Herzrasen, tro­cke­ner Mund, ver­spann­te Körperhaltung: Die Studentinnen Theresa und Judith ken­nen das Gefühl sozia­ler Angst viel zu gut. Was die einen nur durch „Social Anxiety“ Memes aus dem Netz ken­nen ist für ande­re ein­schrän­ken­de Realität.  

Theresa ist 20 Jahre alt und stu­diert. Sie erzählt, dass es ihr schwer fällt Telefonate zu füh­ren, dem Postboten die Tür zu öff­nen, Essen zu bestel­len, zum Arzt zu gehen, sich in gro­ßen Runden vor­zu­stel­len oder unbe­kann­te Personen anzu­spre­chen. Sogar beim Versenden von offi­zi­el­len Emails an Lehrpersonal oder Nachrichten an Personen, denen sie nicht nahe­steht, ver­spürt sie eine gewis­se Nervosität. 

Unsere Angst aus Gruppen aus­ge­schlos­sen zu wer­den ist evo­lu­tio­när bedingt, da Menschen schon immer auf Beziehungen unter­ein­an­der ange­wie­sen sind. Die mit unse­rem Bindungsbedürfnis ein­her­ge­hen­de Angst vor Ablehnung hat sich durch die Entwicklung zur Leistungsgesellschaft bei vie­len Menschen zu einer Bewertungsangst ent­wi­ckelt. Dabei geht es weni­ger um die Angst vor sozia­len Situationen an sich, son­dern eher um die ein­schrän­ken­de Befürchtung, sich in die­sen vor ande­ren zu bla­mie­ren und Zurückweisung zu erfahren. 

Soziale Angst ist als Spektrum zu ver­ste­hen und reicht von leich­ten bis hin zu extrem behin­dern­den Einschränkungen. Schüchternheit, Introversion oder sozia­le Defizite wer­den oft mit sozia­ler Angst ver­wech­selt, da die Übergänge schwer zu bestim­men sind. Genauso darf nicht aus­ge­schlos­sen wer­den, dass extra­ver­tier­te Menschen an sozia­len Ängsten lei­den. Die 21-jäh­ri­ge Studentin Judith sagt über sich selbst: „Wenn man mich gut kennt, bin ich extra­ver­tiert, aber wenn man mich nicht kennt, wir­ke ich sehr intro­ver­tiert.“ Sie wür­de gern viel häu­fi­ger mit­re­den, anstatt sich die gan­ze Zeit ver­ste­cken zu müs­sen. Bei Vorstellungsgesprächen in Gruppen wir­ke sie immer schüch­tern und ganz anders als sie ohne die Angst eigent­lich sei. 

Was ist Soziale Angst? 

Psycholog:innen unter­schei­den in gene­ra­li­sier­te und spe­zi­fi­sche sozia­le Ängste. Generalisierte sozia­le Ängste bezie­hen sich auf vie­le sozia­le Situationen und wer­den all­ge­mein als „Soziale Angststörung“ bezeich­net. Spezifische sozia­le Ängste, zum Beispiel, die Scheu vor ande­ren zu reden, kön­nen auch mit dem Begriff „Soziale Phobie“ erfasst werden. 

Illustrationen: Marlene Nötzold

Der Psychotherapeut Hans Morschitzky schreibt in sei­nem Buch „Angststörungen“: „Bei einer spe­zi­fi­schen Sozialphobie kann man durch­aus öfter aus­wei­chen, ohne zu gro­ße Nachteile zu ris­kie­ren.“ Währenddessen sei bei gene­ra­li­sier­ten Formen die sozia­le Kontaktfähigkeit an sich beein­träch­tigt. So hät­ten man­che Betroffene in allen sozia­len Situationen Angstsymptome und ande­re nur in Bestimmten. 

„Die Störung kommt bei jün­ge­ren Menschen häu­fi­ger vor. Die Sozialphobie ist nach Depression und Alkoholproblemen die dritt­häu­figs­te psy­chi­sche Störung und die häu­figs­te Angststörung“, schreibt Morschitzky. 

