Dies ist die Geschichte einer beson­de­ren Tochter Halles. Sie führt vor­bei an har­ten Schulbänken, stau­bi­gen Straßen und pro­phe­ti­schen Ekstasen, an Spinnrädern, Schlachtfeldern und Klöstern und durch das Bett der ein oder ande­ren Frau. Es ist eine Biografie, die ihres­glei­chen sucht.

Schweinemist – das war wohl das ers­te, was einem Ende des 17. Jahrhunderts in Glaucha in die Nase stieg. Dazu misch­ten sich die Gerüche wei­te­res Unrats und der all­ge­gen­wär­ti­ge Hauch von Alkohol. Der Dreißigjährige Krieg wirk­te auch Jahrzehnte spä­ter noch nach, beson­ders im heu­ti­gen Mitteldeutschland hat­te er stark gewü­tet. Mehr als die Hälfte der Glauchaer:innen war in die­ser Zeit gestor­ben und gera­de, als sich die Bevölkerungszahl erholt hat­te, raff­te eine Pestepidemie 1682 noch ein­mal über die Hälfte von ihnen dahin. Kaum jemand der Bewohner:innen besaß den Grund, auf dem sie leb­ten, sodass wenig Möglichkeit zur Landwirtschaft bestand. Die Ortschaft – heu­te Teil der Südlichen Innenstadt – genoss jedoch eini­ge Privilegien, die ihr das Madgeburger Erzbistum im Laufe des Spätmittelalters zuge­spro­chen hat­te: Neben dem Recht, Tiere zu mäs­ten und deren Fleisch zu ver­kau­fen, war vor allem die Schnapsbrennerei und der erlaub­te Ausschank frem­der Biere ent­schei­dend für die Demografie der Gegend. Ende des 17. Jahrhunderts waren hier 37 der 160 Häuser Schankstuben – der Ort war eine ein­zi­ge Kaschemme. Auch aus dem benach­bar­ten Halle ström­ten die Menschen zum Saufen in die Glauchaer Schankhäuser, „dar­in­nen täg­lich die grös­ses­ten Bosheiten und Ueppigkeiten ohne Scheu getrie­ben wur­den.“, wie es der Chronist Johann Christoph von Dreyhaupt 50 Jahre spä­ter noch beschrieb. Die Gegend war geprägt von Krankheiten, Kriminalität, hoher Kindersterblichkeit, kaum Bildung, „sitt­li­cher Verwahrlosung“ und vor allem: ekla­tan­ter Armut. Selbst der Klerus war kor­rupt. Im Oktober 1691 wur­de der Pfarrer Johannes Richter fest­ge­nom­men und sus­pen­diert, weil er im Beichtstuhl sexu­el­le Gefälligkeiten gefor­dert hat­te. Seine Stelle über­nahm ein Mann, der nicht nur Glaucha auf lan­ge Zeit prä­gen soll­te: August Hermann Francke.

In Anbetracht des Elends um ihn her­um beschloss Francke, etwas zu ver­än­dern. Ostern 1695 grün­de­te er eine Armenschule und begann ein hal­bes Jahr spä­ter mit der Versorgung von Waisenkindern. Im Herbst 1696 hat­te er 17 Kinder unter sei­nen Fittichen, zwei Jahre spä­ter waren es bereits über 100. Es war der Beginn einer zu jener Zeit bei­spiel­lo­sen sozia­len Initiative – heu­te bekannt als die Franckeschen Stiftungen. Doch wid­men wir uns nun der Lebensgeschichte jenes 17. Kindes, dem der Pfarrer sei­ne Türen im November 1696 öffnete.

Ein erster Versuch

Dass Catharina Margaretha Linck ins Franckesche Waisenhaus und die dazu­ge­hö­ri­ge Schule auf­ge­nom­men wird, ist für sie ein nahe­zu unmög­li­ches Glück. Ihre Mutter Magdalena ist eine ver­wit­we­te Marketenderin, die ursprüng­lich aus Schönebeck stammt und jetzt also mit Militärkolonnen reist und den Soldaten ver­schie­de­ne Waren feil­bie­tet. Einer von ihnen ist wohl auch der Vater ihrer Tochter, wel­che sie im Mai 1687 gebiert und evan­ge­lisch tau­fen lässt. Neuneinhalb ver­mut­lich sehr unste­te Jahre spä­ter erhält Madgalena Linck eine Anstellung im Waisenhaus Franckes, wo sie bis zu ihrem Tod 1739 ver­blei­ben wird. Die klei­ne Catharina bekommt einen Schulplatz.

