Netflix macht aus dem Unterrichtsexperiment eine anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Bewegung gegen das Establishment, ist dabei aber oft unglaubwürdig.

In Morton Rhues Roman „Die Welle“ aus dem Jahr 1981, der sich an wah­ren Begebenheiten ori­en­tiert, führt der Geschichtslehrer Ben Ross mit sei­ner Highschool-Klasse ein Experiment durch. Aufgrund des Zweifelns der Klasse, dass sich eine mas­sen­haf­te Manipulation der Bevölkerung wie in Nazi-Deutschland wie­der­ho­len könn­te, ruft der Lehrer die Bewegung „Die Welle“ ins Leben. Nach anfäng­li­chem Zögern der Schüler:innen ver­selbst­stän­di­gen sich die tota­li­tä­ren Züge der Bewegung, und die Situation droht in einer Katastrophe zu enden. Doch Ross gelingt es schließ­lich, das Experiment auf­zu­lö­sen und grö­ße­res Unheil abzuwenden.

Nachdem der Roman bereits 2008 mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle ver­filmt wur­de, erschien im November 2019 auf der Streamingplattform Netflix die sechs­tei­li­ge Serie „Wir sind die Welle“. Wer auf eine wei­te­re Ausführung des anti­fa­schis­ti­schen Lehrstücks gehofft hat­te, wird aller­dings ent­täuscht sein. An der Buchvorlage wird sich nur mäßig ori­en­tiert. Die Handlung wird von einer ame­ri­ka­ni­schen Highschool in die fik­ti­ve deut­sche Kleinstadt Meppersfeld ver­la­gert, die Hauptcharaktere sind fünf Abiturient:innen, und es wird auch kein Experiment durchgeführt.

Fünf Freunde gegen den Rest der Welt

Der neu zur Oberstufenklasse des Meppersfelder Gymnasiums gesto­ße­ne Tristan (Ludwig Simon) rekru­tiert sei­ne Mitschüler:innen Rahim (Mohamed Issa), Hagen (Daniel Fridl), Zazie (Michelle Barthel) und Lea (Luise Befort) zu einer anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Protestbewegung, die sich eben nicht auf der rech­ten, son­dern auf der lin­ken Seite des poli­ti­schen Spektrums posi­tio­niert. Die Serie fängt dabei den Zeitgeist der aktu­el­len Lage in Deutschland ein. Während sich Rahim auf dem Schulhof mit Mitschüler:innen her­um­är­gern muss, die in ihrer Freizeit ger­ne Veranstaltungen der Partei NfD – eine nicht zu über­se­hen­de Anspielung auf die AfD – bei­woh­nen, wirkt Hagen, der sich gegen die Umweltverschmutzung der orts­an­säs­si­gen Papierfabrik stellt, wie die kli­schee­haf­te Darstellung eines Fridays-for-Future-Protestierenden. Zazie hin­ge­gen wird von ihren Klassenkamerad:innen gemobbt und hat unter ihrer fami­liä­ren Situation zu lei­den. Nicht ganz ins Bild der „Außenseiter-Clique“ passt hin­ge­gen Lea, die aus rei­chem Elternhaus stammt und sich vom Lebensstil ihrer Eltern zuneh­mend abwen­det. Tristan, der Anführer der Bewegung, die sich pas­sen­der­wei­se den Namen „Die Welle“ gibt, bleibt in der ers­ten Hälfte der Serie ein mys­te­riö­ser Charakter.

Illustration: Gregor Borkowski

Zusammengefunden pla­nen die fünf nun gegen ihre Unterdrücker vor­zu­ge­hen. Die Aktionen der Gruppe wer­den zuneh­mend radi­ka­ler und gefähr­li­cher. Wo anfangs noch sexis­tische Werbeplakate über­malt wer­den, fol­gen bald die Entführung eines Lokalpolitikers und ein Brandanschlag. Natürlich wird all das, so wie es heu­te üblich ist, mit dem Handy auf­ge­nom­men und anschlie­ßend auf einer Videoplattform im Internet zur Schau gestellt. Die Videos ver­brei­ten sich schnell und füh­ren zu einer rasant wach­sen­den Popularität der Bewegung.