„Ich wür­de es mit einer Stresssituation ver­glei­chen, in der ich mich inner­lich ruhe­los und extrem auf­ge­regt füh­le“, beschreibt Theresa. In Extremfällen, zum Beispiel wenn sie sich nicht auf die sozia­le Interaktion vor­be­rei­ten konn­te, wie in man­chen Seminaren, bei denen man ein­fach auf­ge­ru­fen wird rase, ihr Herz. „Mein Mund wird tro­cken, ich schwit­ze und ich habe das Gefühl, dass mein Kopf heiß wird“, beschreibt Theresa. Teilweise fan­ge sie auch an zu ver­kramp­fen und mit zit­tern­der Stimme zu sprechen. 

Auch Judith erzählt, dass sie sich äußerst unwohl fühlt, wenn sie in Gruppen, in denen sie nicht alle Leute kennt im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. „In der Online-Uni hal­te ich mich des­we­gen fast immer aus Diskussionen und Gesprächen her­aus. Obwohl ich schon oft etwas bei­zu­steu­ern hät­te“, sagt Judith. Besonders bei Präsentationen vor Kommiliton:innen oder wenn sie sich nicht dar­auf ein­stel­len kann im Mittelpunkt zu ste­hen tritt ihre Angst auf. „Auch wenn ich mei­ne Familie oder Freunde nach län­ge­rer Zeit tref­fe, bin ich manch­mal ner­vös“, berich­tet sie. 

Leistungs- und Interaktionssituationen, in denen das eige­ne Verhalten beob­ach­tet und bewer­tet wer­den kann, kön­nen für sozi­al ängst­li­che Menschen eine extre­me Herausforderung sein. 

Einflüsse der Online-Uni 

Schon allein die Pandemie bringt neue Anlässe her­vor sozia­le Situationen zu ver­mei­den. So kann der Gedanke dar­an, einen Hustenreiz in einer gefüll­ter Bahn zu bekom­men, Grund genug sein, sich selbst ein­zu­schrän­ken. Die Online-Uni, über die Studierende die­sen Sommer nun schon im drit­ten Semester ihr Studium bestrei­ten, bie­tet Gelegenheiten zum Rückzug. 

Illustrationen: Marlene Nötzold

„Ich habe das Gefühl, dass mein Unbehagen in sozia­len Situationen seit Beginn der Online-Uni zuge­nom­men hat“, erzählt Theresa. Jetzt, da sie nicht mehr gezwun­ge­ner­ma­ßen tag­täg­lich frem­de Menschen auf dem Campus und in den Vorlesungen begeg­net, lösen Situationen, die vor­her viel­leicht kei­ne Nervosität her­auf­be­schwo­ren hät­ten, ein gewis­ses Unwohlsein in ihr aus. Da ihr das Schicken von Emails und Chatnachrichten auch schon vor Corona ein biss­chen Angst gemacht habe, inte­grie­re sie sich über­haupt nicht mehr im Unterricht. Lieber arbei­te sie das Vorlesungsmaterial eigen­stän­dig durch, ohne Kontakt zu irgend­wem zu pfle­gen. „Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt nicht mehr zu mei­nem ein­zi­gen Seminar zu gehen, weil dort regel­mä­ßig wahl­los Leute auf­ge­ru­fen wer­den“, sagt Theresa. 

Allerdings bie­ten digi­ta­le Lernformate auch Chancen für Betroffene von sozia­ler Angst. Es kann ein­fa­cher sein sich durch die Chatfunktion oder das Mikrofon in eine Veranstaltung ein­zu­brin­gen. So par­ti­zi­pie­ren Menschen in Seminaren und Vorlesungen, die im Vorlesungssaal oder Seminarraum gar kei­ne oder nur weni­ge Worte herausbrachten. 

