Der hallische Psychiater und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz veranstaltet am 23.11.2019 in der Leopoldina in Halle eine Tagung mit dem Thema: „Elternschaft und Beziehungskultur. Beziehung als Grundlage für Erziehung“. Dort wird es zahlreiche Vorträge und Workshops zu diesem Thema geben. Generell wird den frühkindlichen Beziehungen von vielen Psychiatern und Psychologen mehr Bedeutung zugemessen als man es annehmen könnte, unter anderem in Bezug auf die Auswirkungen auf das Erwachsenenalter.
Gerade in Filmen und Serien wird diese Thematik oft aufgegriffen: Frauen, die sich auf keinen Mann einlassen können und nebenbei eine katastrophale Beziehung zu ihrer Mutter haben oder Männer, die sich bei jeder Gelegenheit profilieren müssen und deren Väter nichts von all dem anerkennen.
Hans-Joachim Maaz vertritt die Meinung, dass die Ereignisse der ersten drei Lebensjahre für solche Verhaltensweisen verantwortlich seien und so die Beziehungen im Erwachsenenalter oft von den Konflikten der frühen Kindheit geprägt wären.
Wie entscheidend sind die ersten drei Jahre?
Laut Maaz ist es das Optimum, wenn Kinder nicht „erzogen“ werden, sondern in und mit stabilen Beziehungen aufwachsen. Eltern sollten weniger vom Kind erwarten; es ist eher wünschenswert, dass eine Neugierde auf das Kind besteht, um herauszufinden, was ihm wirklich entspricht. Es ist üblich, Kinder in überfüllten Krippen mit zu wenigen Erziehern unterzubringen und sie „fremdbetreuen“ zu lassen, wie Maaz es betitelt. Die Psychologin Gertraud Schlesinger-Kipp ist der Meinung, dass auch wechselnde Tagesmütter ein Problem darstellen, da die Kinder eine sehr enge Bindung zu ihnen aufbauen, doch diese oft abrupt getrennt wird. Unser Betreuungssystem ist auch für viele andere Bindungsforscher und Psychoanalytiker, wie z.B. Graham, Remschmid und Schmidt, keine Alternative für eine Betreuung durch die eigene Eltern, zumindest nicht in den ersten drei Jahren. In dieser Zeit ist das Baby noch komplett schutzlos seiner Umwelt ausgeliefert, auf fremde Hilfe und vor allem Liebe angewiesen. Die leibliche Mutter hat hierbei durch die Schwangerschaft einen großen Vorlauf in der Beziehung zum Kind, da dieses sowohl physisch als auch psychisch mit der Mutter in Verbindung steht. Hat die Mutter zu viel Stress während der Schwangerschaft, kann sich dies auch negativ auf das Kind auswirken; so Dr. Margarete Bolten von der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Basel.
Es habe schmerzliche Folgen für Mutter und Kind, diese Verbundenheit zu früh zu trennen. An der Universität in Halle wird derzeit geforscht, wie man der Mutter durch alternative Räumlichkeiten und verringerte „medizinische Intervention“ die Geburt erleichtern kann. Das Ziel sind weniger Kaiserschnitte, da spekuliert wird, dass der Kaiserschnitt negative Auswirkungen auf Mutter und Kind haben könnte, denn hier wird die physische Trennung unnatürlich schnell vollzogen.
In amerikanischen Studien von Aviva Olsavsky wurden bei Kindern, die zu früh von der Mutter getrennt und vernachlässigt wurden, Veränderungen in der Gehirnregion der Amygdala festgestellt, die durch Magnetresonanztomografie auf eine Anpassung des Gehirns, an frühkindliche Erlebnisse, zurückzuführen seien. Die Amygdala ist das Zentrum für Angstkonditionierung und spielt eine große Rolle in der emotionalen Bewertung von Situationen.
