Philosophie ist nur was für Philosoph:innen? Das stimmt nicht. Eine Einladung an alle, die Philosophie schon immer mal lesen woll­ten, aber sich dann doch nicht getraut haben.

Philosophie löst bei ver­schie­de­nen Menschen, die ich ken­ne, selbst wenn sie geis­tes­wis­sen­schaft­lich ver­an­lagt sind, oft kei­ne Begeisterungsstürme aus. So fra­gen bei­spiels­wei­se Historiker:innen ger­ne nach Historisierung, Sozialwissenschaftler:innen kri­ti­sie­ren einen eli­tä­ren Duktus und Naturwissenschaftler:innen fra­gen, was sie damit anfan­gen sol­len und so geht es mun­ter wei­ter. Dieser Artikel soll kein Essay wer­den, also wer­de ich auf Fußnoten, wort­rei­che Zitationen und Fachvokabular soweit es geht ver­zich­ten, wenn­gleich ich natür­lich ange­be, wenn Gedanken nicht von mir stam­men oder ich zitiere. 

Viele Verstimmungen

Zu den Verstimmungen: Auch wenn sie von Philosoph:innen oft negiert wer­den, so wer­de ich den Standpunkt ver­tre­ten, dass sie zumin­dest nicht völ­lig aus der Luft gegrif­fen sind, obwohl viel Verwirrung auf Missverständnissen und Fehlannahmen beruht. Der viel­leicht stärks­te Einwand, der von Nicht-Philosoph:innen und hin und wie­der Naturwissenschaftler:innen for­mu­liert wird, lau­tet: „Was bringt mir Philosophie? Was habe ich davon, mich mit Konzepten wie Leibniz’ Monaden und Platons Tugenden zu beschäftigen?“ 

Neulich gestand mir ein Kommilitone, dass ihm früh­neu­zeit­li­che Philosophie gar „eso­te­risch“ erschei­ne. Natürlich ist es leicht, dar­auf zu ver­wei­sen, dass die Frage nach einem Zweck, Sinn oder Nutzen der Philosophie an sich bereits der Philosophie ent­springt. Aber das wird einem Verschreckten oder Abgeneigten die Philosophie wohl kaum näher­brin­gen. Die Frage ist viel prak­ti­scher ver­an­lagt; es geht um Lebensrealitäten, um Erfahrungen aus Alltag, Beruf und Studium. Doch Szenarien, in denen man ein Gleis umstel­len muss, um Personen zu „ret­ten“ – in Form des alt­be­kann­ten Trolley-Problems, das Philippa Foot auf­warf – sind kei­ne all­täg­li­che Situation, nicht lebens­nah. Auch ist es für Physiker:innen schlicht nicht rele­vant, ob Stolpern eine Handlung oder ein Ereignis ist. Die Antworten auf die­se Beschwerden sind, wie ich bereits andeu­te­te, oft alles ande­re als hilfreich.

Wahrheit und Vertrauen

Bernard Williams schreibt in „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ ‑W&W) über ein zen­tra­les und sehr prak­ti­sches Problem — und das nicht nur für Historiker:innen (für die das Buch beson­ders emp­feh­lens­wert ist). Es geht um die Frage, wie sich Wahrheit in unse­rem Gebrauch eigent­lich ver­hält. Was braucht es, um von Wahrheit zu spre­chen? Und das klingt immer noch nicht lebens­nah, ist aller­dings genau das. Williams ord­net der Wahrheit Tugenden zu: „Aufrichtigkeit“ und „Genauigkeit“. „Aufrichtigkeit“ bedeu­tet, stark ver­ein­facht, nicht täu­schen zu wol­len, und „Genauigkeit“ beinhal­tet, tat­säch­lich wie­der­zu­ge­ben, was man für „wahr“ hält. Nun mag bereits dem einen oder der ande­ren Beschwerdeführer:in klar wer­den, wohin die Reise geht. 

