Hin und wieder liest man von »Halle, der Studentenstadt«. Spätestens fünf Gehminuten vom Campus entfernt entstehen erste Zweifel an der Richtigkeit dieser Aussage. Wir leben in einer Stadt, die Studenten fantastische Möglichkeiten bietet – aber sicher nicht in einer Studentenstadt. Warum das vielleicht auch gar nicht so schlecht ist. Eine Betrachtung.
Wie jede große Kultur- und Bildungseinrichtung liebt es die Martin-Luther-Universität, Pressemitteilungen in bewundernswerter Regelmäßigkeit in die große, weite Welt hinauszuschicken. Die kurzen und manchmal nicht ganz so kurzen Texte widmen sich den unterschiedlichsten Themen, die für Beobachter einer Uni irgendwie von Interesse sein könnten. Gelegentlich wohnt dem Klang mancher Formulierungen ein nicht zu überlesender Stolz über das Verkündete bei; man will es der MLU nicht verdenken. Wenn die Uni schon einmal gemeinsam mit der Weinbruderschaft Saale-Unstrut e.V. eine Ausstellung über den Gott des Weines konzipiert, kann man dieses alkoholische Genussmittel und dessen Anbau durchaus als »die wesentlichen anthropologischen Grundzüge des Menschen berührend« rühmen. Anlass genug, dass neben einzelnen regionalen Seiten sogar rtl.de seinen Leserinnen und Lesern diese Neuigkeit nicht vorenthalten wollte.
Es gibt aber auch Pressemitteilungen der hiesigen Uni, die für ein noch größeres Medienecho sorgen:
Stellen wir uns doch einmal vor, ein Wettbüro käme tatsächlich auf den absurden Gedanken, Quoten für das Eintreten oder Nicht-Eintreten des nun vorgestellten Falles einzurichten: Die MLU verkündet der gespannten Öffentlichkeit zumeist Mitte Oktober eines jeden Jahres, dass sich wieder eine Rekordzahl an Erstsemestern für ein Studium in der Saalestadt entschieden hat. Wer auf Nummer sicher gehen will, wettet folglich, dass es auch im nächsten Jahr so kommen wird; die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Fall eintritt, ist sehr groß und die Quote verschwindend gering. Ähnlich würde es sich verhalten, wenn man bei einem Pokalspiel auf den haushohen Favoriten setzt – sicher, aber nicht sonderlich lukrativ. Unwahrscheinlich, ja nahezu ausgeschlossen erscheint das Szenario, wonach es tatsächlich mal wieder ein Wintersemester gibt, bei dem an der Uni Halle weniger Studenten und Studentinnen als im Vorjahr immatrikuliert werden. Die Option für Zocker schlechthin! Denn es soll ja doch auch mal vorkommen, dass der Underdog im Pokal wider aller Erwartungen gewinnt.
Warum die hastuzeit vielleicht bald ihre Auflage erhöhen muss
Der Trend ist gut erkennbar – offenkundig werden Stadt und Uni bei Studienanfängern immer beliebter. Um diese Feststellung einmal mit wasserdichten Zahlen zu unterfüttern: Die hastuzeit lässt zu Beginn eines jeden Wintersemesters 4000 ihrer kostbaren Stücke in die nicht nur bei frisch Eingeschriebenen beliebten Ersti-Taschen, die offiziell Students-welcome-bags heißen, beilegen. Bis zu 365 Studierende gingen zu Beginn des aktuellen Wintersemesters leer aus und erhielten keine hastuzeit. Was lernen wir daraus? Einerseits, dass 2018 knapp 4400 neu eingeschriebene Studienanfänger an der Uni Halle akademisch aktiv wurden. Andererseits, dass die hastuzeit im nächsten Jahr lieber ein paar hundert Hefte mehr drucken lassen sollte.
Beliebt sind Halle und seine Uni also ohne Frage, und dafür gibt es gute Gründe. Die Ausbildung, die Studierende der Rechtswissenschaft hier erhalten, zählt zum Kreis der besten in ganz Deutschland. Auch wer Erziehungswissenschaften studiert, ist mit der MLU sicher an keiner ganz schlechten Adresse gelandet. Diese Liste ließe sich problemlos noch um einige Einträge erweitern.
Abgesehen davon sind die Mieten im Vergleich zu anderen Unistädten oder deutschen Großstädten im Allgemeinen günstig, und es handelt sich bei Halle um eine Stadt der kurzen Wege; beinahe alle für Akademiker wichtigen Strecken lassen sich innerhalb von 15 oder 20 Minuten zu Fuß bewältigen. Mit der Kleinen Ulrichstraße gibt es mindestens eine Kneipenmeile und durch Freiräume für (fast) alle Ideen erhält sich eine lebendige Kulturszene.
Aber dennoch: Wenn man nicht gerade 16 Uhr bei Edeka in der Großen Ulrichstraße einkaufen geht, fällt dem aufmerksamen Beobachter seiner Umwelt auf, dass es mit der studentischen Präsenz in der Stadt nicht so weit her ist – da kann die Uni noch so oft frohlockend verkünden, dass es immer mehr von dieser Sorte hier gibt. Wenn man sich nur ein paar Schritte vom Campus entfernt, läuft man kaum noch Kommilitonen über den Weg.
Auch dieser Eindruck lässt sich mit Zahlen gut verdeutlichen: In Halle gibt es seit diesem Semester insgesamt fast 21 500 Studentinnen und Studenten an MLU und Burg, zu denen noch einmal rund 220 000 »andere« Bewohner der Stadt kommen. Nicht einmal jeder zehnte Einwohner kann also als »studierend« bezeichnet werden.
