Ich habe eine gro­ße Leidenschaft: das Kino. Ich bin wohl das, was man einen ech­ten Cineasten nen­nen könn­te. Letztes Jahr führ­te mich mein Weg 48 Mal dort­hin. Doch so sehr ich es lie­be — immer öfter las­sen mich Kinobesuche, Entwicklungen in der Filmwelt und wei­te Teile des Publikums frus­triert zurück. Hier kommt mein Liebesbrief an das Kino. 

Der Status Quo 

Die Zahl ver­kauf­ter Kinotickets war in Deutschland seit Mitte der 1970er erstaun­lich kon­stant: fast fünf­zig Jahre lang pen­del­ten sich die­se jähr­lich etwa zwi­schen 105 und 140 Millionen ein. Dann kam die Covid-Pandemie. Die Kinos muss­ten schlie­ßen oder durf­ten nur eine gerin­ge Zahl von Sitzplätzen mit genü­gend Sicherheitsabstand zuein­an­der ver­ge­ben. Im letz­ten Jahr fie­len vie­le Sicherheitsmaßnahmen weg, es war eine Rückkehr zur „Normalität“ und in den Kinos lie­fen vie­le Filme, deren Starts auf­grund der Pandemie ver­scho­ben wur­den. Nur die Besucher:innen blie­ben aus. Gerade ein­mal 78 Millionen Tickets wur­den im letz­ten Jahr ver­kauft. Grob gesagt ist das ein Rückgang um etwa 30% im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Die Kinos sind da, die Filme sind da, aber wo sind die Menschen? 

Die Gründe für feh­len­de Besucher:innen sind natür­lich viel­fäl­tig. Nicht alle haben das Sicherheitsgefühl wie­der­erlangt, sich unter vie­len Leuten zu bewe­gen. Andere wis­sen schlicht nicht, was momen­tan läuft, weil sie neue Trailer eben im Kino sahen, also dort, wo vie­le wäh­rend der Pandemie nicht waren. Ein Argument ist natür­lich auch die indi­vi­du­el­le finan­zi­el­le Situation, die sich für Teile der Bevölkerung in den letz­ten Jahren ver­schlech­tert hat. 

Doch wenn ich mir anschaue, was den Film in der letz­ten Zeit am deut­lichs­ten geprägt hat, dann kom­me ich auf einen Trend, der zwar durch die Pandemie noch ein­mal unter­mau­ert wur­de, aber zuvor schon inner­halb weni­ger Jahre ein Gamechanger für die gesam­te Unterhaltungsindustrie wur­de: Streamingangebote. 

Der Siegeszug des Streamings 

Ja, das Kino wur­de schon oft auf­grund ähn­li­cher Entwicklungen tot­ge­sagt: mit der Etablierung von pri­va­ten Fernsehern, mit der Erfindung von Videokassetten und DVDs und eben jetzt mit der Verbreitung von Streaminganbietern. 

Durch Netflix und Co. ist die Zahl der Möglichkeiten schlicht end­los, wäh­rend gleich­zei­tig durch Algorithmen und der zeit­li­chen Flexibilität das Angebot so indi­vi­du­ell ist wie nie zuvor. Und dann ist das Ganze noch bequem von zuhau­se aus erleb­bar, wo man mit Jogginghose und Chips auf der Couch lüm­meln kann. Es ist prak­tisch, es ist bequem und ein Monatsabo kos­tet so viel wie ein bis zwei Kinotickets. Warum also noch das Haus verlassen? 

Eine Stärke des Kinos war immer sei­ne Exklusivität. Selbst wenn Filme spä­ter ein­mal im TV lie­fen oder als Kassette ver­füg­bar waren, so geschah das doch immer mit zeit­li­chem Versatz. Dieser hat­te sich etwa bei sechs bis neun Monaten für Home-Entertainment-Medien und zwölf bis 24 Monaten für das linea­re Fernsehen ein­ge­pen­delt. Mit dem Aufkommen von digi­ta­len Streams und den dazu­ge­hö­ri­gen Diensten waren Filme auch immer schnel­ler in den eige­nen vier Wänden ver­füg­bar. Manche Filme launcht Disney heu­te sechs oder acht Wochen nach Kinostart auf sei­nem Streamingdienst. Mit „Trolls 2 — Trolls World Tour“ wur­de 2020 zum ers­ten Mal ein Film gleich­zei­tig im Kino und als VoD released. 