Aus einer Studie des norwegischen Bildungsministeriums geht hervor, dass bei Jungen, die bis zu ihrem 18. Lebensmonat zu Hause betreut worden sind, weniger negative Auffälligkeiten festzustellen waren, als bei ihren „Geschlechtsgenossen“, welche schon mit 12 Monaten in die Krippe gebracht wurden. Allerdings gibt es laut Synnve Schjolberg keine Beweise dafür, dass Krippenbetreuung ab einem Jahr tatsächlich schädlich sei. Kitas und Krippen werben oft damit, dass die Kinder hier von Anfang an mit Gleichaltrigen in Kontakt stehen, das soziale Lernen vorangetrieben werde und sie sich durch die klaren Regel und Strukturen besser in Gruppen integrieren können.
Laut Maaz kann eine schrittweise Eingewöhnung in den Kindergarten behilflich sein, diesen Trennungsschmerz zu lindern. Der Kindergarten ab drei Jahren sei gut für die soziale Kompetenz durch den Austausch mit Gleichaltrigen. Er räumt ebenfalls ein, dass auch bei einer Betreuung durch die Mutter eine gestörte Bindung entstehen kann, wenn das Kind zum Beispiel nicht gewollt ist oder aber die Mutter das Kind nicht so annimmt, wie es ist. Krippe oder Kindergarten können so unter Umständen durch liebevolle Betreuer besser für das Kind sein. Die Bindungsforschung von John Bowlby kommt zu dem Schluss, dass sich frühkindliche Beziehungsstörungen auf die Beziehungen im späteren Leben auswirken würden. Allerdings sei der Bindungstyp auch im Jugend- und Erwachsenenalter durch sehr schwierige oder sehr liebevolle Beziehungen veränderbar.
Maaz beschreibt verschiedene Typen von schlechter „Mütterlichkeit“ oder „Väterlichkeit“. Die am häufigsten verbreitete pathologische Form sei der sogenannte „Muttermangel“. Hier werde dem Kind nicht genug Aufmerksamkeit und Liebe geschenkt, was bei diesem zu der Schlussfolgerung führe, dass es nicht gut genug sei. So lernen viele Kinder früh, wie sie sich zu verhalten haben, um „geliebt“ zu werden – viel zu früh nach Maaz. Oft werde im späteren Leben versucht, diese fehlende Zuwendung und Akzeptanz durch herausragende Leistungen doch noch zu erlangen. Maaz geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet: Jeder Mensch, der herausragende Leistungen erbringe, habe unter einem Muttermangel gelitten. Er bezieht dies besonders auf Spitzenpolitiker, deren Aufgabe darin besteht, immer besonders überzeugt von der eigenen Meinung zu sein. Er wendet dies aber auch auf Leistungssportler oder berühmte Musiker an.
Sind wir alle Normopathen?
Nach Maaz resultieren die frühkindlichen Störungen in gesellschaftlichen Problemen, wie beispielsweise dem übermäßigen Konsum und eine übersteigerte Leistungsgesellschaft. Die westliche Lebensweise sowie der Kapitalismus funktionieren nicht ohne Wachstum. Die grenzenlose wirtschaftliche Expansion sowie die Globalisierung, welche die Ausbeutung anderer Länder zur Folge haben, und die Flüchtlingspolitik, die der Außenpolitik auf paradoxe Art und Weise gegenübersteht, sind für Maaz nur durch das Phänomen der Normopathie zu erklären.
Dabei meint Normopathie, dass gesellschaftlich kranke Normen von der Mehrheit der Menschen getragen werden, um nicht ausgegrenzt zu werden. Gemeint sind genau die vorher beschriebenen Phänomene der Politik beziehungsweise der Gesellschaft, an denen der Großteil der Menschen sich nicht zu stören scheint. Ist man selbiger Meinung, erhält man von der Mehrheit der Menschen Unterstützung und braucht sich nicht zu rechtfertigen. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen sind laut Maaz nur durch das Grundbedürfnis der Zugehörigkeit zu erklären. Auch die tiefe Spaltung der Gesellschaft in die Kritiker der derzeitigen Flüchtlingspolitik und die Befürworter, sind für Maaz ein Zeichen einer geschwächten Gesellschaft. Laut Maaz hält also die Angst, ausgegrenzt oder verurteilt zu werden, die Menschen in diesen doch so paradoxen und teilweise menschenunwürdigen Verhältnissen fest.
