Hach ja, die schö­nen Erstibeutel. Jedes Wintersemester set­zen sich aufs Neue flei­ßi­ge Mitarbeiter:innen und Student:innen der Uni zusam­men und fül­len die toll­ten Tüten für die neu­en Erstis … Moment mal, die Beutel wer­den gar nicht von Freiwilligen, son­dern in aus­beu­te­ri­schen Verhältnissen gepackt?

Jedes Wintersemester wer­den auf dem Campus der Universität die über­aus belieb­ten Welcome-Bags an die neu­en Erstis ver­teilt. Das pas­siert nicht nur hier in Halle, son­dern auch an der benach­bar­ten Uni Leipzig. Wiederfinden las­sen sich in die­sen Beuteln neben etwai­gen Werbeflyern auch klei­ne­re Snacks, Gutscheine, Stifte und mit etwas Glück sogar die Studi-Essentials schlecht­hin: Eine Ausgabe der has­tu­zeit, ein Bier und ein Kondom. Um die Erstibeutel mit eige­nen Werbeartikeln bestü­cken zu las­sen, ist dabei eine Zahlung an den Kulturfalter not­wen­dig. Diese in Halle ansäs­si­ge Firma nimmt unter ande­rem Werbeaufträge zum Plakatieren oder Verteilen von Flyern an. Daneben ist sie aber auch für die Welcome-Bags der Unis Halle und Leipzig zustän­dig. Der Catch: Die Bags wer­den nicht von den Mitarbeitenden selbst, son­dern in soge­nann­ten Werkstätten für Menschen mit Behinderungen gefüllt.

Daran übte zuletzt der Stura hef­ti­ge Kritik. Sollte der Kulturfalter die Beutel wei­ter­hin in die­sen Werkstätten packen las­sen, so lau­tet der mehr­heit­lich ver­ab­schie­de­te Beschluss, wird der Studierendenrat die­se in Zukunft boy­kot­tie­ren. Genauer heißt das also, dass der Vertrag zwi­schen Stura und Kulturfalter über zwei Werbeplätze in den Tüten auf­ge­kün­digt wird. Ein Novum ist das jedoch nicht. Auch die Leipziger Studierendenvertretung hat im ver­gan­ge­nen Jahr ange­kün­digt, ihren Vertrag mit der hal­li­schen Firma nach dem Auslaufen nicht erneu­ern zu wollen.

Kein-Welcome-Bag

Verhandlungen mit der Marketingabteilung der MLU sowie dem Kulturfalter blie­ben glei­cher­ma­ßen erfolg­los. Das Rektorat will auch wei­ter­hin an die­ser Praxis fest­hal­ten und die Erstibeutel in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen befül­len las­sen. Der Kulturfalter warf indes den Vorschlag ein, so berich­te­ten die Verantwortlichen wäh­rend einer ordent­li­chen Sitzung, der Stura kön­ne sei­nen Beschluss zurück­zie­hen und statt­des­sen die Mitarbeiter:innen der Werkstätten auch in wei­te­re Tätigkeiten, bei­spiels­wei­se die Verteilung der Bags inte­grie­ren. Diese Option schließt der Studierendenrat jedoch momen­tan wie auch zukünf­tig aus.

Das Geld bleibt aus

Personen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt zu inte­grie­ren und dazu die Möglichkeit zu bie­ten, Geld zu ver­die­nen – das klingt doch ganz gut. Das mag auf den ers­ten Blick stim­men. Schaut man jedoch genau­er hin, wer­den gewal­ti­ge Defizite erkenn­bar. So haben Beschäftigte in eben die­sen Werkstätten nicht den Status als Arbeitnehmer:innen, son­dern befin­den sich bloß in einem soge­nann­ten arbeitnehmer:innenähnlichen Rechtsverhältnis. Konkret bedeu­tet das, dass Beschäftigte kei­nen Anspruch auf einen gesetz­li­chen Mindestlohn, son­dern ledig­lich ein Arbeitsentgelt haben. Dieses setzt sich laut Sozialgesetzbuch aus einem Grundbetrag, Steigerungsbetrag und gege­be­nen­falls einem Arbeitsförderungsgeld zusammen.