Die Streamingdienste sind ein wich­ti­ger Aspekt bei der Frage, wie sich das Sehverhalten in den letz­ten Jahren ver­än­dert hat. Binge-wat­chen, Pause drü­cken, wenn man mal auf die Toilette muss oder der Pizzabote klin­gelt — das alles geht jetzt immer, nicht nur bei den Filmen und Serien, die man auf Blu-Ray hat. Die Bereitschaft, sich in einen gro­ßen dunk­len Raum zu setz­ten, in dem das nicht mög­lich ist, scheint da für eini­ge doch recht unattraktiv. 

Die end­lo­se Verfügbarkeit sorgt auch dafür, dass vie­le Menschen Filme schau­en, wäh­rend sie etwa put­zen oder Wäsche auf­hän­gen. Keine Frage, das gab es auch vor Streamingdiensten, aber wie vie­le von euch haben dafür extra eine DVD ein­ge­scho­ben? Das Fernsehprogramm wie­der­um ist auf den meis­ten Sendern so getak­tet, dass Formate, die weni­ger Fokus vom Publikum ver­lan­gen, auf den Tag gelegt wer­den, wäh­rend die gro­ßen Filme und Serien am Abend lau­fen, wo deut­lich mehr Menschen sich auf ihr Sofa set­zen, um aktiv fernzusehen. 

Durch Streamingdienste aber wer­den Produktionen, deren Geschichten Konzentration ver­lan­gen und ver­die­nen, in den Köpfen vie­ler gleich­ge­setzt mit „leich­ter Kost“. Da steht das neu­es­te Trash-Format gleich­wer­tig neben dem hoch­ka­rä­ti­gen Klassiker – und wird vom Publikum auch so behan­delt. Die Streaminganbieter unter­stüt­zen die­sen Prozess der Gleichschaltung, indem ein nicht gerin­ger Teil ihrer Eigenproduktionen genau sol­che leich­te Kost ist, die dann aber als gro­ße Highlights ver­mark­tet wer­den. “Das war teu­er, da sind Stars drin, das ist gut.”. Mit „The Grey Man“ und „Red Notice“ hat Netflix erst zwei rie­si­ge Produktionen mit Budgets im drei­stel­li­gen Millionenbereich ver­öf­fent­licht, die fil­misch aber kom­plett schwach und unbe­deu­tend sind. Da ver­passt man nichts, wenn man zwi­schen­durch für zehn Minuten auf das Handy starrt — sie laden sogar regel­recht dazu ein. So erzieht man sys­te­ma­tisch sein Publikum um. 

Euer Tellerrand 

Bei all den Abomodellen für Filme und Serien und auch Musik fra­ge ich mich ohne­hin immer mehr: wie viel Wert hat noch das ein­zel­ne Stück Kunst? Wenn ich begeis­tert von einem Film erzäh­le, mein Gegenüber mich fragt, wo der denn ver­füg­bar sei, und ich ant­wor­te, ich habe mir den auf DVD besorgt oder online gegen eine Gebühr aus­ge­lie­hen, dann weiß ich in der Regel: die­se Person wird die­sen Film nie schau­en. Ich habe oft das Gefühl, für vie­le endet ihre Medienwelt inzwi­schen an den Grenzen ihrer Streamingzugänge. Eine Extrameile für einen ein­zel­nen Film zu gehen, das scheint immer schwe­rer nach­voll­zieh­bar zu sein. Wenn ich erklä­re, ich habe eine DVD, die ich mir per Mail beim Produzenten des Films per­sön­lich bestel­len muss­te, dann bekom­me ich Blicke, als sei ich ein ver­we­ge­ner Abenteurer, der von sei­nen Erlebnissen im malay­si­schen Dschungel berich­tet. Streamingabos haben die Tendenz, aus den ein­zel­nen Werken — den guten, den meis­ter­haf­ten, den schwa­chen — einen gedank­li­chen Einheitsbrei zu machen. “Die eine Serie war jetzt gut, aber hey, fan­gen wir gleich mit einer neu­en an!” Und alles, was außer­halb des Abos liegt, scheint auch außer­halb jeder Reichweite zu sein. 

Doch nein, ich has­se Streamingdienste nicht. Für vie­le gute Produktion sind sie die letz­te Rettung, denn das Kino wie­der­um ver­liert sich momen­tan immer mehr in Mut- und Kreativlosigkeit. 