Der Hut der Wahrheit

„Ich ver­spre­che dir, dich nicht zu ermor­den.“ (W&W). Dieser Ausspruch weckt kein Vertrauen, stellt er tro­cken fest. Es geht ihm dar­um, was Vertrauen beinhal­tet und dass es mit dem Ausschluss eines kon­kre­ten Schadens nicht getan ist. Derweil ist Vertrauen durch­aus eine Sache, die jeden Menschen, selbst wenn er von Moral nichts wis­sen will, beschäf­ti­gen muss, und sei es nur zu dem Zwecke, sich sel­bi­ges zu erschlei­chen. Vertrauensfragen betref­fen uns in allen Lebenssituationen. Ich ver­traue dar­auf, dass der Busfahrer nicht beschließt, den Motor abzu­stel­len und sich lie­ber wie­der hin­zu­le­gen. Ich ver­traue dar­auf, dass mei­ne Freunde mei­ne Geheimnisse nicht ver­ra­ten. Ich ver­traue dar­auf, dass sich mein Date an die Verabredung hält. Unterschiedliche Menschen wer­den das unter­schied­lich stark auf­fas­sen und somit auch, was als Vertrauensbruch zählt. Williams setzt sich mit Fragen zu die­sem Phänomen aus­ein­an­der. Sich Gedanken zu machen, wann man und wem man unter wel­chen Voraussetzungen ver­traut, kann einen vor Enttäuschungen bewah­ren. Es ermög­licht selbst kla­rer zu kom­mu­ni­zie­ren was man möch­te, wenn man sagt, dass man ihm oder ihr Vertrauen schenkt. 

Verstehen ist alles!

So ein­fach wer­den mich aber hart­nä­cki­ge Beschwerdeführer:innen nicht vom Haken las­sen und mir vor­hal­ten, dass dies ja alles rela­tiv sei, und dann sol­le man eben fest­le­gen, wie man ver­traut. „Na und? Was braucht man da Philosophie? Und über­haupt, was hilft es denn nun den Physiker:innen? Und was  meinst du, wenn du von Missverständnissen und Fehlannahmen sprichst?“ Hier ergibt sich eine beson­ders schö­ne Gelegenheit, erst ein­mal zu kon­sta­tie­ren, wohin uns die Argumentation geführt hat. Wir haben fest­ge­stellt, dass Fragen zu stel­len, die sich etwa kri­tisch mit der Philosophie aus­ein­an­der­set­zen, bereits Teil phi­lo­so­phi­schen Denkens ist. „Alle Philosophie beginnt mit einer Frage“, lässt sich oft ver­neh­men. Dort endet es aber nicht, ich muss auch ernst­haft nach einer Antwort suchen. Hier tref­fen wir auf das, was ich mit Missverständnis mein­te: Philosophieren beinhal­tet die Suche nach Antworten mit­hil­fe kri­ti­scher Reflexion. Das fasst Williams in „Ethics and the Limits of Philosophy“ (-ELP) etwas fach­sprach­li­cher als Rationalität zusam­men. Philosophische Probleme erge­ben sich aus Fragen, die wir uns in unse­rem Alltag stel­len, so wie wir es bereits beim Vertrauen gese­hen haben. Einem phi­lo­so­phi­schen Aufsatz sieht man oft nicht an, woher die Frage kommt. Wie kommtein:e Philosoph:in eigent­lich dazu, sich das zu fra­gen? Erkenne ich nicht, dass es hier um eine oder meh­re­re Fragen geht, oder beden­ke ich nicht, dass der:die Autor:in einer sol­chen Frage oft bereits mit dem Bestreben einer Antwort ent­ge­gen­tritt, erscheint das Vorhaben sinn- und ziellos. 

Voilà, da haben wir unser Missverständnis. Besonders ver­stärkt wird es, wenn Argumentationen sehr kom­plex wer­den und sich in ver­schie­de­ne Gedankenstränge auf­tei­len und dann auch für ande­re Philosoph:innen her­aus­for­dernd wer­den. Die tie­fe Auseinandersetzung ist dabei kei­ne Obsession, unter einer Buchseite eine meta­pho­ri­sche gol­de­ne Gans zu fin­den. Es ist der Anspruch wirk­lich nach­zu­voll­zie­hen, wor­auf die eige­nen Annahmen und Argumente eigent­lich beru­hen. Was heißt es, in letz­ter Konsequenz, wenn ich eine Behauptung auf­stel­le und eine ande­re Behauptung ableh­ne? Unbedarft und ohne Kontext sich ein sol­ches Werk der Philosophie her­aus­zu­su­chen und ver­ste­hen zu wol­len, ist in etwa so, als wür­de ich „Der Herr der Ringe“ begrei­fen wol­len, indem ich nur den zwei­ten Band lese und dar­aus auch nur die Abschnitte, in wel­chen Saruman erwähnt wird – ein witz­lo­ses Unterfangen. 

