Wer in ein­er Großs­tadt auf der Suche nach Ruhe und Natur ist, sucht in erster Lin­ie Parks auf – oder ver­lässt die Stadt ganz. Dabei gibt es eine oft ver­nach­läs­sigte Alter­na­tive: Fried­höfe wie der Ger­trau­den­fried­hof in Halles Nor­den oder der Süd­fried­hof lock­en mit viel Grün, Stille und Ein­samkeit.

»Man kön­nte viele Beispiele für unsin­nige Aus­gaben nen­nen, aber keines ist tre­f­fend­er als die Errich­tung ein­er Fried­hof­s­mauer. Die, die drin­nen sind, kön­nen sowieso nicht hin­aus, und die, die draußen sind, wollen nicht hinein.« Es fällt schw­er, einem Schrift­steller vom Pro­file eines Mark Twain zu wider­sprechen. Doch hin und wieder ist genau das nötig, näm­lich dann, wenn selb­st dieser große amerikanis­che Erzäh­ler einem offen­sichtlichen Irrtum erlegen ist.

Konkret angezweifelt wer­den müssen auch nur die let­zten sieben Worte des genan­nten Zitats – zudem ist zu beacht­en, dass Twain bere­its 1910 gestor­ben ist und somit keine Gele­gen­heit mehr erhal­ten sollte, den Ger­trau­den­fried­hof in Halle zu besuchen. Andern­falls hätte er diese törichte Aus­sage wohl kaum tre­f­fen kön­nen. Twain hätte nur ein paar Jahre älter wer­den müssen, um the­o­retisch noch eine Chance haben zu kön­nen, den frisch errichteten Ger­trau­den­fried­hof in Halles Stadtvier­tel Landrain ein­mal zu sehen.

Foto: Alexan­der Kullick

Vier Jahre nach Twains Tod ende­ten zunächst die Bau- und Gestal­tungsar­beit­en des Are­als, das in erster Lin­ie den Zweck hat­te, den Süd­fried­hof zu ent­las­ten (welch­er 1887 selb­st auch schon zum Zwecke der Ent­las­tung errichtet wurde). In den Jahrzehn­ten zuvor stieg die Bevölkerungszahl Halles wie in fast allen deutschen Städten ras­ant an; lebten 1880 noch gut 70 000 Men­schen in der Saalestadt, waren es 30 Jahre später bere­its 2,5‑mal so viele – Halle war zur Großs­tadt gewor­den. Trotz der eben­falls ansteigen­den Lebenser­wartung kam es dadurch natür­lich zu deut­lich mehr Todes­fällen, was nach zusät­zlichen Kapaz­itäten im Bestat­tungswe­sen ver­langte. Ent­wor­fen wurde der Gertrauden­friedhof vom hal­lis­chen Stadt­bau­rat Wil­helm Jost, dessen eigenes Grab sich heute auch in dieser Anlage find­en lässt.

Wenn man will, kann man sich in Windeseile verlaufen

Der 1914 fer­tiggestellte und in den fol­gen­den Jahrzehn­ten immer wieder erweit­erte Fried­hof lädt förm­lich dazu ein, sich zu ver­laufen – was nicht als Kri­tik an sein­er architek­tonisch-gestal­ter­ischen Form aufz­u­fassen ist. Ganz im Gegen­teil: es gibt wohl kaum etwas Reizvolleres als einen Spazier­gang auf einem Gelände von dieser schi­er unüberblick­baren Weite. Wer wie der Autor dieses Textes über ein begren­ztes Ori­en­tierungsver­mö­gen ver­fügt, hat oft Grund genug, sich über diesen ärg­er­lichen Umstand zu bekla­gen – auf den mal allee­bre­it­en, mal pfad­haft schmalen Wegen dieses Fried­hofs wird genau dies zum Vorteil. Der irra­tionale, aber den­noch existierende angstvolle Gedanke des Auf-ewig-ver­schollen-Gehens beim Spazier­gang in Wäldern kann hier­bei eben­falls aus­geklam­mert wer­den, da die von Mark Twain mit verächtlichem Amüse­ment bedacht­en Mauern des Fried­hofs den sor­glosen Fla­neur stets davor bewahren, diesem Szenario zu erliegen.