Mit Klischees überladen

Die Serie bleibt dabei zumeist aller­dings kli­schee­haft und kratzt nur an der Oberfläche heu­ti­ger gesell­schaft­li­cher Probleme. Wenn sich ein Kaufhauswachmann mit einer Designerjacke abspei­sen lässt und nach einem Einbruch noch­mal bei­de Augen zudrückt, weil er ja für die gute Sache war, wirkt die Szene weit her­ge­holt. Im sel­ben Atemzug sei der Polizist Serner (Robert Schupp) genannt, der einen der weni­gen direk­ten Gegenspieler der Gruppe dar­stellt und – um sei­ne Boshaftigkeit zu demons­trie­ren – ein Tier erschie­ßen darf.
Gerade die Kürze der Serie von sechs Episoden wirkt sich nega­tiv aus. Eine glaub­haf­te Charakterentwicklung kann auf­grund der gerin­gen Zeit so gut wie nicht statt­fin­den, ein über­grei­fen­des, gemein­sa­mes Ziel der gesam­ten Bewegung – abseits von „Gegen das Establishment“ – gibt es nicht. Die Radikalisierung ein­zel­ner Teile der „Welle“ geschieht zu schnell und fühlt sich zu sehr her­bei­ge­wünscht an. Selbiges gilt für die anschlie­ßen­de Rückkehr zu mode­ra­tem Handeln. Die Aktionen der Gruppe begren­zen sich stets nur auf eine Episode, was dazu führt, dass sich die Handlung gerafft und abge­hackt anfühlt.

Ein guter Ansatz macht noch keine gute Serie

Ist „Wir sind die Welle“ also kei­ne sehens­wer­te Serie? Jein. Trotz der Relevanz der in der Serie behan­del­ten Themen ver­pas­sen es die Macher:innen, dem Ganzen einen tie­fe­ren Sinn zu geben. Zum einen mag das viel­leicht dar­an lie­gen, dass die Produktion schon eini­ge Monate vor Greta Thunbergs Protestbewegung begann und man die Aktualität unter­schätz­te. Auf der ande­ren Seite hat man viel­leicht aber auch gar nicht den Anspruch gehabt, als etwas ande­res als eine bes­se­re Abendunterhaltung wahr­ge­nom­men zu wer­den. Das ist vor allem des­halb sehr bedau­er­lich, wenn man sich den Roman „Die Welle“ vor Augen führt, an der sich die Neuinterpretation natür­lich mes­sen las­sen muss. Ließ einen damals der Roman oder auch die spä­te­re Verfilmung mit einem leicht scho­ckie­ren­den Aha-Effekt zurück, so spart sich die Serie fast sämt­li­che Bildungsaspekte. Im Vordergrund ste­hen Spannung, Action und die Beziehungsgeflechte zwi­schen den Charakteren. Da das Ende der letz­ten Folge aber eine Fortsetzung zulässt, gibt es zumin­dest die Hoffnung, dass in einer mög­li­chen zwei­ten Staffel den Charakteren und ihren Taten mehr Tiefe ver­lie­hen wird.

Steckt man sei­ne Erwartungen nicht all­zu hoch, so kann die Serie zwei Abende gut unter­hal­ten. Wer sich aber eine Serie wünscht, wel­che sich tief­grün­dig mit den aktu­el­len gesell­schaft­li­chen Problematiken beschäf­tigt, wird mit Wir sind die Welle nicht zufrie­den sein.

  • Die ers­te Staffel von „Wir sind die Welle“ läuft seit November 2019 auf Netflix.
Illustration: Gregor Borkowski
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