Philosophie in der (Natur-)Wissenschaft

Mit dem Blick auf die Frage, was Naturwissenschaftler:innen davon haben, kom­men wir nun auch einer Antwort wesent­lich näher. Wissenschaftler:innen suchen Wissen; ob sie es erzeu­gen, fin­den oder syn­the­ti­sie­ren, über­las­se ich ger­ne der jewei­li­gen phi­lo­so­phi­schen Denkschule. Wissen ist eng ver­bun­den mit Wahrheit, und schon lächelt uns Williams wie­der an. Wenn ich sage, dass ich etwas weiß, dann sage ich damit, dass ich es für wahr hal­te. Ich kann nicht wis­sen, dass der Mond lila ist, denn der Mond ist nicht lila. So eine Behauptung wür­de nur dann Sinn erge­ben, wenn ich tat­säch­lich Anhaltspunkte dafür hät­te, es für wahr zu hal­ten, dass der Mond lila ist. Schlussendlich kommt es wie­der auf Wahrheit an. Mit die­sen und ähn­li­chen Verbindungen setzt sich Williams aus­ein­an­der, wenn es auch dar­um geht, dass Behauptungen nicht wahr sein müs­sen und auch nicht in dem Glauben getä­tigt wer­den müs­sen, dass sie wahr sei­en (W&W). Für Naturwissenschaftler:innen liegt hier ein vita­ler Punkt ihrer Tätigkeit. Würde ein:e Naturwissenschaftler:in behaup­ten, er:sie wür­de ein ihm:ihr anver­trau­tes Problem in seinem:ihrem Fachbereich gar nicht ver­ste­hen wol­len, son­dern irgend­et­was ande­res, wür­den wir diese:n kaum mehr als Wissenschaftler:in betrach­ten. Die Physik kennt diver­se Konstanten und Formeln, die Mathematik ist, wenn­gleich sie als Strukturwissenschaft sehr fle­xi­bel ist, dar­auf ange­wie­sen, frü­her oder spä­ter Konditionen fest­zu­le­gen, wenn sie zu Erkenntnissen gelan­gen will. Als pla­ka­ti­ves Beispiel für eine sol­che Kondition etwa: 2+2=4, um es mit dem ver­stor­be­nen Michael Koser (Hörspielreihe: Professor van Dusen) zu sagen. Die Grundlagen die­ser Beschäftigung sind phi­lo­so­phi­sche Einsichten, Einwände und Modelle, die es erlau­ben, jene natur­wis­sen­schaft­li­chen Entdeckungen auf die­se Weise zu machen. Wer sich dar­auf beruft streng wis­sen­schaft­lich zu ver­fah­ren, beruft sich zwangs­läu­fig auf Prämissen und Argumente aus der Philosophie. Ich kann phy­si­ka­lisch weder argu­men­tie­ren noch bewei­sen, dass es für die Physik wich­tig sei, dass sie ver­sucht ihre Ergebnisse zu fal­si­fi­zie­ren. Ganz zu schwei­gen von der Frage, was ich etwa mit dem Wissen, wie man Atome spal­tet, anstel­len soll­te und was nicht.Philosophie und Naturwissenschaft sind eng mit­ein­an­der ver­bun­den. Es ist schlicht eine Fehlannahme zu den­ken, dass sie zu tren­nen sei­en und das eine dem ande­ren ent­ho­ben sei.