Foto: Alexan­der Kullick 

Die Wege des Ger­trau­den­fried­hofs hat man dabei meist für sich allein; man erschrickt inner­lich beina­he ein wenig, wenn dreißig Meter ent­fer­nt, in einem beson­ders wilden Abschnitt, eine Katze den Pfad kreuzt und fest­gestellt wer­den kann, dass es diesem kleinen Wesen offen­bar genau­so erg­ing. Die Gedanken spie­len schon so ver­rückt, dass man auf die Ferne in diesem Tier fast einen kleinen Luchs zu erken­nen glaubt. Doch bevor es gelingt, sich zur endgülti­gen Ver­i­fizierung dieser steilen These auf eine für Bril­len­träger annehm­bare Dis­tanz zu begeben oder gar auf dem Smart­phone zu googeln, ob sich die sach­sen-anhaltische Luchspop­u­la­tion nun auch schon nach Halle gewagt hat, ver­schwindet dieses mys­ter­iöse Wesen im Dic­kicht des Weges­ran­des. Auch Men­schen, zumin­d­est die lebende Vari­ante dieser Spezies, trifft man hier und auf den meis­ten anderen größeren Fried­höfen eher sel­ten an. Wer durch diese Tat­sache glück­lich ges­timmt wird, ist an diesem Ort zwis­chen kun­stvollen Gräbern und zum Ver­weilen ein­laden­den Bänken genau richtig. Falls es aber doch ein­mal der Ein­samkeit zu viel wer­den sollte, ist die Zivil­i­sa­tion auch nie weit; schließlich befind­et man sich nach wie vor auf dem Gelände ein­er Großstadt.

Kann man bald »auf dem Friedhof« wohnen?

Die meis­ten Men­schen wer­den einen Fried­hof zweifel­los dann auf­suchen, wenn sie einen kür­zlich Ver­stor­be­nen auf sein­er »let­zten Reise« begleit­en, aber auch, wenn sie dessen Grab in den Monat­en, Jahren und Jahrzehn­ten darauf besuchen. Doch selb­st wenn man keinen Toten zu bekla­gen hat, sei es einem ans Herz gelegt, diesen Ort hin und wieder ein­mal aufzusuchen. Die philosophisch Ver­an­lagten kön­nen hier Gedanken rund um Leben und Tod schweifen lassen, und diejeni­gen, die ein­fach nur Ruhe vom städtis­chen Trubel suchen, wer­den sie hier mit Gewis­sheit vorfind­en. Natür­lich kann man es sich auch mit der neuesten Aus­gabe der favorisierten Studierenden­zeitschrift auf ein­er der Bänke bequem machen.

Foto: Alexan­der Kullick 

Doch weil auch ein Ort der ver­meintlichen Ewigkeit nur ein Kind sein­er Zeit ist, ist es ungewiss, ob dies über­all so bleiben wird. Da Ver­stor­bene oder deren Hin­terbliebene sich ver­mehrt zu ein­er Urnenbestat­tung entschließen, bleiben auf Halles Grabfeldern (die Stadt ver­fügt über beina­he 20) zunehmend Flächen leer. Für Auf­se­hen sorgte 2017 das Vorhaben der Stadtver­wal­tung, den wenn auch mit 0,36 Hek­tar sehr kleinen Fried­hof in Seeben in den näch­sten Jahrzehn­ten teil­weise in einen Spielplatz umzuwan­deln und die beste­hen­den Gräber bis 2038 zu ent­fer­nen; aktuell find­en dort durch­schnit­tlich lediglich sieben Bestat­tun­gen pro Jahr statt. Ambi­tion­iert­ere Pläne existieren der­weil für den ungle­ich größeren Ger­trau­den­fried­hof: Im nördlichen Teil des Gelän­des, der bish­er für keine Beerdi­gun­gen genutzt wurde, kön­nten in Zukun­ft Neubaut­en entste­hen, so die Stadtverwaltung.

Wenn das noch Mark Twain erleben könnte …

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