Halle und Ban­ja Luka – zwei Stu­dentIn­nen­städte der­sel­ben Größe, eine in Deutsch­land die andere in Bosnien und Herze­gow­ina. Sie haben einige Gemein­samkeit­en, und doch tren­nt sie ein großer Unterschied. 

Um 18 Uhr läuten die Glock­en. Es ist nicht die Dame Hän­del im Roten Turm, die ihren riesi­gen, gus­seis­er­nen Kör­p­er schwingt. Hier sind es die Glock­en der ortho­dox­en Christ-Erlös­er-Kathe­drale, die ihren Klang zum Besten geben. Mit »hier« ist Ban­ja Luka gemeint. Das »Lukas­bad« ist die zweit­größte Stadt in Bosnien und Herze­gow­ina. Die Stadt befind­et sich in der Repub­li­ka Srp­s­ka – der »ser­bis­chen Repub­lik« – wie diese ins Deutsche über­set­zt wird. Die Repub­li­ka Srp­s­ka ist ein Teil­ge­bi­et Bosniens und Herze­gow­inas, welch­es mehrheitlich, aber keines­falls auss­chließlich von eth­nis­chen SerbIn­nen bewohnt wird und über eine gewisse poli­tis­che Autonomie ver­fügt. Bosnien und Herze­gow­ina – ein Gebilde mit viel geschichtlich­er und sozial-poli­tis­ch­er Verwirrung.

Die Frage ist nun, was Ban­ja Luka und Halle verbindet. Es fall­en hier­bei, in struk­tureller und stadtar­chitek­tonis­ch­er Hin­sicht, einige Gemein­samkeit­en ins Auge. In Ban­ja Luka ist es nicht die Saale, son­dern der Vrbas, der seine Schlin­gen durch die Stadt­teile und Grü­nan­la­gen der Stadt zieht. Ein großes Wohnge­bi­et heißt nicht Neustadt, son­dern Borik. Zur Unter­hal­tung wird in Ban­ja Luka nicht das Neue The­ater, son­dern das Nation­althe­ater besucht. Wie Halle hat Ban­ja Luka eine Uni­ver­sität mit cir­ca 20 000 Stu­dentIn­nen, die eben­falls zehn Prozent der Stadt­bevölkerung ausmachen.

Eine Geschichte mit Folgen

All das wirkt ver­traut, wenn man Halle ken­nt. Einen Unter­schied gibt es jedoch: Viele der heuti­gen Stu­dentIn­nen und Pro­fes­sorIn­nen in Ban­ja Luka waren Zeug­In­nen ein­er der grausam­sten
kriegerischen Auseinan­der­set­zun­gen der let­zten Jahrzehnte, ger­ade 1100 Kilo­me­ter von Halle ent­fer­nt. Einige von ihnen ver­bracht­en ihre Kind­heit unter Tode­sangst, durften ihre Keller nicht ver­lassen, hat­ten keine Lebens­mit­tel. Im ehe­ma­li­gen Jugoslaw­ien, auch im Teil­ge­bi­et des heuti­gen Bosnien und Herze­gow­ina, lebten mehrheitlich eth­nis­che Bosni­akIn­nen, SerbIn­nen und Kroat­In­nen. Dann zer­fiel der Staat. Unter der Zunahme von eth­nisch-religiösen Kon­flik­ten began­nen Nach­barIn­nen ab dem Jahr 1992, keine mehr zu sein. Die Folge: Mord, Armut und Massen­verge­wal­ti­gun­gen als strate­gis­che Kriegs­führung. Der Kon­flikt forderte zwis­chen 100 000 und 200 000 Todes­opfer. Die Zahl gilt als schw­er zu ermit­teln, da bis heute tausende Per­so­n­en ver­misst wer­den und eine Uneinigkeit über die Meth­ode der Zäh­lung herrscht. 2,2 Mil­lio­nen Men­schen flo­hen, die Zahl der Verge­wal­ti­gun­gen ist unklar, geht aber wohl in den Bere­ich der 10 000er. Bish­er gibt es zwölf Verurteilun­gen bezüglich kriegerisch-sex­ueller Über­griffe. Über tat­säch­liche Hin­ter­gründe und Schuldzuweisun­gen wird bis heute spekuliert. Ein Genozid, der 8000 Todes­opfer forderte, hat­te in Sre­breni­ca stattge­fun­den. Das Kriegsver­brecher­tri­bunal hierzu fand Ende 2017, also mehr als zwanzig Jahre später, in Den Haag statt. Noch heute ist Bosnien und Herze­gow­ina, mit etwa 94 Ton­nen Sprengstoff im Boden, eines der am stärk­sten ver­minten Län­der weltweit.