Dass sich Francke in jener Zeit über­haupt um die Bildung eines armen, unehe­li­chen Mädchens bemüht, fin­det sei­ne Erklärung in Franckes Glauben: Der Mann ist Pietist. Der Pietismus ver­stand sich als Erneuerungsbewegung im Protestantismus, eine Reform der Reform sozu­sa­gen. Er stell­te sich dem ver­all­ge­mei­nern­den Dogmatismus der Lutherkirche ent­ge­gen und statt­des­sen den indi­vi­du­el­len Glauben in den Mittelpunkt. Jeder Mensch soll­te in ers­ter Linie an sei­ner per­sön­li­chen Beziehung zu Gott arbei­ten, statt wie mecha­nisch und ohne tie­fe­res Empfinden an reli­giö­sen Praktiken teil­zu­neh­men. So wur­de auch die Kindertaufe abge­lehnt. Der Pietismus sprach dem Individuum auf der geis­tes­ge­schicht­li­chen Ebene eine weit grö­ße­re Bedeutung zu als es die Lebensentwürfe des euro­päi­schen Mittelalters taten, deren Fokus vor allem auf der Ständezugehörigkeit lag. Genau deren Bedeutung plät­te­te der Pietismus ein und zähl­te wohl, gemein­sam mit der Aufklärung, zu den wich­tigs­ten geis­ti­gen Bewegungen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts.

Auch Catharina wird nun im Sinne des Pietismus aus­ge­bil­det. Sie erlernt das Lesen, Schreiben und Rechnen, der Schwerpunkt liegt jedoch auf einer stren­gen reli­giö­sen Erziehung. Neben dem Auswendiglernen von Psalmen steht Beten auf dem Stundenplan – fünf bis sechs Stunden täg­lich, sie­ben Tage die Woche. Catharinas Alltag ist von Sonnenaufgang bis ‑unter­gang durch­ge­tak­tet, kind­li­cher Spaß wie Spiel, Tanz und Toben unter­sagt. Im Zentrum ihres Lebens soll das eige­ne Seelenheil ste­hen. Freude an die­sem strik­ten Turnus hat sie wenig, wie sie spä­ter zu Protokoll gibt.

1700 wird Catharina Linck im Alter von 13 Jahren aus dem Waisenhaus ent­las­sen. Wie auch bei sei­nen ande­ren Schützlingen bemüht sich Francke bei ihr um eine anschlie­ßen­de Unterbringung. In der Umgebung sind die Jugendlichen aus der Francke-Schule gefrag­te Angestellte und Arbeiter:innen, ver­fü­gen sie doch über einen ver­gleichs­wei­se hohen Bildungsgrad. Linck kommt zuerst bei einem Wagner unter, wech­selt aber kur­ze Zeit spä­ter zu einem hal­li­schen Knopfmacher und Kattundrucker – also Textildrucker –, von dem sie sein Handwerk erlernt. Im Herbst 1702 oder Frühjahr 1703 begibt sie sich auf eine Wanderung in das etwa 50 Kilometer ent­fern­te Calbe, um Freund:innen zu besu­chen. Dort fasst sie einen Entschluss, der ihr Leben fort­an ent­schei­dend for­men wird: Sie schlüpft das ers­te Mal in die Kleidung und Rolle eines Mannes; es ist das ers­te Mal von vie­len. Denn als sie kur­ze Zeit spä­ter wie­der in Halle ein­trifft, steht ihre Entscheidung fest – ihre Zukunft ist die eines Mannes.

In Halle ist sie jedoch als Frau bekannt. Wie es der Zufall so will, trifft sie in jener Zeit im kri­mi­nel­len Milieu des Strohhofes – heu­te das Gelände um Händel-Halle und MDR – auf Anhänger:innen einer radi­kal­pie­tis­ti­schen Sekte. Diese zie­hen als Prophet:innen durch die Lande des Heiligen Römischen Reiches und ver­brei­ten gött­li­che Visionen, die sie in auto­sug­ges­tiv her­bei­ge­führ­ten Ekstasen beschwö­ren. In ihrer Überzeugung, dass im Glauben das indi­vi­du­el­le Verhältnis zu Gott im Mittelpunkt ste­hen sol­le, leh­nen sie jeg­li­che kirch­li­chen Instanzen ab. Linck schließt sich ihnen kur­zer­hand an – als Mann – und über Umwege fin­det die Gruppe ihren Weg nach Nürnberg. Dort, im Wasser der Pegnitz, lässt sich Linck dem pie­tis­ti­schen Glauben ent­spre­chend erneut tau­fen und nimmt den Namen Anastasius Lagrantinus Rosenstengel an. Zu dem Zeitpunkt ist er 17 Jahre alt.

