menschen in abso­lut außer­ge­wöhn­li­che Situationen ver­setzt wer­den. „Zentraler Moment einer Traumasituation ist der Kontrollverlust, ver­bun­den mit einem Gefühl der per­sön­li­chen Bedrohung”, erklärt Ullmann das Geschehen. „Häufig wird dann eine Schockreaktion aus­ge­löst“, so Ullmann wei­ter. Wichtig zu ver­ste­hen sei aber, dass hier­bei „eine nor­ma­le Reaktion auf eine unnor­ma­le Situation erfolgt“. Auf Grund der abso­lu­ten Unnormalität des Ereignisses könn­ten Aufgeregtheit, Orientierungslosigkeit und Erinnerungslücken mög­li­che Folgen sein. Erst wenn die­se Symptome län­ge­re Zeit anhal­ten und nicht durch eige­ne Verarbeitungsstrategien ein­ge­dämmt wer­den kön­nen, spricht man von einem patho­lo­gi­schen, also krank­haf­ten Zustand, bei dem die Betroffenen pro­fes­sio­nel­le Hilfe brauchen.

Es hilft zu handeln

Zunächst wer­den näm­lich bei allen – sowohl bei direkt Beteiligten als auch bei indi­rekt Betroffenen – die Bewältigungsmechanismen abge­ru­fen, die beim Menschen auto­ma­tisch in Krisensituationen akti­viert wer­den: Allgemein „braucht man genü­gend Handlungskompetenz, um irgend­et­was zu tun, um sei­ne Stabilität zurück­zu­ge­win­nen“, führt Ullmann aus. Auch Prof. Leplow betont, wie wich­tig es ist, nach trau­ma­ti­schen Ereignissen die „sonst frei flie­ßen­den Gefühle” in Handlungen zu kana­li­sie­ren. „Ansonsten bleibt im Gehirn ein Stressor aktiv.” Als Stressor bezeich­net man in der Psychologie einen Impuls, der den Menschen dar­auf vor­be­rei­tet zu han­deln. In trau­ma­ti­schen Situationen, erklärt Leplow, kom­me es zu einer gra­vie­ren­den Aktivierung von Stressoren, die ohne ver­ar­bei­ten­de Handlungen nach dem Ereignis fort­be­stehen. Aber auch die Unmöglichkeit, selbst zu han­deln, sei für sich genom­men bereits ein Stressor.

Oftmals, so Ullmann, hel­fe es, sich in sol­chen Situationen bei­spiels­wei­se mit Freunden und Bekannten aus­zu­tau­schen. Manche wür­den im Garten arbei­ten oder Musik hören. Was jedem dabei am meis­ten hilft, hän­ge sehr von der indi­vi­du­el­len Persönlichkeit ab. Bei einer so mas­si­ven Belastung wie nach einem Terroranschlag kön­ne es pas­sie­ren, „dass man danach wie betäubt ist, man kann also die­se Bewältigungsmechanismen gar nicht abru­fen.“ Die Hilfe, die dann von aus­ge­bil­de­ten Therapeuten und Seelsorgern geleis­tet wird, „beginnt mit ganz klei­nen Dingen“, erklärt Ullmann. „Man fragt den Patienten zum Beispiel zu Beginn, auf wel­chem Stuhl er sit­zen möch­te, um ihm so immer mehr die Kontrolle zurück­zu­ge­ben.“ Außerdem wer­den die meis­ten Patienten:innen zunächst abge­schot­tet. Sie sol­len geschützt wer­den, um sich rege­ne­rie­ren zu kön­nen und nicht durch Konfrontationen mit den Ereignissen in Gesellschaft, Presse und sozia­len Medien „sekun­där trau­ma­ti­siert“ zu werden.

Rituale geben Gemeinschaftsgefühl

Nichtsdestotrotz sei die öffent­li­che Reaktion auf den Anschlag eben­so ver­ständ­lich. Das Konzert auf dem Marktplatz zehn Tage spä­ter, die Trauermärsche und die Kundgebungen vor der Synagoge der jüdi­schen Gemeinde Halles sei­en des­halb eine nor­ma­le Reaktion gewe­sen. „Auch wenn für den betrof­fe­nen Einzelnen die geziel­te indi­vi­du­el­le the­ra­peu­ti­sche Dimension wich­ti­ger ist, sind Rituale für die Stadt als sol­che wich­tig“, schätzt Ullmann ein. Auch Leplow ist der Meinung, Rituale sei­en für Menschen eine Möglichkeit, ihre Erfahrungen zu kana­li­sie­ren, was dem Stressor des Nichthandelnkönnens ent­ge­gen­wir­ken kön­ne. Diejenigen, die sich durch die­se Bekundungen nicht ange­spro­chen gefühlt haben, sind laut Ullmann nicht weni­ger nor­mal, im Gegenteil: “Sie haben dann genü­gend Bewältigungsressourcen, um die Geschehnisse allein zu verarbeiten.”

Dr. Utz Ullmann
Foto: Jonas Kyora

Nicht ganz unpro­ble­ma­tisch sind aller­dings die Besuche zahl­rei­cher Politiker:innen im Anschluss an den Anschlag. Während Bundespräsident Steinmeier und Innenminister Seehofer ver­gleichs­wei­se unauf­ge­regt am Tag danach die Synagoge besu­chen und ihr Mitgefühl aus­spre­chen, sorgt der Kurzbesuch des US-ame­ri­ka­ni­schen Außenministers Mike Pompeo vier Wochen spä­ter für erheb­li­chen Wirbel: Hubschrauber der Polizei krei­sen über dem Norden der Stadt, die Ludwig-Wucherer-Straße ist abge­sperrt, das Paulusviertel wird wie­der zur Hochsicherheitszone. Zwar kön­ne die aus­ge­drück­te Wertschätzung durch die Besuche und Anteilsbekundungen durch­aus für das Stadtkollektiv sinn­voll sein, „für ein­zel­ne Betroffene kann dar­in aller­dings wie­der eine gewis­se Reinszenierung eines Ausnahmezustandes lie­gen”, gibt Ullmann zu beden­ken. Letztendlich müs­se man immer die­se zwei Seiten sehen.

Als das Jahr 2019 zu Ende geht, ist im hal­li­schen Alltag vom Anschlag nicht mehr viel zu spü­ren. Für die Stadtbevölkerung scheint eine Rückkehr zur Normalität mög­lich. Prof. Leplow führt dies auch dar­auf zurück, dass die Verarbeitung in der Stadt gut funk­tio­niert hat. „Danach ist man dann zur Normalität über­ge­gan­gen. Das ist mei­ner Einschätzung nach auch rich­tig, denn man täte ja dem Täter einen gro­ßen Gefallen, wenn das städ­ti­sche Gleichgewicht zer­stört wor­den wäre.“ Und Dr. Ullmann lobt den Zusammenhalt, der wäh­rend der Verarbeitung zu spü­ren gewe­sen sei: „Das zeigt, dass, so unter­schied­lich die Lebenseinstellungen der Menschen auch sind, man doch Hoffnung haben kann, dass sich in schwie­ri­gen Krisensituationen gegen­sei­tig unter­stützt wird und jeder auf ande­re Menschen zäh­len kann.”

Text: Jonas Kyora
Recherche: Anja Thomas, Pauline Franz, Jonas Kyora

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