Gesamtheit der Wissenschaften und Profilschärfung. Haushaltslöcher und Projektfinanzierung. Informationszeitalter und übermäßige Theoretisierung. Mit weitem Blick auf die Motive der Kürzungsdebatte stößt man auf Widersprüche. Wie soll man sie auflösen?
Auf dem zentralen Treppenabsatz stehend, dem Eintretenden zugewandt, wacht eine Bronzebüste über das Foyer des Löwengebäudes. Es ist Christian Thomasius, Philosoph der Aufklärung und geistiger Gründervater der Universität, der unter seiner Lockenperücke das geschäftige Kommen und Gehen der Studierenden im Blick hat. Doch was er nun, Anfang 2022, beobachten muss, ist ein an der halleschen Universität beispielloser Vorgang: Der Senat beschließt auf Vorschlag des Rektorats einen drastischen Kürzungsplan, der dutzende Professuren, hunderte Beschäftigtenstellen und mehrere tausend Studierendenplätze verschwinden lassen soll; effektiv ein Fünftel der gesamten Hochschule. Dass dieser Beschluss sowohl für die MLU als auch für die Stadt Halle einen schweren Verlust darstellt, steht außer Frage. Trotz aller hochkochenden Emotionen, Anschuldigungen, Debatten und Demonstrationen lässt sich an den Tatsachen nicht rütteln: Unsere Universität steht vor einem langfristigen Umbruch, der sich kaum aufhalten oder gar rückgängig machen lassen wird. Es ist vielleicht an der Zeit, sich – fern von jeglichem Untergangspathos – die Frage zu stellen: Wie sieht die langfristige Zukunft der Martin-Luther-Universität unter diesen Umständen aus?
Rückwärts immer, vorwärts nimmer
In den 1960er Jahren tauchte in den Sozialwissenschaften zum ersten Mal der Begriff „Wissensgesellschaft“ auf. Gemeint ist damit eine neue Gesellschaftsformation, in der individuelles und kollektives Wissen sowie dessen Organisation die Grundlage für das soziale und wirtschaftliche Zusammenleben bildet – gewissermaßen die nächste Entwicklungsstufe der menschlichen Zivilisation, nach Agrar- und Industriegesellschaft. Auch wenn dieser Ansatz in der Forschung nicht unumstritten ist, kann doch auch kaum jemand leugnen, dass sich die Menschheit zurzeit in einer Phase des technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs befindet. Internet und Digitalisierung haben gewaltige Auswirkungen auf Gesellschaft, Sozialleben und globale Wirtschaftskreisläufe; die führenden Unternehmen der Weltwirtschaft sind nicht mehr die klassischen Industriekonzerne, sondern Technik- und Informationsriesen wie Microsoft, Google, Facebook oder Apple. Menschen wie Elon Musk, Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos besitzen mehr Macht, Reichtum und Einfluss, als sich ein Rockefeller oder Krupp jemals hätte träumen lassen. Zum Motor und Symbol dieser Entwicklung ist das Silicon Valley geworden, das einzuholen und vielleicht sogar zu übertrumpfen sich die chinesische Regierung zum Ziel genommen hat – mit ihrer eigenen Technologieregion im Perlflussdelta. Generell zeichnet sich ab, dass in naher Zukunft der Erwerb und die Weiterentwicklung von Wissen und Technologie zur primären wirtschaftlichen Ressource werden könnten, mit allen dazugehörenden Auswirkungen auf Arbeitswelt und Sozialleben.
Eine zentrale Rolle in diesem Transformationsprozess spielen die Universitäten. Sie sind die vornehmlichen Institutionen zur höheren Wissensvermittlung, sie vereinen in einzigartiger Weise Lehre und Forschung. Ein Beleg für ihre wachsende Wichtigkeit sind die seit Jahrzehnten stetig wachsenden Studierendenzahlen: Zwischen 1953 und 2013 verzwanzigfachte sich allein die Zahl der deutschen Studierenden von 133.000 auf 2,6 Millionen. Waren Abitur und ein akademischer Abschluss Mitte des 20. Jahrhunderts noch kaum mehr als ein Nischenphänomen, so sind sie heute die Wunschlaufbahn vieler Schüler:innen. Zum Teil sprengt die Zahl der Studierenden regelrecht die Räumlichkeiten; manche Vorlesungen müssen in mehreren Hörsälen gleichzeitig oder sogar außerhalb der Universität – in Halle etwa im Steintor-Varieté – gehalten werden. Doch trotz des ständigen Wachstums von Nachfrage und gesellschaftlich-wirtschaftlicher Bedeutung haben weltweit, aber auch in Deutschland immer mehr Universitäten und Hochschulen mit finanziellen Problemen zu kämpfen. „Kürzung“, „Verschlankung“, „Profilschärfung“ sind die Schlagworte, die in diesem Zusammenhang gerne benutzt werden. Die aktuellen Kürzungen an der MLU sind nur die jüngsten in einer langen Reihe von finanziellen Beschneidungen.
Trotz des ständigen Wachstums von Nachfrage und Bedeutung sind “Kürzung”, “Verschlakung”, “Profilschärfung” die Schlagworte.