Aus Linck wird Rosenstengel

Bis zum Herbst 1704 bleibt er bei der Sekte. Doch dann ertrinkt bei­na­he ein Kaufmann, nach­dem Rosenstengel ihm pro­phe­zeit, er wür­de über Wasser lau­fen kön­nen. Das ist nicht sei­ne ers­te geschei­ter­te Vision und es bringt sei­nen Glauben ins Wanken. Er ver­lässt die Gruppe. Die nächs­ten Monate ver­bringt er immer wie­der in Angst- und Wahnzuständen, meint, er wür­de von einem wei­ßen Geist und einem schwar­zen Geist – dem Teufel – ver­folgt. Im Winter 1704/05 kehrt er nach Halle zurück, schlüpft in einen Rock und wird wie­der zu Catharina Linck.

Im Feld

Doch das Leben als Frau schmeckt Linck nicht und sie hat Gefallen am Reisen gefun­den. Zudem leis­tet das unste­te Leben eines Vagabunden eine gro­ße Mithilfe bei der Aufrechterhaltung eines männ­li­chen Alias. So macht Linck bezie­hungs­wei­se Rosenstengel das, was unzäh­li­ge mit­tel­lo­se Männer über Jahrhunderte hin­weg taten, wenn sie Fernweh und wenig Perspektiven besa­ßen: Er wird Soldat.

Zu dem Zeitpunkt wütet seit vier Jahren der Spanische Erbfolgekrieg durch Europa und geht gera­de in eine sehr kampf­rei­che Phase über. 1700 war der spa­ni­sche König Karl II. kin­der­los ver­stor­ben und damit die spa­ni­sche Linie der Habsburger erlo­schen. Für sei­ne Nachfolge stan­den Philipp von Anjou, Enkel des fran­zö­si­schen Sonnenkönigs Louis XIV., und der öster­rei­chi­sche Erzherzog Karl, Sohn Kaiser Leopolds I., zur Auswahl. Statt Spanien und sei­ne Nebenlande und Kolonien wie zunächst geplant unter bei­den auf­zu­tei­len, setz­te Karl II. kurz vor sei­nem Tod Philipp als Alleinerben ein. Ob die­ser Ungerechtigkeit und um einer fran­zö­si­schen Vorherrschaft in Europa ent­ge­gen zu wir­ken, zogen zunächst Österreich, und schließ­lich wei­te­re Mächte wie die Niederlande und England gegen die Bourbonen in den Krieg. Dieser ende­te 1714 mit dem Rastatter Frieden. Philipp blieb König, jedoch tra­ten Spanien und Frankreich bedeu­ten­de Teile ihrer Gebiete ab. Es war der Beginn einer öster­rei­chi­schen Großmacht in Europa und England eta­blier­te sei­ne Vormachtstellung zur See. Zudem war im Rahmen des Krieges das Königreich Preußen ent­stan­den. Der spa­ni­sche Erbfolgekrieg gilt als weg­wei­send für das Mächtegleichgewicht in Europa und kos­te­te etwa 700.000 Menschen das Leben.

Unter dem Namen Beuerlein wird Rosenstengel nun bei den han­no­ver­schen Truppen zum Musketier aus­ge­bil­det. Damit hat er ein alles ande­re als leich­tes Leben gewählt: Eine schlech­te Versorgung, oft nur unzu­rei­chen­de Unterbringung, gro­ße kör­per­li­che Strapazen und wie­der­hol­te Lebensgefahr – Soldat im 18. Jahrhundert war alles ande­re als ein Traumjob.  „Ein ein­fa­cher Soldat wur­de für sei­nen schwe­ren Dienst und die Bereitschaft zu töten und zu ster­ben ledig­lich vor dem Verhungern bewahrt. Fast nie­mand ging frei­wil­lig zum Fußvolk […] Man muss­te sei­nen eige­nen Lebensumstände als gera­de­zu uner­träg­lich emp­fin­den, um wie Catharina Linck frei­wil­lig Soldat zu wer­den.“, beschreibt es die Literaturwissenschaftlerin Angela Steidele.

Eine der weni­gen Freuden des dama­li­gen Soldatenlebens fin­det sich in der inti­men Gesellschaft von Frauen. Rosenstengel besorgt sich vor sei­nem Eintritt ins Militär ein Horn, mit dem er im Stehen Wasser las­sen kann, und baut einen leder­nen Dildo samt Hoden, den er sich umschnallt. Damit frönt er fort­an sei­ner sexu­el­len Vorliebe für Frauen.