Moral und Moralphilosophie

Eine Frage aus den vor­he­ri­gen Überlegungen soll­te noch ange­spro­chen wer­den. Ich wer­de daher ver­su­chen eine klei­ne Brücke zu schla­gen und den Gedanken der Relevanz von Historie, mit dem sich Williams in W&W über die gan­ze Zeit aus­ein­an­der­setzt, mit der Wichtigkeit von Moralphilosophie zu ver­flech­ten. Die Frage danach, war­um jemand Philosophie und mora­lisch-ethi­sche Überlegungen für wich­tig und sogar hand­lungs­lei­tend begrei­fen soll­te, ist die Achillesferse der Moralphilosophie und Philosophie über­haupt, seit es sie gibt. Bereits Platon ver­such­te sei­nen bei­den erdach­ten Antagonisten, Kallikles und Thrasymachos etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Seitdem hat es sehr vie­le Antworten und Strategien gege­ben, die­se Achillesferse zu schüt­zen. Philosophen der (frü­hen) Neuzeit hat­ten etwa die sehr beque­me Möglichkeit sich mit Gott, gött­li­chen Geboten oder ähn­li­chem her­aus­zu­re­den – zumin­dest mir erscheint das kei­ne befrie­di­gen­de Antwort. Philippa Foot, eine Philosophin des 20. Jahrhunderts, stell­te fest, dass Menschen, die bewusst amo­ra­li­sche Dinge tun, sich selbst schä­dig­ten. Ihnen feh­le es grund­le­gend an Tugenden, die Foot als  rele­vant für das mensch­li­che Leben über­haupt hielt – ein natu­ra­lis­ti­scher Ansatz, der sich unter ande­rem auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquinberuft. Kant und moder­ne Kantianer set­zen dage­gen auf Rationalität und Würde, um die Relevanz von Moralphilosophie zu unter­strei­chen (Williams lässt sich in ELP zumin­dest ein Stück weit dar­auf ein). Und ich wäre ent­we­der ver­lo­gen oder sehr arro­gant zu mei­nen, eine Antwort zu haben; man möge mei­ne Argumentation dem­entspre­chend ver­ste­hen. Man merk­te (beim Schreibprozess) hier­zu an, dass das sehr hoff­nungs­los wir­ke und nicht klar wird war­um ich es für rele­vant hal­te in die­sem Kontext. All die hier auf­ge­zähl­ten Philosoph:innen und ihre Versuche die Relevanz von Moralphilosophie zu begrün­den hän­gen wesent­lich mit den Problemen zusam­men, die bei der Geschichtswissenschaft und in ande­ren Philosophiegattungen auf­tre­ten. In der Moralphilosophie ist die­ser Punkt in beson­de­rer Weise ver­hee­rend, weil wir auf sie ange­wie­sen sind, wenn wir zusam­men­le­ben wol­len. Unsere Regeln, unser Verhalten, unse­re Sitten basie­ren dar­auf, dass wir gemein­sa­me Werte, Ideale und Wünsche zumin­dest tole­rie­ren. Dieser spe­zi­ell gela­ger­te Fall der Frage nach Relevanz zeigt exem­pla­risch, dass es nicht tri­vi­al ist auf sie zu ant­wor­ten. Natürlich habe auch ich Überzeugungen und einen phi­lo­so­phi­schen Standpunkt, den ich vor ande­ren ver­tei­di­ge und ich hal­te ihn für über­zeu­gend. Das allein zu prä­sen­tie­ren wäre aber hier nicht gewinn­brin­gend. Die Frage stellt sich einer­seits nicht nur mir, son­dern hat eine Vielzahl von unter­schied­li­chen Antwortversuchen her­vor­ge­bracht, ande­rer­seits muss auch ich ein­se­hen, dass ich kei­ne abschlie­ßen­den Antworten geben kann. „Absolute Gewissheit obliegt den Narren und den Fanatikern“ wie es Dworkin so tref­fend auf den Punkt bringt. Ich, Wir und die Philosophie sind gezwun­gen sich mit der Frage war­um es sie braucht immer wie­der auseinanderzusetzen.

Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?

Die Geschichtswissenschaft hat ein ähn­li­ches Problem wie die Philosophie: auch sie gerät in Bedrängnis, wenn die Frage gestellt wird, war­um es wich­tig sei, sich mit ihr zu beschäf­ti­gen. Hier lie­fert Williams eine Antwort, die in mei­nen Augen mit der Begründung phi­lo­so­phi­scher Überlegungen zusam­men­hängt. Er resü­miert, dass Rationalität offen­bar selbst jene betref­fe, die an theo­re­ti­schen Überlegungen wenig Interesse zeig­ten oder sie gar für unwich­tig erach­ten. Zweifellos, auch ein Einbrecher muss, um erfolg­reich zu sein und sei­nem Tun eine gewis­se Nachhaltigkeit zu geben Strategien ent­wi­ckeln, Werkzeuge pas­send ein­set­zen und Gefahren für sich abschät­zen kön­nen. Wild den Hammer schwin­gend durch die Scheibe stür­men und sich ein­fach grei­fen, was auf dem Weg liegt, ist kei­ne lang­fris­tig erfolg­ver­spre­chen­de Strategie. Wahrscheinlich auch kei­ne all­zu pro­fi­ta­ble. Für Geschichte führt Williams in W&W an, dass es einen Unterschied macht, ob ich die Historie einer Sache betrach­te oder nicht, und dass es zu durch­aus unter­schied­li­chen Ergebnissen füh­ren kann. Das sieht man sehr deut­lich, wenn man dar­an denkt, dass in Deutschland die Meinungsfreiheit etwas ande­res bedeu­tet, als „Free Speech“ in den USA. Dworkin greift die­ses Problem auf, als er für „Free Speech“ argu­men­tiert, Deutschland aber wegen sei­ner Historie als eine ver­ständ­li­che Ausnahme betrach­tet. Hier auch der Bogenschlag zur Moralphilosophie. Wenn es Dworkin auch für grund­le­gend falsch hält, dass es in Deutschland jus­ti­zia­bel ist bestimm­te Dinge zu sagen oder zu zei­gen kann es den­noch über­zeu­gend begrün­det wer­den. Moralische Ansprüche und damit auch juris­ti­sche Maßnahmen wer­den hier als rele­vant erach­tet auf­grund einer dahin­ter lie­gen­den Geschichte. Dem Narrativ (ganz wert­frei ver­stan­den), dass das Zulassen bestimm­ter Äußerungen und das Zeigen bestimm­ter Symbole mehr Schaden anrich­tet, als das Verbot die­ser Äußerungen und Symbole, obwohl es ein Eingriff in die per­sön­li­che Freiheit ist. 