Persönliche Hintergründe von Maaz
Er ist zur Zeit des Nationalsozialismus in Böhmen geboren und musste in der frühesten Kindheit mit seiner Familie nach Sachsen fliehen. Aufgewachsen im DDR-Sozialismus studierte Maaz an der Martin-Luther-Universität in Halle Medizin. Daraufhin war er fast 30 Jahre als Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im evangelischen Diakoniewerk in Halle tätig. Inzwischen wurde die „Hans-Joachim Maaz Stiftung Beziehungskultur“ gegründet.
Neben all seinen Ratschlägen gibt Maaz in Interviews eigene Traumata preis. So wurde er selbst, durch die sehr frühe Vertreibung aus seiner Heimat, traumatisiert. Aus dem Grund sei die Flüchtlingskrise für ihn persönlich ein sehr schwieriges Thema, da diese ihn an seine eigenen frühkindlichen Erlebnisse erinnere und dies eine innere Bedrohung auslöse. Seine Aufgabe bestehe darin, reale Bedrohung durch die Flüchtlingskrise von seinem persönlichen Anteil zu unterscheiden. Außerdem redet er von seinem eigenen schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter, da diese von ihm erwartet habe, sie glücklich zu machen, wie er im Interview mit dem umstrittenen Youtuber und Journalisten Ken Jebsen, über sein Buch „Die Liebesfalle“, preisgibt.* Diese Art von Mütterlichkeit nennt Maaz „Mutterbesetzung“. Die Beziehung sei hinderlich für das Kind, da die Mutter permanent von dem Kind verlange, sich so zu verhalten, wie es für sie am Besten ist und nicht für das Kind selbst.
Wer sich mit Maaz beschäftigt, stellt fest, dass er gelegentlich in den Dialog mit AfD-Politikern tritt, weil ihm der Umgang mit der AfD nach eigener Aussage sehr zu bedenken gebe. Seiner Meinung nach ist die Demokratie in Gefahr, wenn man diese Vielzahl an AfD-Wählern ignoriere und es tabuisiere, sich mit ihnen – geschweige denn mit den Politikern – auseinanderzusetzen. Kommunikation ist laut Maaz das Mittel zum Zweck, im Gegensatz zur Hetzte zwischen den Parteien. Er selbst hat vermehrt konservative Ansichten und teilt mutmaßlicher Weise auch Sichtweisen der AfD, bekennt sich aber in Interviews nicht dazu, die AfD zu unterstützen.
Chancen einer verbesserten Frühbetreuung
Nach Maaz würde eine grundlegende Reform der frühen Kinderbetreuung die Zahl von psychisch Kranken im Erwachsenenalter reduzieren und sich möglicherweise auch positiv auf unsere Gesellschaft auswirken. Das würde bedeuten, Mütter zu unterstützten, die ihr Kind in den ersten Jahren zuhause erziehen wollen und mehr Erzieher für weniger Kinder einzusetzen. Es lässt sich darüber streiten, ob die Mutter auch durch Krippenerzieher oder andere Verwandte ersetzt werden kann, aber unumstritten ist, dass das Kind eine stetige, verlässliche Bindung zu einer Person braucht, um sich bestmöglich zu entwickeln. Deshalb ist es für viele Psychoanalytiker und Psychologen ein Problem, dass die Kinderbetreuung so wenig in der Politik besprochen, geschweige denn verbessert wird.
*Dieser Satz wurde nach der Veröffentlichung noch einmal überarbeitet.