Ein letz­tes Gespräch mit dem Pfarrer

Auch Rosenstengels Wunsch nach Reisen erfüllt sich, die nächs­ten Jahre ist er haupt­säch­lich im Norden Frankreichs und den Spanischen Niederlanden sta­tio­niert. Im Mai 1708 steht dort eine vor­aus­sicht­lich beson­ders ver­lust­rei­che Schlacht an. Rosenstengel über­re­det des­halb zwei Kameraden, gemein­sam mit ihm zu deser­tie­ren. Doch kurz dar­auf wer­den die drei gefasst und, wie in sol­chen Fällen üblich, zum Tode ver­ur­teilt. Sie ste­hen bereits am Galgen und der ers­te von ihnen ist hin­ge­rich­tet, als Rosenstengel, als nächs­ter vor­ge­se­hen, ein letz­tes Gespräch mit dem Pfarrer ersucht. Das wird ihm gewährt und in die­ser Unterredung offen­bart er dem Geistlichen sein wah­res Geschlecht. Er stellt es geschickt an, akzep­tiert schein­bar sein Schicksal und bit­tet ihn nur ein­dring­lich um Stillschweigen, damit sei­ne ehr­ba­ren Eltern nichts davon erfah­ren würden.

Der Pfarrer reagiert so, wie Rosenstengel kal­ku­liert: Er bricht sein Wort und teilt es dem Kommandanten mit. Im September, nach­dem ein Brief Franckes sei­ne Geschichte bestä­tigt, kommt Rosenstengel frei, mit der Auflage, wie­der nach Halle zu gehen. Der preu­ßi­sche General Friedrich Wilhelm von Grumbkow beschreibt den außer­ge­wöhn­li­chen Fall sogar in sei­nem wöchent­li­chen Feldlager-Bericht an König Friedrich Wilhelm I.. Rosenstengel indes denkt gar nicht dar­an, in sein altes Leben zurück­zu­keh­ren. Auch die fol­gen­den Jahre schließt er sich unter ver­schie­de­nen Namen immer wie­der unter­schied­li­chen Truppen an, gibt sich mal als evan­ge­lisch, mal als katho­lisch aus. Einmal aller­dings ver­bringt er ein paar Monate wie­der als Catharina Linck in Halle, nach­dem Francke dem Pfarrer von Soest schreibt und die­ser die preu­ßi­schen Truppen ob der Frau in ihren Reihen infor­miert. Doch als­bald ist Rosenstengel wie­der zurück im Feld.

1712 wird er nach einer Prügelei zum Spießrutenlauf ver­ur­teilt. Abgesehen von der grau­si­gen Strafe selbst steht er nun vor einem unlös­ba­ren Problem: Diese wird am nack­ten Oberkörper des Verurteilten durch­ge­führt. Rosenstengel nimmt das als Anlass, sich nach sie­ben Jahren end­gül­tig vom har­ten Soldatenleben zu ver­ab­schie­den: Er flieht und kehrt als Catharina Linck nach Halle zurück. Sie ist inzwi­schen 25 Jahre alt.

Ein letzter Versuch

Dort fin­det sie eine Anstellung als Spinnerin beim Universitätstuchmacher. Schnell offen­bart sich ihre Vorerfahrung und Geschick, sodass sie in eine recht ange­se­he­ne Position auf­steigt. Währenddessen beginnt sie, die Grenzen der gesell­schaft­li­chen Norm aus­zu­rei­zen. Weiter als Catharina Linck lebend tritt sie immer häu­fi­ger in Männerkleidung auf. Aufgrund des­sen wird sie auch 1716 von Werbern aus den Truppen Fürst Leopolds I. fest­ge­setzt. Diese sind seit zwei Jahren in Halle sta­tio­niert und besit­zen das Recht zur gewalt­vol­len Werbung, sprich: Sie ent­füh­ren jun­ge Männer auf der Straße und zwin­gen die­se zum Militärdienst. Linck aller­dings hat kein Interesse an einer wei­te­ren Zeitspanne als Soldat und offen­bart den Männern ihr Geschlecht. Diese zei­gen sich jedoch wenig ein­sich­tig: Sie tritt als Mann auf, also wür­den sie sie als sol­chen behan­deln. Dabei spielt wohl auch die Prämie, die sie für jeden Rekruten erhal­ten, eine Rolle. Erst durch eine Intervention Franckes und wei­te­rer Hallenser:innen wird eine offi­zi­el­le medi­zi­ni­sche Untersuchung im Rathaus ange­ord­net. Dort stel­len sie fest: Catharina Linck ist eine Frau. Damit ent­kommt sie zwar dem Militärdienst, doch will man sie nun end­gül­tig zwin­gen, ein Leben als Frau ent­spre­chend der gesell­schaft­li­chen Norm zu füh­ren. Daraufhin sieht sie kei­ne Zukunft mehr für sich in Halle. Im Frühjahr 1717 ver­lässt sie die Stadt – ein letz­tes Mal – und lässt Catharina Linck für immer hin­ter sich. Zumindest hofft sie das wohl.