Es ist aber wahr­schein­lich sogar noch sub­stan­zi­el­ler. Unsere Identität grün­det sich auf Erzählungen, auf Geschichten, wenn auch nicht auf Geschichtswissenschaft. Wir erzäh­len, wer wir sind, indem wir  über unse­re Vergangenheit erzäh­len. Worauf wir stolz sind und wor­auf nicht. Auch für Argumente ist es, wie bereits mit Dworkin auf­ge­zeigt, rele­vant. Selbst für Naturwissenschaftler:innen ist Historie etwas Unabdingbares, auch wenn das oft nicht deut­lich wird. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt auf, wel­che Gedankengänge zu wel­chen Ergebnissen geführt haben. Einige Entdeckungen und auch Fehlannahmen sind nicht zu erklä­ren, wenn man ihnen nicht die nöti­ge Historie zuordnet.

Denken ist wie Kleber

Zugegeben, die Gedankengänge zu  Philosophie und Geschichtswissenschaft schei­nen wenig mit­ein­an­der zu tun zu haben, und doch sind sie an einem zen­tra­len Punkt, in mei­nen Augen, ver­bun­den. Beide gehen davon aus, dass wir nach­den­ken, dass wir unser Handeln, unser Fühlen ver­ste­hen und erklä­ren wol­len, sei es auch aus Eigennutz. Wenn wir nicht wie Peinkofers Orks ein­fach auf alles ein­schla­gen wol­len, was uns in den Weg kommt, führt dar­an kein Weg vor­bei. Und sowohl Philosophie als auch Geschichte sind bei Überlegungen nicht weni­ger not­wen­dig als Mathematik oder Biologie, wie an vor­aus­ge­hen­den Beispielen gezeigt. Ignoriere ich sie, lau­fe ich Gefahr, mir aus Ignoranz selbst zu schaden. 

Ich kann nicht ein­fach fest­le­gen, was für mich Vertrauen ist und was nicht, weil sich dies nur in Bezug auf ande­re Menschen und kon­kre­te Handlungen fest­stel­len lässt. Ganz nach Hume  sind alle mensch­li­chen Handlungen auf­ein­an­der bezo­gen und damit auch, was es für mich bedeu­tet zu ver­trau­en. Wer meint, man kön­ne dies alles ein­fach für sich fest­le­gen und das war‘s, wird bei­spiels­wei­se in einer Partnerschaft schnell erle­ben, wie dies als Bumerang zurück­kommt. Etwas zu tun und dann zu sagen: „Ich habe das so für mich bestimmt.“ wird für die Wenigsten eine über­zeu­gen­de Antwort sein und wohl (im bes­ten Fall) noch mehr Fragen aufwerfen. 

Steckt Philosophie drinnen, auch wenn es nicht drauf steht

Ein Phänomen ist mir dabei begeg­net, als ich mit einer Autorin über ihre Novelle „LevelUp — Von Freunden und Feinden“ sprach. Ich mein­te, es gebe dort sehr vie­le phi­lo­so­phi­sche Gedanken und Positionen, wor­auf die­se mir ent­geg­ne­te, dass sie nie phi­lo­so­phi­sche Werke gele­sen habe. Verschiedene Gedanken sei­en ihr beim Lesen von Büchern oder beim Anschauen von Filmen gekom­men. Als ich ihr sagen konn­te, woher eini­ge die­ser Gedanken ursprüng­lich kom­men, war sie fas­zi­niert. Das hat mich lan­ge beschäf­tigt und mir ein Problem vor Augen geführt, das eini­ge der Missverständnisse erklärt, die ich ver­sucht habe auszuräumen. 