In »klassischen« Studentenstädten sieht dieses Verhältnis ein wenig anders aus: Im hessischen Gießen lebt ein Drittel der Einwohner Halles, die Anzahl an Studenten beträgt allerdings beinahe 30 000; in Jena, auch so einer Saalestadt, leben in absoluten Zahlen zwar etwas weniger Studiosi (~18 000), aber alles in allem auch nur halb so viele Einwohner wie in Halle. In Tübingen ist mindestens die Hälfte der Einwohner fast direkt mit der Uni verbunden. Wer also in einer dieser Städte unterwegs ist, trifft schon aus demografischen Gründen häufiger auf andere Studenten.
Dafür, dass Halle keine klassische Studentenstadt ist, sprechen auch die Mietpreise. Ja, diese steigen auch in Halle an – aber nicht in so drastischen Dimensionen wie in anderen Städten, in denen sich ebenfalls viele Akademiker niedergelassen haben. Die Miete pro Quadratmeter liegt stadtweit gemäß Mietspiegel noch immer unter 7 Euro – davon träumen Studenten in mancher (vornehmlich westdeutscher) Stadt nicht einmal mehr. Die jahrzehntelange oder gar jahrhundertealte Präsenz studentischen Lebens macht eine Stadt attraktiv – heute würden wir sagen: »hip«. Das führt automatisch zu einer Wertsteigerung. Gut zu beobachten war dies in den letzten Jahrzehnten in Berlin oder auch in Leipzig, wo ganze Stadtteile durch künstlerisches – oder eben »hippes« – Flair, das nicht selten durch die Anwesenheit von Studenten entstanden ist, einem radikalen Wandel unterzogen wurde. In diesem Zusammenhang fällt oft ein Begriff, der nicht stärker aufgeladen sein könnte und regelmäßig für Spannungen sorgt: Gentrifizierung. Dieser muss an dieser Stelle nicht noch einmal näher erörtert werden, und natürlich ist Halle nicht frei von diesem Prozess. Doch fällt oft unter den Tisch, dass diejenigen, die ein Viertel wieder aufblühen lassen, indirekt mit dafür verantwortlich sind, dass es dort zügig teurer wird. Denn in einem maroden Arbeiterviertel werden die Mieten wohl kaum innerhalb kürzester Zeit rapide steigen; in einer szenisch-künstlerischen Gegend hingegen schon.
Von der Blase kann keine Rede sein
Die im interkulturellen Austausch zweifellos versierte Organisation ESN (Erasmus Student Network) schreibt auf ihrer Homepage über unsere Stadt: »Durch die 20 000 Studenten, die in Halle leben, ist hier immer etwas los! Wo auch immer man hingeht, wird deutlich, dass Halle auf jeden Fall eine richtige Studentenstadt ist.« Auch in der hastuzeit konnte man diesen Begriff schon einmal lesen; gelogen ist dies sicherlich nicht. Komplett der Wahrheit entspricht es jedoch auch nicht. Natürlich findet sich jederzeit irgendwo in der Stadt ein Ort, an dem sich etwas erleben lässt. Alles andere würde jedoch auch der Definition von »Stadt« an sich zuwiderlaufen. Wer allerdings erwartet, dass man sich Abend für Abend zwischen fünf Partylocations entscheiden kann, ist wohl auf dem Holzweg. Mit Einbruch der Dunkelheit wird es hier sehr schnell sehr ruhig, was selbst dem nicht sonderlich feieraffinen Autor dieses Textes schnell aufgefallen ist. Gewiss gilt dies jedoch nicht nur für das studentische Leben in Halle. Auch die Tatsache, dass abends eine Wartezeit von bis zu zwanzig Minuten einkalkuliert werden muss, wenn man mit der Straßenbahn vom Bahnhof zum Marktplatz fahren möchte, sagt etwas über die Dynamik des öffentlichen Lebens in Halle zu fortgeschrittener Stunde aus.
Gewiss, ohne das studentische Leben und die bloße Präsenz einer Uni allein in der Altstadt sind kulturelle Einrichtungen wie das Neue Theater oder auch die Leopoldina schwer vorstellbar. Man mag sich kaum ausmalen, wie es um das hallische Kulturangebot bestellt wäre, gäbe es hier überhaupt kein studentisches Leben. Das betrifft sowohl Angebot als auch Nachfrage. Doch drängt sich der Eindruck auf, Halles Studentenschaft lebte weitgehend in ihrer studentischen Blase innerhalb der Stadtgrenzen. Eine echte Studentenstadt ist eine Blase für sich. Genau darin besteht der alles entscheidende Unterschied. Dieser Umstand liegt, auf Halle bezogen, in der Natur der Sache – die Saalestadt ist, so gewöhnungsbedürftig das auch klingen mag, einfach zu groß, um als reine Studentenstadt zu gelten. Nichtsdestotrotz ist sie ein Ort, an dem man »gut und gerne studieren« kann. Wer sich Halle manchmal doch ein klein wenig mehr wie Marburg, Münster oder Jena wünscht, wird von diesem Gedanken spätestens dann Abstand nehmen, wenn er den Immobilienmarkt betrachtet. Halle muss und soll keine Studentenstadt sein, um eine beneidenswert gute Adresse für Akademiker aus ganz Deutschland darzustellen.
Wer an der Anziehungskraft unserer Stadt noch immer zweifelt, dem empfehle ich, im Herbst des kommenden Jahres einmal aufmerksam die hauseigenen Pressemitteilungen unserer Universität zu studieren. Vielleicht ist ja ein Wettbüro in der Nähe?