Fanservice aka Der Tod der visionären Kunst 

Wisst ihr, was das Kinojahr 2022 so beson­ders gemacht hat? Zum ers­ten Mal seit 2014 waren mit „Top Gun: Maverick“ und „Avatar – The Way of Water“ die zwei erfolg­reichs­ten Filme des Jahres weder eine Marvel- noch eine Star Wars-Produktion. Aber trotz­dem sind bei­de Teil des­sen, was die heu­ti­ge Kinolandschaft gna­den­los domi­niert: Franchises. 

Prequels, Sequels, Remakes – der Film- und Serienmarkt wird ertränkt von ihnen. Ob nun Buch‑, Comic‑, Game- oder fil­mi­sche Vorlage, alles wird ver­wer­tet und aus­ge­schlach­tet. Inzwischen ver­su­chen Produktionsfirmen vor allem Franchises auf­zu­bau­en, kei­ne abge­schlos­se­nen ein­zel­nen Geschichten wer­den erzählt, son­dern die Handlungen wer­den so gewählt, dass man sie so belie­big und hane­bü­chen aus­brei­ten kann, wie sie Geld abwer­fen. Als Gegenspieler für den zehn­ten „Fast and the Furios“-Teil haben sie den Sohn eines toten Antagonisten aus Teil fünf her­an­ge­holt, der vor­her nie Erwähnung fand. Für Stories, die eigent­lich als abge­schlos­sen gal­ten, lässt man sich im Zweifel was ein­fal­len, um ein Sequel dran­zu­hän­gen oder man erzählt halt eine Vorgeschichte. Die Kassen klin­geln. Abermillionen schau­en die­se Sachen. Mich hin­ge­gen machen sie meist ein­fach nur müde. 

Die Kaufkraft der Liebe 

Ich ver­ste­he, war­um man sich freut. Auch ich lie­be “Der Herr der Ringe” oder die ori­gi­na­le “Star Wars”-Trilogie. Diese Welten und die­se Geschichten haben einen beson­de­ren Platz in mei­nem Herzen und die Sehnsucht, an die­se Orte und zu die­sen Figuren zurück­zu­keh­ren, kann ich sehr gut nach­voll­zie­hen. Ihnen scheint ein Stück Magie inne­zu­woh­nen. Von die­ser Sehnsucht wis­sen die Produktionsstudios. Also neh­men sie Geld in die Hand und schus­tern aus den alten Sachen neue Produkte zusam­men. Die Sehnsucht treibt die Leute in die Kinos und zu den Streams, die Studios machen Gewinn und legen nach. Nur eins fehlt die meis­te Zeit: die Magie. So vie­len Stories fehlt die Liebe, die Studios sind sel­ten an künst­le­ri­schen Visionen der Macher:innen inter­es­siert, ihnen geht es haupt­säch­lich dar­um, mehr Profit zu gene­rie­ren. Ich ken­ne vie­le Fans, die von neu­en Exkursen in ihre gelieb­ten Welten ent­täuscht sind, aber in der Hoffnung, das alte Gefühl von frü­her wie­der ein­fan­gen zu kön­nen, schau­en sie auch das nächs­te über­flüs­si­ge Sequel. Oder sie gucken es, weil sie am Ende doch das gan­ze ver­füg­ba­re Universum ken­nen wol­len, auch wenn die­se Erfahrungen immer mehr von Missmut geprägt sind. 

Die Liebe zu alten Abenteuern wird aus­ge­nutzt, um Neues zu ver­kau­fen. Also nicht, dass es zwangs­läu­fig etwas Neues zu erzäh­len gäbe, „aber hey, da fliegt der Spiderman mei­ner Kindheit und der Spiderman mei­ner Jugend mit dem neu­en Spiderman rum, das lässt mich an mei­ne Kindheit und Jugend den­ken, toll!“. Filme und Serien ver­lie­ren sich zuneh­mend in Selbstreferenzen, aber bie­ten sel­ten neue Aspekte, die lie­bens­wert sind. 

Nein, nicht alle die­se Sachen sind schlecht; „House of the Dragon“, “Andor” oder der neue “The Batman” zum Beispiel sind groß­ar­tig. Aber die meis­ten sind doch reich­lich egal und herz­los. Sie sind Content, kei­ne Kunst. 