Trautes Glück

Anastasius Rosenstengel lässt sich in Halberstadt nie­der und fin­det dort eine Anstellung als Färber bei einem huge­not­ti­schen Strumpfmacher. Kurz nach sei­ner Ankunft lernt er die zehn Jahre jün­ge­re Catharina Margaretha Mühlhahn ken­nen und ver­liebt sich. Diese scheint dem Werber nicht abge­neigt, aller­dings ist Mühlhahns Mutter, Catharina Margaretha Eichsfelder, kri­tisch. Der Schwiegersohn in spe hat zwar ein Auskommen, doch etwas an ihm kommt ihr spa­nisch vor. Auch gibt es Gerüchte, er habe bereits eine Frau und die­se samt zwei­er Kinder in Halle zurück­ge­las­sen. Zwei Zeugen und ein Brief sei­ner Mutter – in der Magdalena Linck ihr Kind offen­bar deckt – klä­ren die­ses fal­sche Gerücht jedoch auf und im September fei­ert das Paar sei­ne Hochzeit.

Schnell beginnt es aller­dings zu kri­seln, denn Rosenstengel ver­liert sei­ne Anstellung und star­tet damit, die Aussteuer sei­ner Frau zu ver­kau­fen. Hier drängt die Schwiegermutter zum ers­ten Mal auf Scheidung. Im fol­gen­den Frühjahr ver­lässt das Paar die Stadt, um aus­wärts zu bet­teln. Offensichtlich han­delt es sich dabei um kein gutes Leben und so schickt Rosenstengel Mühlhahn im Sommer zurück zu ihrer Mutter nach Halberstadt, gemein­sam mit dem Versprechen, sie zu holen, wenn er eine Anstellung gefun­den habe. In Hildesheim trifft er einen katho­li­schen Pfarrer, der ihm Unterstützung anbie­tet, und da kommt Rosenstengel eine Idee: Er wird sich die andau­ern­den Konflikte zwi­schen den christ­li­chen Konfessionen und Strömungen im dama­li­gen Europa zunut­ze machen!

Nach der vier­ten Taufe eska­liert die Situation

Er kehrt zurück nach Halberstadt, um sei­ne Frau zu holen. Ehe deren Mutter sie aller­dings gehen lässt, ver­langt sie einen Beweis für Rosenstengels Männlichkeit. Vor den Augen Eichsfelders und deren Nachbarin pin­kelt er dar­auf­hin mit Hilfe sei­nes Horns im Stehen. Erst dann dür­fen die Eheleute auf­bre­chen. Sie gehen in ein Jesuitenkolleg bei Münster. Dort gibt sich Rosenstengel als armer Täufer aus, der sich nun der katho­li­schen Kirche anschlie­ßen will. Der Plan geht auf: Die bei­den kom­men im Kolleg unter, Rosenstengel wird Torhüter, Mühlhahn hilft in der Hauswirtschaft und die bei­den wer­den im katho­li­schen Glauben unter­wie­sen. Im Winter 1719/20 erhal­ten sie die Taufe und wer­den noch ein­mal getraut. Das Kolleg müs­sen sie nun aller­dings wie­der verlassen.

Während Mühlhahn wenig glück­lich über die­ses unste­te Leben und die neue Taufe ist, setzt Rosenstengel jetzt dar­auf, den Plan wie­der­ho­len zu kön­nen. Erneut schickt er sei­ne Frau zu deren Mutter und macht sich nun zum pro­tes­tan­ti­schen Kloster von Helmstedt auf. Dort erhält er nach ein paar Monaten Unterweisung im Mai 1720 sei­ne inzwi­schen vier­te Taufe und von sei­nen Paten sogar 25 Reichstaler, von denen er die Hälfte direkt aus­ge­zahlt bekommt. In der Hoffnung, sei­ne Frau möge den glei­chen Betrag erhal­ten, schickt er sich an, die­se zu holen. Doch in Halberstadt ange­kom­men, eska­liert die Situation. Seine Frau sei zu krank, um mit ihm zu gehen, Eichsfelder lässt ihn nicht ein­mal zu ihr vor. Bei einem wei­te­ren Besuch und erneu­ten Streit dann bin­det sei­ne Schwiegermutter ihn mit der Hilfe von Bekannten an einem Stuhl fest und schlitzt ihm die Hose auf. Dort fin­den sie das Horn, den Lederdildo und die Wahrheit über Anastasius Rosenstengels Geschlecht. Eichsfelder trägt den Dildo zum Gericht und erstat­tet gegen ihren Schwiegersohn Anzeige.