Philosophie lässt sich über­all finden

Philosophische Gedanken sind den meis­ten Menschen nicht fremd, auch nicht eigent­lich. Sich über Ideale und Werte klar zu wer­den und es wich­tig zu fin­den, für sie ein­zu­ste­hen, erscheint vie­len Menschen rele­vant. Das oppor­tu­nis­ti­sche Verleugnen eige­ner Ideale, wenn die­se gera­de nicht bequem sind, ver­ur­teilt man. Ein gutes Leben füh­ren will jeder. In Filmen, Büchern und Bildern wer­den wir täg­lich mit phi­lo­so­phi­schen Gedanken kon­fron­tiert. Warum wird Philosophie dann der­art ver­kannt? Meine recht pro­fa­ne Antwort lau­tet: Weil sie für vie­le nicht dort fass­bar und erfahr­bar wird, wo sie bereits ist. Bildlich könn­te man an eine Person den­ken, die eine Sehschwäche hat, aber davon nichts weiß. Diese Person erkennt wesent­lich weni­ger, hält das aber gleich­zei­tig für nor­mal. Menschen zu zei­gen, wo Philosophie in ihrem eige­nen Leben prä­sent ist, wäre ein adäqua­tes Mittel. Und mit Verlaub, unser Ethik- und Philosophieunterricht trägt, in mei­nen Augen, momen­tan herz­lich wenig dazu bei, dar­an etwas zu ändern.

Nicht einfach, aber anschaulich

Philosophie braucht Philosoph:innen, die sie erklä­ren, die kom­ple­xe Gedankengänge greif­bar und erfahr­bar machen und es ermög­li­chen, sich Philosophie zu nähern. Ohne die­se zu stu­die­ren oder sehr viel freie Zeit zu haben. Platt gespro­chen lau­tet mein Appell, die Liebe zur Weisheit auch ande­ren näher zu brin­gen, ohne sie mit ihrer Weisheit zu erschla­gen. Williams mag nicht ein­fach zu ver­ste­hen sein und ich wür­de lügen, wenn ich behaup­te­te, dass ich „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ auch nur zu gro­ßen Teilen durch­drun­gen hät­te. Und den­noch hat sein Werk Humor und ent­hält vie­le Gedanken, die vom Grundsatz nahe lie­gen. Williams schafft es, die­se Gedanken sehr anschau­lich und mit vie­len klei­nen Seitenblicken aus­zu­rol­len und zu durch­leuch­ten. Ich habe es ger­ne gele­sen, ohne mich durch die Kapitel zu quä­len oder die Seiten zu zäh­len. Bei mei­ner Frau muss ich mich wohl ent­schul­di­gen, der ich mehr als ein­mal begeis­tert eines von Williams Argumenten vor­stell­te und die das über sich erge­hen ließ. 

Omne ignotum, pro magnifico!

Aber was ist, wenn ich das alles nicht ver­ste­he? Professor Schnepf hat in einer sei­ner Vorlesungen ein­mal gesagt, dass man sich nicht grä­men soll­te, wenn man einen Text nicht beim ers­ten Mal Lesen ver­steht, dann liest man ihn eben spä­ter noch ein­mal, und mit jedem Lesen mehrt sich das Verständnis. Sir Arthur Conan Doyle bringt es in Gestalt von Sherlock Holmes (auch wenn es ursprüng­lich von Tacitus stammt) in „Der Club der Rothaarigen“ auf das Motto (inzwi­schen ist es auch mei­nes): „Omne igno­tum pro magni­fi­co!“ – Alles Unbekannte gilt als wunderbar!

Text: Marten Spelsberg
Illustrationen: Rika Garbe

In die­sem Artikel auf­ge­grif­fe­ne Philosoph:innen und ihre Werke (alpha­be­tisch)
David Hume – Eine Untersuchung über den mensch­li­chen Verstand, Erster Teil, Abschnitt VIII
Bernard Williams – Ethics and the Limits of Philosophy
Bernard Williams – Wahrheit und Wahrhaftigkeit
Donald Davidson – Handlung und Ereignis, Kapitel 3
Gottfried Wilhelm Leibniz – Monadologie
Karl Popper – Logik der Forschung
Philippa Foot – Die Natur des Guten
Philippa Foot – The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect
Platon – Der Staat
Platon – Gorgias
Ronald Dworkin – Gerechtigkeit für Igel
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