Wie lässt sich diese Paradoxie erklären? Wie kann die Landesregierung eines relativ strukturschwachen Bundeslandes wie Sachsen-Anhalt die eigenen Hochschulen, diese unverzichtbaren Glieder in der „Produktionskette“ der Zukunftsressource Wissen, derart verstümmeln? Es drängt sich der Eindruck auf, dass an den politischen und bürokratischen Schaltstellen eine gewisse Kurzsichtigkeit herrscht; dass eine mittelfristige Erleichterung des Landeshaushalts wichtiger ist als eine nachhaltige Investition in die in Wahlprogrammen so oft beschworene Zukunft. Dass diese Haltung offenbar von einem Wissenschaftsminister mitgetragen wird, der selbst einst Rektor einer Hochschule war und den Wert akademischer Institutionen eigentlich kennen sollte, macht die Sache nicht weniger widersprüchlich als die stets angeführte Rechtfertigung, die MLU leide nun einmal unter einem finanziellen Defizit. Denn einerseits ist die klamme Haushaltslage der Universität offenbar zum größten Teil hausgemacht – würde sich die Landesregierung an den Zukunftsvertrag mit dem Bund halten und wie dieser 40 Millionen Euro beisteuern, gäbe es das aktuelle Budgetloch nicht – andererseits ist eine Hochschule ihrem Wesen nach grundsätzlich immer defizitär. Bildung und Forschung sind kollektive Güter, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern in irgendeiner Weise zur Verfügung stellen muss, wenn sie im modernen Zeitalter und insbesondere in der sich anbahnenden Wissensgesellschaft bestehen will; dabei kann sich die Kosten-Nutzen-Rechnung nicht nur auf den Haushaltsplan einer einzelnen Institution beschränken, sondern muss in einem viel größeren, gesellschaftlich-wirtschaftlichen Rahmen gedacht werden. Von diesem grundsätzlichen Aspekt einmal abgesehen, sind 40 Millionen Euro selbst für den Haushalt eines vergleichsweise finanzschwachen Bundeslandes wie Sachsen-Anhalt (12,4 Milliarden im Jahr 2021) kaum mehr als „Peanuts“. Das Geld zur vollständigen, ungekürzten Finanzierung der MLU und anderer deutscher Universitäten ist durchaus vorhanden; das Problem sind offenbar die anders ausgerichteten Prioritäten.
Das Ende der Universitas?
Manche könnten an dieser Stelle einwenden, dass es sich bei den aktuellen Kürzungen an der MLU mitnichten um ein kurzsichtiges Manöver handelt, sondern um ein längst überfälliges Zurechtstutzen auf das Wesentliche. Immerhin lautet das Schlagwort des Rektorats „Profilschärfung“ und im naturwissenschaftlichen Bereich kann Halle immerhin als Standort mehrerer Forschungsinstitute wie beispielsweise dem Leibniz-Institut für Pflanzen-Biochemie punkten. Diesem Argument widerspricht jedoch die Art der Kürzung; so soll neben Einsparungen bei Pharmazie, Biochemie und Agrarwissenschaften auch die Professur für Anorganische Chemie verschwinden, die für eine Stärkung des naturwissenschaftlichen Bereichs eigentlich von großer Bedeutung wäre. Dass noch 2017 die Bundesforschungsministerin am Weinberg-Campus ein neues, von Land und Bund mit 40 Millionen Euro (!) finanziertes Proteinforschungszentrum eröffnete, wirkt vor diesem Hintergrund ebenso absurd wie die geradezu zufällig wirkende Auswahl der übrigen zu kürzenden Fachbereiche.
Doch auch wenn man diese Widersprüchlichkeit ausblendet, könnte man argumentieren, dass zumindest einige „Orchideenfächer“ wie Japanologie oder Altertumswissenschaften zu Recht auf der Abschussliste stehen, scheinen sie doch nur wenig zur Nützlichkeit MLU beizutragen. Überlegungen dieser Art hört man immer wieder; sie sind Ausdruck eines Prozesses, der ebenso wie die Transformation zur Wissensgesellschaft immer mehr an Fahrt aufzunehmen und mit dieser untrennbar verbunden zu sein scheint. Denn selbst wenn man finanzpolitische Erwägungen beiseitelässt, scheint die Universität der Zukunft, die zentrale Institution der Wissensgesellschaft, eine zum großen Teil verschulte, karriere- und berufsorientierte Angelegenheit zu sein. Ein Ort der Ausbildung und nicht der Bildung, der sich ganz dem ökonomischen Nutzenkalkül unterworfen hat und vor allem als Station auf dem Weg ins Berufsleben gesehen wird. Für eine solche Einrichtung scheint dann auch das nüchtern-bürokratische Wort „Hochschule“ als Bezeichnung besser geeignet zu sein als die idealistische „Universität“. Das Konzept der universitas litteratum, der „Gesamtheit der Wissenschaften“ im Sinne Wilhelm von Humboldts scheint keinen Platz mehr in der akademischen Welt der Zukunft zu haben.