Schande und Ehre

Was sie nicht bedenkt: Damit schwärzt sie auch ihre Tochter an. Das Ehepaar wird fest­ge­nom­men und getrennt von ein­an­der unter furcht­ba­ren Bedingungen in den Kerker unter dem Halberstädter Richthaus gesperrt. Im Rahmen eines Inquisitionsprozesses wer­den bei­de der Sodomie ange­klagt. Während Sodomie im heu­ti­gen Verständnis nur sexu­el­le Handlungen mit Tieren beschreibt, umfass­te der Begriff damals alles, was nicht zur Zeugung eines „guten Christen“ bei­trug. Das beinhal­te­te unter ande­rem gleich­ge­schlecht­li­che Handlungen, Anal- und Oralsex und Verkehr mit Nicht-Christ:innen. Inquisitionsprozesse sind vor allem durch die Welle an Hexenverfolgungen im 17. Jahrhundert bekannt. Ziel war das Geständnis der Angeklagten, das, wenn es nicht frei­wil­lig erfolg­te, mit­hil­fe eines drei­stu­fi­gen Foltersystems ver­sucht wur­de, zu ent­lo­cken. Folter wur­de nicht als Strafe betrach­tet, son­dern ledig­lich als Verhörmethode. Den Prozess führ­te ein Beamter – über­nahm hier­mit ledig­lich den Ermittlungsteil – und schick­te anschlie­ßend die Prozessakten an ein juris­ti­sches Spruchkollegium, das meist in einer ande­ren Stadt aus den Mitgliedern einer juris­ti­schen Fakultät zusam­men­trat. Diese ver­fass­ten ein Urteil, doch das letz­te Wort lag beim Landesfürsten. In Preußen unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. war die Regierung der pro­zess­füh­ren­den Stadt ver­pflich­tet, das Urteil des Spruchkollegiums nach Erhalt gemein­sam mit einer eige­nen Empfehlung nach Berlin zu schi­cken, wo die­ses erst von einem Kriminalkollegium geprüft und dann an den soge­nann­ten Geheimen Rat wei­ter­ge­lei­tet wur­de. Dieser leg­te die Akten gemein­sam mit einer Empfehlung dem König vor. Der Prozess und das Urteil über die Rosenstengels gin­gen also durch sechs Instanzen bis zur Vollstreckung. Die Untersuchungsakte des Kriminalkollegiums ist erhal­ten und gilt heu­te als wich­tigs­te Quelle zu Lincks Leben.

Im Prozess legt Linck, die zuvor wie­der in Frauenkleider gesteckt wird, ihre Lebensgeschichte dar. Ihre Frau indes ver­sucht den Beamten zu über­zeu­gen, ihr sei die wah­re Identität ihres Mannes ent­gan­gen. Sie begrün­det das vor allem durch die Behauptung, dass sie ja nicht gewusst habe, wie ein nack­ter Mann aus­schaut. Spaß am Verkehr habe sie nie gehabt. Die Untersuchung geht mit phy­si­schen und vor allem psy­chi­schen Demütigungen ein­her. Beide wer­den auf­ge­for­dert, ihre sexu­el­len Handlungen detail­liert zu beschrei­ben. Linck wird erneut medi­zi­nisch unter­sucht, um ihr Geschlecht zu veri­fi­zie­ren. Während sie sehr offen erzählt, ist Mühlhahn wenig gestän­dig und ver­strickt sich in Widersprüche, wodurch sich der Prozess über meh­re­re Monate erstreckt.

Strang oder Schwert?

Im Dezember 1720, nach über einem hal­ben Jahr, wer­den die Akten an die juris­ti­sche Fakultät der Universität Duisburg geschickt. Die Antwort folgt im April. Das Urteil: Linck soll per Strang hin­ge­rich­tet und anschlie­ßend ver­brannt wer­den – die heid­ni­sche Beseitigung ihres Leichnams trifft sie womög­lich beson­ders  – und für Mühlhahn soll der Prozess erneut auf­ge­nom­men und unter Folter bis Stufe zwei eine ver­wert­ba­re Aussage erlangt wer­den. Die Halberstädter Regierung jedoch urteilt etwas mil­der und schlägt für Linck eine Exekution per Schwert vor – zu jener Zeit die ein­zig ehr­ba­re Form der Hinrichtung – und für Mühlhahn eine Aussetzung der Folter. Hier fin­det sich ein frü­her Anklang der Aufklärung. 19 Jahre spä­ter, 1740, wur­de die Folter in Preußen offi­zi­ell verboten.