Auf das Arbeitsförderungsgeld (AFöG) haben in Werkstätten täti­ge Menschen mit Behinderungen Anspruch. Es beträgt 52 Euro im Monat, sofern das Arbeitsentgelt ein­schließ­lich der Förderung pro Monat nicht höher als 351 Euro ist. Dieser Betrag wird jedoch im Schnitt sel­ten über­schrit­ten. 222 Euro ver­die­nen Beschäftigte laut einer Statistik aus dem Jahr 2022 monat­lich im deutsch­land­wei­ten Durchschnitt. Das ent­sprä­che bei einer Vollzeitstelle einem Stundenlohn von gera­de ein­mal 1,38 Euro – und tat­säch­lich ist hier im Monat eine Arbeitszeit von 35 bis 40 Stunden ange­setzt. Dass das selbst in einer Stadt mit ver­gleichs­wei­se nied­ri­gen Lebenshaltungskosten wie Halle vor­ne und hin­ten nicht reicht, soll­te für nie­man­den eine Überraschung sein. Viele Menschen mit Behinderungen sind daher auch trotz fes­ter Stelle in einer Werkstatt auf Sozialleistungen durch den Staat ange­wie­sen. Dazu zäh­len bei­spiels­wei­se Mietzuschüsse oder eine Grundsicherung. Zu erwäh­nen ist auch, dass die Werkstätten finan­zi­ell bestimm­te Pflegeleistungen übernehmen.

„Es gibt auf­fal­len­de Unterschiede bei den Fallkosten zwi­schen den west­deut­schen (im Mittel 18 426 Euro) und den ost­deut­schen Flächenländern (im Mittel 14 180 Euro).“ – BAGüS

Einem Bericht im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft der über­ört­li­chen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS) zufol­ge erhiel­ten die Werkstätten im Jahr 2020 pro beschäf­tig­ter Person Fallkosten in Höhe von 17 593 Euro vom Staat. Bei einem Jahresentgelt von hoch­ge­rech­net 2664 Euro – auf dem pri­mä­ren Arbeitsmarkt ein Monatsgehalt – bleibt da immer noch eine gewal­ti­ge Differenz. Das liegt dar­an, dass für die Vergütung der Beschäftigten nur etwa drei Prozent die­ser Fallkosten ein­ge­plant sind. Zehn Prozent sind vor­ge­se­hen für die Fahrtkosten von und zu den Werkstätten, elf Prozent für Sozialversicherungsbeiträge und gan­ze 76 Prozent für die nicht-behin­der­ten Werkstattträger:innen sowie Mitarbeiter:innen, etwa in der Verwaltung.

Die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2006, wel­che 2009 auch von Deutschland rati­fi­ziert, also offi­zi­ell aner­kannt wur­de, gesteht Menschen mit Behinderungen das Recht zu, ihren Lebensunterhalt in einem frei gewähl­ten Arbeitsplatz zu erwirt­schaf­ten. Kritiker:innen sehen in der Praxis der Werkstätten nun einen Bruch die­ses Rechts. „Die alter­na­tiv­lo­se Arbeit in [Werkstätten für Menschen mit Behinderungen] ist meist nicht frei gewählt und die Beschäftigten kön­nen ihren Lebensunterhalt damit nicht bestrei­ten“, heißt es vom Projekt JOBinklusive der Sozialhelden e. V.

Parallelwelt Werkstätten

Auch die Grünen-Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Katrin Langensiepen, kri­ti­siert, die Werkstätten grenz­ten Menschen mit Behinderungen aus, statt sie aktiv in den Arbeitsmarkt zu inte­grie­ren. Die als Einrichtungen der beruf­li­chen Rehabilitation gel­ten­den Arbeitsstätten sol­len den Beschäftigten einen ein­fa­chen Übergang zum all­ge­mei­nen Arbeitsmarkt ermög­li­chen, tun dies jedoch äußerst sel­ten. Die neus­ten zur Verfügung ste­hen­den Zahlen von 2020 zei­gen: Im Jahr sind ledig­lich 80 Beschäftigte aus dem Berufsbildungsbereich der Werkstätten in den all­ge­mei­nen Arbeitsmarkt gewech­selt – und das auf fast 280 000 Menschen mit Behinderungen in die­sen Einrichtungen. 2019 waren es noch 57 auf knapp 295 000 Beschäftigte. Der Deutschlandfunk kari­kiert die Werkstätten ganz tref­fend als „Abstellgleis“.

Ein wei­te­rer Faktor der Ausgrenzung: Arbeitgeber:innen mit min­des­tens 20 Arbeitsplätzen müs­sen zu gerings­ten­falls fünf Prozent schwer­be­hin­der­te Menschen beschäf­ti­gen. Diesen steht bei­spiels­wei­se ein Sonderurlaub oder ein beson­de­rer Kündigungsschutz zu. Bleiben die­se Stellen unbe­setzt, so haben die Unternehmen eine Ausgleichszahlung zwi­schen 140 und 720 Euro pro nicht beschäf­tig­ter schwer­be­hin­der­ter Person zu ent­rich­ten. Beauftragen Unternehmen Werkstätten mit der Herstellung bestimm­ter Teile oder ande­ren Arbeitsschritten, lässt sich das von der Zahlung abziehen.