Der berühmte Disney-Zauber 

Auf die­ses Geschäft ver­steht sich übri­gens nie­mand so gut wie die Walt Disney Company. Mit dem MCU, dem Star Wars-Franchise und den Remakes ihrer Klassiker domi­nie­ren sie die Filmlandschaft wie kein ande­res Studio. Tatsächlich ist Disney inzwi­schen ein sol­cher Gigant, dass sie den Filmmarkt regel­recht kaputt machen. So for­dert Disney von den Kinos höhe­re Gewinnbeteiligungen als üblich. Sie erpres­sen die Kinos qua­si, denn die sind oft auf die Besucher:innen der Disney-Produktionen ange­wie­sen. Damit die Kinos trotz­dem Gewinn machen, müs­sen vie­le Säle für die Filme von Disney gesperrt wer­den, die sonst ande­ren Filmen zur Verfügung ste­hen wür­den. Die Kinos haben wenig davon, das Publikum bekommt sei­nen nächs­ten durch­schnitt­li­chen Teil von etwas, was sie frü­her moch­ten, vor­ge­setzt — und am Ende gewinnt Disney. 

Dieser Sequel-Prequel-Remake-Trend sorgt vor allem für eins: Originelle Stoffe haben immer weni­ger Chancen – vor allem im Kino. Die Sehgewohnheiten sind auf dra­ma­tur­gi­schen Einheitsbrei getrimmt und Geschichten, die die Dinge anders machen, wer­den kaum geguckt und damit kaum finan­ziert. Wer ins Kino geht, will auch, dass das letz­te Drittel eine gro­ße CGI-Schlacht ist. 

Die Blockbuster (Filme, die etwa ein Budget >80 Millionen US-Dollar haben), die nicht Teil die­ses Trends sind, wer­den — wenn sie noch gemacht wer­den — kaum gese­hen. Oder wer von euch hat Ridley Scotts groß­ar­ti­gen „The Last Duel“ von 2021 geschaut? Wenigstens davon gehört? Große Empfehlung, wenn auch mit rich­ti­gen Schwertern statt mit com­pu­ter­ani­mier­ten Blitzen! 

Die goldene Mitte 

Wie gesagt, die meis­ten Blockbuster lau­fen noch im Kino – sie sind halt fast immer Teil eines Franchises. Indieproduktionen wer­den eben­so flei­ßig gedreht, auch wenn vie­le von euch da kaum was mit­krie­gen, aber allein das Studio A24 und sein Gespür für Stoffe sind ein Geschenk für jede:n Cineast:in. Doch wo sind die Mid-Budget-Filme? 

Mid-Budget-Produktionen — das sind Filme, die etwa 10 bis 80 Millionen US-Dollar in der Produktion kos­ten. Früher wur­den die­se eben­falls oft von gro­ßen Studios finan­ziert, aber da die Kosten für die Franchise-Blockbuster explo­die­ren und das brei­te Publikum an die­se Art von Film gewöhnt wur­de, krie­gen Mid-Budget-Projekte immer sel­te­ner eine Finanzierung. Der Fokus des brei­ten Publikums auf bekann­te Marken macht außer­dem jeden Film außer­halb einer Reihe zu einem immer grö­ße­ren wirt­schaft­li­chen Risiko. Der Filmmarkt hat sei­nen Kund:innen das Interesse an ori­gi­nel­len Stoffen ja regel­recht abtrai­niert. Geschichten wie „Forrest Gump“, „Kevin – Allein zu Haus“ oder “Fight Club” hät­ten in der heu­ti­gen Zeit kaum eine Chance. 

Zudem muss­ten sich Filme bis vor weni­gen Jahren auch nicht nur über das Kino finan­zie­ren. Gerade Mid-Budget-Produktionen spiel­ten ihre Kosten vor allem auch über phy­si­sche Datenträger ein. Der Videokassetten‑, DVD- und Blu-ray-Markt hat sol­che Filme in der Vergangenheit für die Studios ren­ta­bel gemacht, wäh­rend das bei Lizenzgebühren von ande­ren oder Einnahmen mit dem eige­nen Streamingdienst nicht mehr der Fall ist. 