Das Urteil des Berliner Kriminalkollegiums schließt sich dem an und schlägt für Mühlhahn eine drei­jäh­ri­ge Haftstrafe im Zuchthaus und anschlie­ßen­de Verweisung aller preu­ßi­schen Lande vor. Jedoch liegt die­sem Bericht ein Sondervotum bei: Fast die Hälfte des Kollegiums for­dert für Linck ledig­lich eine Prügelstrafe und anschlie­ßend lebens­lan­ge Haft. Sie stel­len infra­ge, ob ein sexu­el­ler Akt zwi­schen zwei Frauen grund­sätz­lich als sodo­mi­tisch gewer­tet wer­den kann. Auch der Geheime Rat ist gewillt, sich die­sem Standpunkt anzu­schlie­ßen, streicht sogar den Landesverweis für Mühlhahn. Doch einer zögert: der König. Friedrich Wilhelm I. – der ja bereits 13 Jahre zuvor durch sei­nen General über Rosenstengels Existenz unter­rich­tet wird – ver­schließt sich nicht sei­ner Zeit. Aber er ist auch ein rabia­ter Herrscher, der Urteile häu­fig stren­ger fällt als vor­ge­schla­gen. Und so tut er es auch die­ses Mal. Im Oktober, ein­ein­halb Jahre nach Prozessbeginn, unter­zeich­net er fol­gen­des: drei Jahre Zuchthaus für Mühlhahn, Exekution per Schwert und anschlie­ßend ein unchrist­li­ches Begräbnis für Linck.

Am 8. November 1721 wird Catharina Linck – und mit ihr Anastasius Rosenstengel – auf dem Halberstädter Fischmarkt hin­ge­rich­tet. Sie ist die letz­te Frau in Europa, die wegen Unzucht mit einer ande­ren Frau zum Tode ver­ur­teilt wird.

Was bleibt

Dem einen oder der ande­ren mag beim Lesen die Frage gekom­men sein: Wäre es nicht rich­tig, Linck als trans* zu bezeich­nen? Hierbei muss jedoch bedacht wer­den, wel­che Rolle Geschlecht zu Lincks Lebzeiten spiel­te. Um 1700 gal­ten Männer und Frauen als Variationen von ein­an­der. So sprach man bei­spiels­wei­se bei bei­den sicht­ba­ren Geschlechtsorganen vom „Geburtsglied“, beim Mann eben nach außen gekehrt und bei der Frau nach innen. Damit waren Frauen nicht auto­ma­tisch als defi­zi­tär zu betrach­ten. Auch in den Gerichtsakten zum Ehepaar Rosenstengel wird jener Begriff anstatt etwa Vulva oder Vagina verwendet.

War Linck trans*?

Viele Vorstellungen von Geschlecht und Gender, die unser Weltbild heu­te prä­gen, kris­tal­li­sier­ten sich tat­säch­lich im Laufe des 18. Jahrhunderts, geknüpft an Säkularisierung und wach­sen­des Interesse an natur­wis­sen­schaft­li­cher Forschung und Denken, her­aus. Dort begann die Wahrnehmung als Gegensätze – der akti­ve, erschaf­fen­de, intel­lek­tu­el­le Mann und die pas­si­ve, emp­fan­gen­de, mate­ri­el­le Frau. Hier wur­de auch das weib­li­che Idealbild der Hausfrau geprägt. Das heißt nicht, dass haus­häl­te­ri­sche Tätigkeiten zuvor gerecht auf­ge­teilt waren – das nun wahr­lich nicht –, aber es erfolg­te eine zuneh­men­de Verdrängung der Frau aus der Berufswelt. Bis dahin war es durch­aus üblich, dass Frauen bei­spiels­wei­se in den Werkstätten ihrer Männer tätig waren oder auch eige­ne Betriebe führten.

Zudem begann in jener Zeit gemein­sam mit den Gegensätzen noch ein­mal das fes­te­re Verknüpfen des Genders mit dem Körper selbst, wie etwa Hormonen, statt mit dem Auftreten. Zu Lincks Lebzeiten herrsch­ten stren­ge Kleiderordnungen, nicht nur für die Geschlechter, son­dern auch bei­spiels­wei­se für Handwerksberufe oder jüdi­sche Menschen. Diese über­nah­men qua­si das Labeln der Person. Den Frauen, die damals das Leben von Männern wähl­ten, kam das zugu­te, gemein­sam mit der aktu­el­len Mode, die für Männer lan­ge Haare, wei­te Jacken und gro­ße Hüte vor­sah. Waren sie noch groß gewach­sen und meis­ter­ten dazu die grö­be­ren Umgangsformen und den Habitus, der Männern nor­ma­tiv zuge­schrie­ben wur­de, war das eine Maskierung, die über das glat­te Kinn und die hohe Stimme hin­weg­zu­täu­schen vermochte.