Es sind der Krieg und das Trau­ma, was die Stu­dentIn­nen in Ban­ja Luka von denen in Halle unter­schei­det. Es ist die Nich­ta­u­far­beitung, sowohl im staatlichen als auch inter­na­tionalen Sinne. Deut­lich wird diese Prob­lematik in allen Lebens­bere­ichen, auch in der uni­ver­sitären Lehre. Die in Ban­ja Luka zu bear­bei­t­ende Lit­er­atur ist häu­fig in Kyril­lisch oder im ‑ekav­i­ca-Dialekt. Rel­e­vant ist das, weil die Sprache zum Mit­tel gewor­den ist, sich ein­er eth­nis­chen Iden­tität zuzuord­nen. Grund­sät­zlich sind beziehungsweise ist Bosnisch, Ser­bisch und Kroat­isch eine gram­ma­tisch iden­tis­che Sprache mit kleinen, dialek­tis­chen oder lexikalis­chen Unter­schieden. Kyril­lisch und ‑ekav­i­ca-Dialekt wer­den dabei mit der ser­bis­chen Iden­tität ver­bun­den. Für Stu­dentIn­nen, welche sich der kroat­is­chen oder bosni­akischen Eth­nie zuge­hörig fühlen, die wiederum mit der lateinis­chen Schrift und anderen Dialek­ten in Verbindung gebracht wird, ist das prob­lema­tisch.
In den Semes­ter­fe­rien gehen einige der hal­lis­chen Stu­dentIn­nen auf Fes­ti­vals und reisen in der Welt­geschichte herum. Auch die Stu­dentIn­nen von Ban­ja Luka kon­nten das ein­mal. Der jugoslaw­is­che Pass hat­te kaum Ein­schränkun­gen. Dies soll nicht bedeuten, dass es in Jugoslaw­ien keine Schwierigkeit­en gegeben hätte. Es sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass es gewisse Vorteile gegenüber der heuti­gen Sit­u­a­tion gegeben hat­te. Mit neuer Grenzziehung ist es anders. Bis vor Kurzem hat man ein Visum in Sara­je­vo für die Ein­reise in die EU beantra­gen müssen, obwohl sich die Außen­gren­ze ger­ade 50 Kilo­me­ter von Ban­ja Luka ent­fer­nt befind­et. Erst seit weni­gen Monat­en ist es den Bewohner­In­nen Bosniens und Herze­gow­inas wieder möglich, visum­frei in den Schen­gen­raum zu reisen, wobei immer von ein­er Reise »nach Europa«, nicht in die EU, gesprochen wird. Die Men­schen fühlen sich nicht oder nicht mehr zu Europa gehörig, was sich­er auch eine Kon­se­quenz der lokalen und inter­na­tionalen Poli­tik darstellt.

Lichtblicke

Foto: Anto­nia Taubert

In Ban­ja Luka gibt es einige Organ­i­sa­tio­nen und Vere­ine, in welchen auch viele Stu­dentIn­nen engagiert sind. Diese Insti­tu­tio­nen haben sich unter anderem der Aufar­beitung des Kriegs­geschehens und der Aussöh­nung zwis­chen den Eth­nien ver­schrieben. Eine dieser Organ­i­sa­tio­nen ist das Helsinš­ki par­la­ment građana Ban­ja Luka, das von der Poli­tik­wis­senschaft­lerin Dra­gana Dard­ić geleit­et wird. Die »Liv­ing Libraries« sind eines der­jeni­gen Pro­jek­te der Organ­i­sa­tion, welch­es sich ins­beson­dere der geschichtlichen Aufar­beitung wid­met. Hier­bei wird jun­gen Men­schen die Möglichkeit geboten, Per­so­n­en aller Eth­nien zu tre­f­fen, welche den Krieg miter­lebt haben. »Das Ziel ist dabei, vor allem jed­wed­er Art von Diskri­m­inierung ent­ge­gen­zuwirken und die fol­gen­den Gen­er­a­tio­nen auf die Prob­lematik aufmerk­sam zu machen«, so Želj­ka Umiće­vić, eine Mitar­bei­t­erin des Helsinš­ki par­la­ment građana.

Halle und Ban­ja Luka sind zwei Städte, die auf eine Art so ähn­lich scheinen und es doch nicht sind. Es sind die Dämo­nen der Ver­gan­gen­heit, vielle­icht auch die der Gegen­wart, welche die Men­schen spal­ten. Geen­det sei hier mit einem Zitat des englis­chen Schrift­stellers und Kun­sthis­torik­ers John Ruskin: »Wir müssen immer tra­cht­en, nicht nur, was uns tren­nt, son­dern was wir gemein­sam haben, herauszufinden.«

  • Anto­nia hat bis vor kurzem Eth­nolo­gie an der Uni Halle studiert. Nach ihrem Stu­di­en­ab­schluss ist sie nach Bosnien und Herze­gow­ina gegan­gen, wo sie derzeit ein frei­williges Jahr absolviert.
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