“You try to go to a pro­du­cer today and say you want to make a film that hasn’t been made befo­re; they will throw you out becau­se they want the same film that works, that makes money.” sag­te 2011 mit Francis Ford Coppola einer der bedeu­tends­ten Filmemacher:innen der Geschichte. Damit ein­her­ge­hend sind es in ers­ter Linie auf­stre­ben­de Frauen, BIPoCs und jun­ge Menschen, denen vie­le Chancen ver­wehrt blei­ben. Mid-Budget-Produktionen sind vor allem für Filmschaffende hin­ter der Kamera nach den ers­ten gelob­ten Indieprojekten der nächs­te Schritt auf der Karriereleiter. Während in den letz­ten Jahrzehnten durch gesell­schaft­li­chen Wandel immer mehr Räume für mar­gi­na­li­sier­te Gruppen erkämpft wur­den – vor allem auch Machtpositionen – steht ihnen die Filmwelt, wie sie heu­te funk­tio­niert, im Weg. 

Wie soll die­se sich über­haupt ent­wi­ckeln, wenn selbst gro­ße Namen wie Martin Scorsese oder Spike Lee ihre Projekte nicht mehr über die eta­blier­ten Studios finan­ziert bekom­men? Die haben zumin­dest eine Lösung für das Problem, sie gehen zu den Streamingdiensten! 

Ein Rennen im Kreis 

Lee hat sei­nen letz­ten Film „Da 5 Bloods“ — eine klas­si­sche Mid-Budget-Produktion — über Netflix pro­du­ziert. Scorsese hat die etwa 200 Millionen US-Dollar für sein Gangster-Epos „The Irishman“ eben­falls von Netflix bekom­men, wäh­rend sein neu­er Film “Killers of the Flower Moon” von Apple TV+ finan­ziert wur­de. Wenn selbst jene, die das Kino als Kunstform leben und zele­brie­ren, wie kaum ande­re es tun, ihre Filme über Streaminganbieter pro­du­zie­ren, was sagt das über das heu­ti­ge Kino aus? 

Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Streamingdienste haben einen gro­ßen Anteil dar­an, dass die Kinowelt Angst um ihre Existenz hat. Die Studios sind weni­ger risi­ko­be­reit und schaf­fen einen Filmmarkt, der sich haupt­säch­lich über Franchises finan­ziert. Das brei­te Publikum über­nimmt die­sen Fokus auf gro­ße Marken und lässt ande­re Geschichten zuse­hends links lie­gen. So wer­den die Studios noch ängst­li­cher, was Investitionen in neu­ar­ti­ge Stoffe angeht. Die Streamingdienste wie­der­um, die als Aboprodukte weni­ger abhän­gig von den Erfolgen ein­zel­ner Filme sind, finan­zie­ren jetzt Stories, die so nicht mehr für das Kino gemacht werden. 

Gute Dinge brauchen Zeit, schlechte Dinge brauchen Hype 

Man könn­te jetzt mei­nen: das ist ärger­lich für das Format Kino, aber die guten Filme sind ja noch da. Sind sie. Zumindest, wenn die Algorithmen sie mit einem matchen und — wenn das der Fall ist — sie auch wirk­lich GESCHAUT wer­den. Das Problem ist das Sehverhalten des Publikums. Denn wie gesagt, im Kino erwar­tet es Franchises und zuhau­se ver­kommt jeder Film und jede Serie glei­cher­ma­ßen und undif­fe­ren­ziert zu einer Nebenbeschäftigung, wäh­rend man kocht oder ins Handy schaut. Die Räume für ori­gi­nel­le Stoffe sind nicht mehr da, weil die Mehrheit ihnen kei­nen Platz mehr in ihrem Leben einräumen. 

Warum soll­te man noch ins Kino gehen, wenn man Filme zuhau­se sehen kann? Ok, war­um noch Konzerte besu­chen, ich höre ja auch Musik auf dem Weg zur Kaufhalle. Der Unterschied: Musik auf den Kopfhörern ist eine Ecke in mei­nem Alltag, die ich der Musik frei­schau­fe­le, wäh­rend um mich her­um noch ein Dutzend ande­re Dinge pas­sie­ren. Gehe ich auf ein Konzert, betre­te ich einen Raum, der extra für Musik geschaf­fen wur­de. Es ist eine bewuss­te Entscheidung, mei­ne nächs­ten zwei Stunden dem Erlebnis Musik zu wid­men. Genauso funk­tio­niert Kino. Der Soundsystem, die Dunkelheit, die gro­ße Leinwand – das alles ist gemacht, damit ich mich dem Format Film voll und ganz wid­men kann. Und Film hat das durch­aus verdient. 