Geschlechterbilder aus dem 18. Jahrhundert

Auch an der Wahrnehmung der Sexualität lässt sich das wan­deln­de Geschlechterbild erken­nen. Von der pas­si­ven Frau aus­ge­hend wur­den Sex und Lust an den Samenerguss des akti­ven Mannes geknüpft. Damit sprach man Frauen schlicht jed­we­de Sexualität ab und schwän­gern lie­ßen sie sich schließ­lich auch unab­hän­gig ihrer eige­nen Interessen. Diese Differenzierung wirk­te sich unter ande­rem grund­sätz­lich auf die Wahrnehmung gleich­ge­schlecht­li­cher Beziehungen aus. Während sexu­el­le Handlungen unter Frauen zwar auch wei­ter­hin gesell­schaft­li­cher Ächtung unter­la­gen, waren sie oft doch recht früh, zumin­dest recht­lich betrach­tet, nicht mehr ille­gal. Im Preußischen Gesetzbuch bei­spiels­wei­se ent­fiel der Paragraph zur weib­lich-weib­li­chen Sodomie im Jahr 1851. Gesetze, die sexu­el­le Handlungen zwi­schen Männern kri­mi­na­li­sier­ten, gab es hin­ge­gen in der DDR bis 1988 und in der Bundesrepublik bis 1994. Doch die­ses dif­fe­ren­zier­te Denken bezüg­lich quee­rer Sexualität begann erst zu Lincks Lebzeiten. Die regen Diskussionen um ihr Urteil sind ein unmit­tel­ba­rer Beweis dafür, gemein­sam mit der Tatsache, dass sie die letz­te Frau in Europa war, die allein auf­grund gleich­ge­schlecht­li­cher Handlungen zum Tode ver­ur­teilt wurde.

Heute wird ihrer unter ande­rem durch die “Wonderful Women Wall” am Hauptbahnhof gedacht.

Aber war sie eine Frau? Die Forderung, Linck das Label einer männ­li­chen Trans*identität zuzu­spre­chen, igno­riert die Unterschiede zwi­schen den Geschlechterbildern von damals und heu­te. Die Existenz von trans* als Identität, wie es aktu­ell ver­stan­den wird, setzt nicht nur an ein binä­res, son­dern auch ein kon­trä­res Genderkonzept vor­aus. Für die Zeit Lincks ergibt das Label schlicht kei­nen Sinn. Sie und ihre Umwelt hat­ten ein grund­le­gend ande­res Verständnis von dem Prinzip Geschlecht. Um noch ein­mal Angela Steidele zu zitie­ren: „Weil aber die Geschlechterrollen noch nicht aus der Natur, den Körpern, abge­lei­tet und damit noch nicht als ewig und unver­än­der­bar inter­pre­tiert wur­den, muss­te sich Catharina Linck nicht fra­gen, ob sie denn etwa kei­ne Frau war, weil sie nach Lebensweisen ver­lang­te, die Frauen spä­ter per defi­ni­tio­nem gar nicht wol­len konnten.“

Von Lincks eige­nen Angaben aus­ge­hend lässt sich sagen, dass ihre Unzufriedenheit mit dem Leben als Frau nicht an eine Identitäts- oder Sinnkrise geknüpft war. Auch hat­te sie durch­aus Freude an und mit ihrem weib­li­chen Körper, wie an ihren expli­zi­ten Beschreibungen zum sexu­el­len Verkehr mit ihrer Frau abzu­le­sen ist. Linck gab nie an, ein Mann zu sein. Sie hat­te sich aber für das Leben eines Mannes ent­schie­den. Die begrenz­ten Möglichkeiten, die ihr als ein­fa­cher Frau offen­stan­den – im Wesentlichen ein Dasein als Magd oder die Heirat mit einem Mann – erschie­nen ihr womög­lich, ins­be­son­de­re auch in Anbetracht ihrer Sexualität, schlicht nicht anspre­chend. So mach­te sie sich ihre Zeit und die dama­li­gen Geschlechterbilder zunut­ze, um sich neue Möglichkeiten zu suchen; ähn­lich, wie sie es dann mit den christ­li­chen Strömungen tat. Dabei ein Urteil über ihre Genderidentität zu fäl­len, steht uns drei Jahrhunderte spä­ter schlicht nicht zu.

Möglichkeiten gesucht

Catharina Linck bezie­hungs­wei­se Anastasius Rosenstengel war ein:e Grenzgänger:in, in vie­ler­lei Hinsicht. Gemeinsam wan­der­ten sie auf dem Grat der Geschlechter. Sie waren zer­ris­sen zwi­schen dem wei­ßen und dem schwar­zen Geist, sahen den Frieden und den Krieg. Sie erleb­ten geis­tes­ge­schicht­li­che Umbrüche, bei denen die geschlecht­li­che Variation durch den Kontrast abge­löst wur­de, und die indi­vi­du­el­le Identität über die Standeszugehörigkeit tri­um­phier­te. Sie erhiel­ten eine ehr­ba­re Hinrichtung, aber ein schänd­li­ches Begräbnis.

Wie ver­spro­chen: Es ist eine Biografie, die ihres­glei­chen sucht. Forciert hat­te Linck das wohl nie. Wahrscheinlich woll­te sie ein­fach nur ein frei­es und selbst­be­stimm­tes Leben.

Text, Illustrationen und Foto: Ronja Hähnlein

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