Schlechte Aussichten

Unter bestimm­ten Bedingungen lässt sich die­se zeit­wei­se jedoch auch kom­plett umge­hen – mit­hil­fe der soge­nann­ten Außenarbeitsplätze. In die­sem Fall beset­zen die Beschäftigten außer­halb ihrer Werkstatt betriebs­in­te­grier­te Arbeitsplätze, um die dor­ti­gen Fachkräfte zu ent­las­ten und klei­ne­re Aufgaben zu über­neh­men. Die Betreuung und Bezahlung lau­fen jedoch wei­ter­hin über die jewei­li­ge Werkstatt. Der:die Arbeitgeber:in bezahlt also nicht die Menschen mit Behinderungen selbst, son­dern leis­tet Zahlungen an die Werkstatt.

Mit der Kritik kon­fron­tiert, bestä­tigt auch ein Werkstattträger selbst in einem Interview mit der Kreiszeitung, dass Werkstätten für Menschen mit Behinderungen eher eine Parallelwelt bil­den, statt als Integrationseinrichtung in den pri­mä­ren Arbeitsmarkt zu die­nen. Dies sei in Einzelfällen zwar ange­bracht, lie­gen bei­spiels­wei­se bestimm­te see­li­sche Behinderungen vor, einem inte­gra­ti­ven Leitgedanken ent­sprä­che es jedoch nicht. Die Schuld dafür sieht er indes nicht allei­ne bei den Werkstätten, son­dern auch bei den Arbeitgeber:innen des all­ge­mei­nen Arbeitsmarktes. Die Löhne hal­te er eben­falls für zu gering, sehe das Problem jedoch in einer zu gerin­gen Bezuschussung der Einrichtungen.

Das meinen Beschäftigte

Im Netz kur­sie­ren zahl­rei­che Erfahrungsberichte über die Arbeit in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Ein User schil­dert, wie er neben den über­nom­me­nen Fahrtkosten nur etwas über 80 Euro im Monat ver­dient hät­te. Die Betreuer:innen sei­en indes äußerst her­ab­las­send mit den Beschäftigten umge­gan­gen. Ihm hät­ten fer­ner Rückzugsmöglichkeiten und Abwechslung im Arbeitsalltag gefehlt. Den Arbeitenden wer­de ledig­lich „extrem stu­pi­de“ und „zermürbend[e]“ Aufgaben zuge­mu­tet, meint ein wei­te­rer User.

„[Ich] fin­de es toll, wie ich hier geför­dert und unter­stützt wer­de“, heißt es hin­ge­gen von einem Beschäftigten im Online-Interview mit Diakoneo. Er habe das Gefühl, sich dort per­sön­lich und beruf­lich wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Da die Körperschaft des öffent­li­chen Rechts Dia­koneo jedoch selbst als Werkstattträgerin fun­giert, ist die­ser Bericht unter Vorbehalt zu betrach­ten, da er gleich­wohl zur Imagepflege gedacht sein könnte.

Text: Till Menzel

Illustrationen: Rika Garbe

Kommentar: Till Menzel

Kommentar: Hand aufs Herz
Die Bezahlung in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen ist zu nied­rig, das steht fest. Sowohl das euro­päi­sche Parlament als auch der Fachausschuss der UN für die Rechte von Menschen mit Behinderungen haben sich in der Vergangenheit schon dafür aus­ge­spro­chen, die Werkstätten abzu­schaf­fen. Doch auch das wäre falsch, sind die Zielsetzungen und Prämissen hin­ter dem Konzept doch rich­tig: Menschen mit schwe­ren wie leich­te­ren Behinderungen als Rehabilitationseinrichtungen die Möglichkeit zum nied­rig­schwel­li­gen Einstieg in den all­ge­mei­nen Arbeitsmarkt bie­ten. Das wird jedoch in den meis­ten Fällen nicht erfüllt.

Es gibt viel zu refor­mie­ren: Die Löhne müs­sen stei­gen, Beschäftigte müs­sen in ein tat­säch­li­ches Arbeitnehmer:innenverhältnis tre­ten und Unternehmen müs­sen end­lich stär­ker in die Pflicht genom­men wer­den, Menschen mit Behinderungen in den all­ge­mei­nen Arbeitsmarkt zu inte­grie­ren –
ohne die Möglichkeit auf einen moder­nen Ablasshandel, wie es im ZDF-Format „Die Anstalt“ for­mu­liert wur­de, und ohne die Möglichkeit, die­ser Verpflichtung durch Aufträge an Werkstätten und Außenarbeitsplätze zu ent­ge­hen. Denn so wie es ist, ist das System äußert ableis­tisch. Das gilt es zu ändern – und dabei sind auch Boykotte ein legi­ti­mes Mittel.
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