„Vermeidung führt zur Aufrechterhaltung der Ängste.“  

Theresa berich­tet über sich selbst: „Ich gehe den Situationen, die mir Unbehagen berei­ten könn­ten, ein­fach aus dem Weg. Ich habe mich damit abge­fun­den, dass ich dadurch an man­chen Sachen nicht teil­neh­men wer­de.“ Wirklich aus­ge­schlos­sen füh­le sie sich nicht. Allerdings habe sie schon das Gefühl, dass sie sich durch die Angst ein­schränkt. Theresa sagt, dass sie Leute benei­de, die, ohne nach­zu­den­ken ein­fach einen Anruf täti­gen oder im Supermarkt um Hilfe bit­ten kön­nen. „Ich den­ke, dass manch­mal alles leich­ter wäre, wenn ich mir nicht immer so vie­le Gedanken machen würde.“ 

Mareike Thomas, Mitarbeiterin der Abteilung Klinische Psychologie an der MLU und Psychotherapeutin in der Ausbildung, emp­fiehlt, anstatt sich Sozialen Situationen zu ent­zie­hen – was natür­lich leich­ter und ange­neh­mer ist – das freie Sprechen bei Telefonaten, Seminaren oder ande­ren gefürch­te­ten Szenarios zu üben. 

„Die Vermeidung von Situationen führt zur Aufrechterhaltung der Ängste“, berich­tet Thomas aus ihrer Praxis als Therapeutin. Aktuell kön­ne man sich zum Beispiel mit ein paar Kommiliton:innen über Zoom tref­fen, das Präsentieren üben und dann fra­gen, wie die ande­ren denn einen eigent­lich wahr­ge­nom­men haben. Häufig lie­ge näm­lich ein ver­zerr­tes Selbstbild vor, im Sinne davon, dass man schreck­lich aus­sieht oder knall­rot wird. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass kata­stro­phi­siert wird, wie man selbst auf ande­re wirkt und in allen Fällen war es nicht so schlimm, wie es befürch­tet wurde.“ 

Thomas erklärt, dass Sozialphobiker:innen dazu nei­gen ihren Fokus zu sehr auf sich selbst zu legen. „Ich ken­ne es aus Erfahrung, dass vie­le Angst haben, eine beben­de Stimme zu bekom­men oder mit den Händen zu zit­tern, weil sie so auf­ge­regt sind.“ Weiterhin deu­ten sozi­al ängst­li­che Menschen bei der Beobachtung ihres Umfeldes neu­tra­le oder mehr­deu­ti­ge Reize, wie zum Beispiel einen abwen­den­den Blick, oft falsch und bezie­hen ver­meint­lich nega­ti­ve Reaktionen auf die eige­ne Leistung. Gezieltes Nachfragen, wie ande­re die Situation ein­ge­schätzt haben, kann also sehr hel­fen, denn häu­fig wirkt man auf ande­re ganz anders als man denkt. Thomas emp­fiehlt auch, sich über das eige­ne Sicherheitsverhalten, wie zum Beispiel ein Glas zu grei­fen, weil man Angst hat, dass die Hände zit­tern könn­ten, klar zu werden. 

Konfrontation ist also das Mittel der Wahl. Wenn die Angst über einen lan­gen Zeitraum hin­weg stark anhält, trotz Bemühungen nicht weni­ger wird und den Alltag erheb­lich ein­schränkt emp­fiehlt es sich pro­fes­sio­nel­le Hilfe zu suchen. Thomas rät zum Aufsuchen einer Therapie, wenn man einen hohen Leidensdruck und Beeinträchtigung im täg­li­chen Leben erfährt. 

Unsere Universität bietet diverse Angebote: 

- Psychosozialer Beratungsdienst des Studentenwerks https://www.studentenwerk-halle.de/beratung-soziales/psychosoziale-beratung/beratungsangebote#c267

- Hochschulambulanz für Psychotherapie https://www.psych.uni-halle.de/abteilungen/hochschulambulanz/ 

- IPP Ausbildungsinstitut für Verhaltenstherapie Halle https://www.ipp-halle.de/patienteninformation/ 

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