Im Mai konnten die Europa- und Kommunalwahlen bemerkenswert viele Menschen mobilisieren. Doch auch bei dieser Abstimmung haben sich Wahlberechtigte bewusst ferngehalten. Was sind ihre Beweggründe? Wie berichten manche Medien darüber? Und wie kann man sich, abgesehen vom Wählengehen, politisch engagieren?
Es gibt Sätze, fernab von Aussagen über Fremdenhass und Flüchtlingsdebatte, die man in der Öffentlichkeit besser nicht verlauten lassen sollte. Einer davon ist: »Ich gehe nicht wählen, weil …«
Nicht selten muss man hier mit starkem Gegenwind rechnen. Aber wieso sorgt dieser scheinbar lapidare Satz für solche Furore?
Häufig wird Nichtwählern ein fehlendes Interesse an der Politik sowie Verantwortungslosigkeit unterstellt, da das Wahlergebnis von den rechten Parteien dominiert würde, wenn die Wahlbeteiligung zu gering sei. Viele Wahlbefürworter sind schockiert über die Selbstverständlichkeit, mit der das Wahlrecht betrachtet wird, und rufen zu mehr Wertschätzung auf. Für einige Nichtwähler sind die Wahlen zwecklos; dies wird oft als pessimistische bis unrealistische Einstellung aufgenommen. Doch wieso gibt es dann Menschen, die sich täglich mit Politik auseinandersetzen, aber trotzdem nicht wählen gehen?
Standpunkte der Öffentlichkeit
Ein Beispiel, wie Medien mit der Thematik umgehen, zeigt dieser satirische Beitrag aus der »Welt«. Hier sind zwei von »Sieben Gründe(n) nicht wählen zu gehen«:
»Greta, 25, aus München: ›Ich bin an dem Tag schon verplant. Da ist immer unser Mädelsabend. Und Briefwahl kommt für mich nicht infrage, weil ich immer vergesse, auf welcher Seite man die Briefmarke ablecken muss.‹
Jessica, 41, aus Rosenheim findet keine Partei, die 100 Prozent zu ihr passt. ›Ich sehe mich durch niemanden richtig vertreten. Ich bin Tierschützerin, mag keine Flüchtlinge und male gerne Mandalas. Am Anfang dachte ich, die AfD sei eine echte Alternative – bis ich im Wahlprogramm vergebens nach Ausmal-Mandalas gesucht habe.‹«
Nichtwähler wurden hier auf sehr humoristisch-kritische Art und Weise dargestellt. Aber ob die Mehrheit der Nichtwähler wirklich solche Aussagen treffen würde? Gibt es nicht doch noch bessere Argumente?
Beispielhaft für den öffentlichen Umgang mit der Thematik ist auch folgendes Zitat aus einem Gastartikel (»Nicht wählen geht gar nicht!«) in der »Zeit«, der von drei Politikern verfasst wurde: »Demokratie ist auch, dass man nicht immer eins zu eins seine Meinung sofort durchsetzen kann. Wer das will, wünscht sich keine Demokratie, sondern will selbst Diktator sein.« Diese Aussage soll das Argument mancher Nichtwähler entkräften, dass keine vertretbare Partei zur Wahl stehen würde. Der Fakt, dass der zitierte Abschnitt auf den ehemaligen Theaterkritiker Georg Diez und sein Bekenntnis zum Nichtwählen bezogen ist, macht schnell den Eindruck, man könne ihn damit meinen oder unausweichlich mit Wörtern wie »Diktator« in Verbindung setzen. Er selbst kommt allerdings nicht zu Wort.
Selbiger Gastbeitrag ruft »alle potenziellen Wahlverweigerer«, ob Theaterkritiker oder nicht, dazu auf, »mal vorbeizuschauen und etwas zu bewegen.« Hier wird sich wieder auf das Vorurteil berufen, dass sich niemand der Nichtwähler mit Politik auseinandersetze und sich alle wie bockige Kinder verhalten würden oder die so typische »kindliche Naivität« aufwiesen. Manche Nichtwähler sind allerdings bekannt dafür, sich politisch zu engagieren; als Beispiel kann man hier den polarisierenden Journalisten Ken Jebsen anbringen. Womöglich setzt er sich mehr mit Politik auseinander als ein Wähler, der sein Kreuzchen setzt und dann abwartet, was die gewählte Partei damit anfängt. Hier besteht jedoch das Risiko, schnell wieder zurück in die Passivität zu fallen – schließlich trägt nun die gewählte Partei die Bürde des Umsetzens.
Eigeninitiative – was bewegen statt meckern
Um Dinge zu verändern, braucht man nicht zwangsläufig einen Wahlzettel. Die Umsetzung des 1,5‑Grad-Ziels, die Bekämpfung von Umweltverschmutzung und Massentierhaltung sind nur auf den ersten Blick Dinge, die Politiker in ihren Stühlen sitzend verändern werden. Das zu beeinflussen ist den Bürgern überlassen: durch ihren Konsum, indem man zum Beispiel das Fahrrad aus dem Keller holt, weniger Plastik kauft oder auf Bioprodukte setzt. Im Grunde können wir uns so jeden Tag neu entscheiden, ob wir uns politisch engagieren oder nicht – nicht nur am Tag der Wahl. Natürlich schließt das eine das andere nicht aus; aber nicht wählen zu gehen bedeutet nicht zwangsweise, dass man sich nicht mit Politik beschäftigt.
Systemkritik durch Verweigerung
Einer der Gründe von politisch interessierten Nichtwählern, der Wahl fern zu bleiben, ist die vermeintlich fehlende Alternative: Egal, welche Partei man wählt, es würde sich doch eh nichts grundlegend ändern. Um es bildlich zu beschreiben: Es werde immer nur versucht, die Symptome zu lindern; die Ursache der Krankheit wird jedoch nicht behoben. Beispiel Flüchtlingskrise: In der Politik wird die Aufnahme und Unterbringung der Flüchtlinge diskutiert, zu selten aber ihre Ursache: der Krieg. Laut manchen Nichtwählern debattieren die Politiker irrelevante Themen, die es sich nicht lohnt zu unterstützen.
Sicherlich gibt es diese »typischen« Nichtwähler: Menschen, die wirklich kein Interesse haben oder keine freien Kapazitäten, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Das will niemand abstreiten, doch es könnte allen beteiligten Seiten dienlich sein, auf gegenseitige Pauschalisierungen zu verzichten.
Doch es ist vermeintlich viel leichter, Argumente totzuschweigen oder lächerlich zu machen. Jeder sollte das Recht haben, sich zu erklären und nicht schon beim ersten Satz hoffnungslos in eine Schublade gesteckt zu werden, aus der er sich nur schwer wieder befreien kann. Schließlich sagte schon Rosa Luxemburg: »Freiheit ist auch immer die Freiheit der Andersdenkenden.«