Es ist die kom­ple­xes­te Kunstform, die wir je geschaf­fen haben. Dutzende Gewerke grei­fen inein­an­der, meist arbei­ten hun­der­te oder gar über tau­send Menschen an einem ein­zel­nen Projekt. Und wenn alles stimmt, wenn all die­se Menschen rich­tig gut gear­bei­tet haben, dann kann man in einem dunk­len Saal ein klei­nes Stück Magie erle­ben. Aber das geht nicht, wenn man zwi­schen­durch eine WhatsApp-Nachricht ver­schickt. Das geht auch nicht, wenn sich Showrunner:innen wie am Fließband neue groß­ar­ti­ge krea­ti­ve Stories aus den Fingern sau­gen müs­sen, die den Vorgänger-Teilen gerecht wer­den und an sie anknüp­fen, aber auch immer etwas Neues erzäh­len und gleich­zei­tig vier wei­te­re Sequels vorbereiten. 

Es gibt so vie­le fan­tas­ti­sche Geschichten da drau­ßen, die euch in den Bann zie­hen wer­den, die Dinge anders machen, die ihren eige­nen Weg gehen. Ich freue mich zum Beispiel momen­tan wahn­sin­nig über den Erfolg von „Everything Everywhere All at Once“, der bei den dies­jäh­ri­gen Oscars sechs Preise gewin­nen konn­te. Die Begeisterung, die die­sem Film ent­ge­gen­schwappt, ist für mich ein Beweis, dass Viele Lust auf neue und ihnen unbe­kann­te Geschichten haben. Den meis­ten ist nur nicht klar, dass es vor allem sie selbst sind, die sich den Zugang dazu verwehren. 

Appell eines Cineasten 

Ich lie­be Kino und ich lie­be es, von Filmen über­rascht, mit­ge­ris­sen und begeis­tert zu wer­den. Das wird mir jedoch immer mehr ver­wehrt; Durch ein brei­tes Publikum mit Scheuklappen, das zuse­hends ver­lernt, die Filmkunst und all sei­ne Wege, Geschichten zu erzäh­len, zu schät­zen, und einem Filmmarkt, der eben­je­nes Publikum bedient. 

Deshalb mein Appell an euch: geht öfter ins Kino. Aber braucht ihr wirk­lich das drölf­zigs­te Live-Action-Remake eines Disneyklassikers zu sehen, das euch eh nie so ver­zau­bern wird wie das Original aus eurer Kindheit? Schaut ins Programm der klei­ne­ren Kinos, in Halle sind wir mit Zazie, Puschkino und Luchs rich­tig ver­wöhnt, was das angeht. Legt beim Gucken das Handy weg, vor allem, wenn ihr im Kino seid. Wenn wir schon dabei sind: lasst da auch die Chipstüte zuhau­se und bit­te hört auf, wäh­rend des Filmes zu quatschen. 

Gebt Filmen, von denen ihr noch nie gehört habt, eine Chance. Es gibt auch weit­aus mehr Filmschmieden als Hollywood. Wenn ihr auf der Suche nach neu­en Sachen seid: auf YouTube gibt es tol­le Reviewkanäle wie BeHaind, Robert Hofmann oder Cinema Strikes Back. Mit werstreamt.es könnt ihr gezielt nach der Online-Verfügbarkeit ein­zel­ner Filme schau­en, mit Letterboxd habt ihr eine App, in der ihr euch auf einen Blick die Meinung von tau­sen­den von User.innen ein­ho­len könnt oder mit zwei Klicks auch von ande­ren tol­len Filmen erfahrt, die die Regisseurin gemacht hat, deren Arbeit euch eben erst so begeis­tert hat. 

Schafft Filmen und auch Serien bewusst Raum in eurem Leben — in einer Welt, die eh stän­dig alle Sinne über­flu­tet, wie gut kann es da tun, sich mal für zwei Stunden nur einer Sache hin­zu­ge­ben. Es lohnt sich, ver­spro­chen! Denn wenn man guten Geschichten sei­ne vol­le Aufmerksamkeit schenkt, wird die ein oder ande­re auch beschlie­ßen, zu bleiben. 

Ronja Hähnlein

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