Gesamtheit der Wissenschaften und Profilschärfung. Haushaltslöcher und Projektfinanzierung. Informationszeitalter und über­mä­ßi­ge Theoretisierung. Mit wei­tem Blick auf die Motive der Kürzungsdebatte stößt man auf Widersprüche. Wie soll man sie auf­lö­sen? 

Auf dem zen­tra­len Treppenabsatz ste­hend, dem Eintretenden zuge­wandt, wacht eine Bronzebüste über das Foyer des Löwengebäudes. Es ist Christian Thomasius, Philosoph der Aufklärung und geis­ti­ger Gründervater der Universität, der unter sei­ner Lockenperücke das geschäf­ti­ge Kommen und Gehen der Studierenden im Blick hat. Doch was er nun, Anfang 2022, beob­ach­ten muss, ist ein an der hal­le­schen Universität bei­spiel­lo­ser Vorgang: Der Senat beschließt auf Vorschlag des Rektorats einen dras­ti­schen Kürzungsplan, der dut­zen­de Professuren, hun­der­te Beschäftigtenstellen und meh­re­re tau­send Studierendenplätze ver­schwin­den las­sen soll; effek­tiv ein Fünftel der gesam­ten Hochschule. Dass die­ser Beschluss sowohl für die MLU als auch für die Stadt Halle einen schwe­ren Verlust dar­stellt, steht außer Frage. Trotz aller hoch­ko­chen­den Emotionen, Anschuldigungen, Debatten und Demonstrationen lässt sich an den Tatsachen nicht rüt­teln: Unsere Universität steht vor einem lang­fris­ti­gen Umbruch, der sich kaum auf­hal­ten oder gar rück­gän­gig machen las­sen wird. Es ist viel­leicht an der Zeit, sich – fern von jeg­li­chem Untergangspathos – die Frage zu stel­len: Wie sieht die lang­fris­ti­ge Zukunft der Martin-Luther-Universität unter die­sen Umständen aus? 

Bronzebüste von Christian Thomasius
Mit bron­ze­ner Miene: Christian Thomasius (Foto: Stefan Kranz)

Rückwärts immer, vorwärts nimmer 

In den 1960er Jahren tauch­te in den Sozialwissenschaften zum ers­ten Mal der Begriff „Wissensgesellschaft“ auf. Gemeint ist damit eine neue Gesellschaftsformation, in der indi­vi­du­el­les und kol­lek­ti­ves Wissen sowie des­sen Organisation die Grundlage für das sozia­le und wirt­schaft­li­che Zusammenleben bil­det – gewis­ser­ma­ßen die nächs­te Entwicklungsstufe der mensch­li­chen Zivilisation, nach Agrar- und Industriegesellschaft. Auch wenn die­ser Ansatz in der Forschung nicht unum­strit­ten ist, kann doch auch kaum jemand leug­nen, dass sich die Menschheit zur­zeit in einer Phase des tech­no­lo­gi­schen, wirt­schaft­li­chen und gesell­schaft­li­chen Umbruchs befin­det. Internet und Digitalisierung haben gewal­ti­ge Auswirkungen auf Gesellschaft, Sozialleben und glo­ba­le Wirtschaftskreisläufe; die füh­ren­den Unternehmen der Weltwirtschaft sind nicht mehr die klas­si­schen Industriekonzerne, son­dern Technik- und Informationsriesen wie Microsoft, Google, Facebook oder Apple. Menschen wie Elon Musk, Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos besit­zen mehr Macht, Reichtum und Einfluss, als sich ein Rockefeller oder Krupp jemals hät­te träu­men las­sen. Zum Motor und Symbol die­ser Entwicklung ist das Silicon Valley gewor­den, das ein­zu­ho­len und viel­leicht sogar zu über­trump­fen sich die chi­ne­si­sche Regierung zum Ziel genom­men hat – mit ihrer eige­nen Technologieregion im Perlflussdelta. Generell zeich­net sich ab, dass in naher Zukunft der Erwerb und die Weiterentwicklung von Wissen und Technologie zur pri­mä­ren wirt­schaft­li­chen Ressource wer­den könn­ten, mit allen dazu­ge­hö­ren­den Auswirkungen auf Arbeitswelt und Sozialleben. 

Eine zen­tra­le Rolle in die­sem Transformationsprozess spie­len die Universitäten. Sie sind die vor­nehm­li­chen Institutionen zur höhe­ren Wissensvermittlung, sie ver­ei­nen in ein­zig­ar­ti­ger Weise Lehre und Forschung. Ein Beleg für ihre wach­sen­de Wichtigkeit sind die seit Jahrzehnten ste­tig wach­sen­den Studierendenzahlen: Zwischen 1953 und 2013 ver­zwan­zig­fach­te sich allein die Zahl der deut­schen Studierenden von 133.000 auf 2,6 Millionen. Waren Abitur und ein aka­de­mi­scher Abschluss Mitte des 20. Jahrhunderts noch kaum mehr als ein Nischenphänomen, so sind sie heu­te die Wunschlaufbahn vie­ler Schüler:innen. Zum Teil sprengt die Zahl der Studierenden regel­recht die Räumlichkeiten; man­che Vorlesungen müs­sen in meh­re­ren Hörsälen gleich­zei­tig oder sogar außer­halb der Universität – in Halle etwa im Steintor-Varieté – gehal­ten wer­den. Doch trotz des stän­di­gen Wachstums von Nachfrage und gesell­schaft­lich-wirt­schaft­li­cher Bedeutung haben welt­weit, aber auch in Deutschland immer mehr Universitäten und Hochschulen mit finan­zi­el­len Problemen zu kämp­fen. „Kürzung“, „Verschlankung“, „Profilschärfung“ sind die Schlagworte, die in die­sem Zusammenhang ger­ne benutzt wer­den. Die aktu­el­len Kürzungen an der MLU sind nur die jüngs­ten in einer lan­gen Reihe von finan­zi­el­len Beschneidungen. 

Trotz des stän­di­gen Wachstums von Nachfrage und Bedeutung sind “Kürzung”, “Verschlakung”, “Profilschärfung” die Schlagworte.

Wie lässt sich die­se Paradoxie erklä­ren? Wie kann die Landesregierung eines rela­tiv struk­tur­schwa­chen Bundeslandes wie Sachsen-Anhalt die eige­nen Hochschulen, die­se unver­zicht­ba­ren Glieder in der „Produktionskette“ der Zukunftsressource Wissen, der­art ver­stüm­meln? Es drängt sich der Eindruck auf, dass an den poli­ti­schen und büro­kra­ti­schen Schaltstellen eine gewis­se Kurzsichtigkeit herrscht; dass eine mit­tel­fris­ti­ge Erleichterung des Landeshaushalts wich­ti­ger ist als eine nach­hal­ti­ge Investition in die in Wahlprogrammen so oft beschwo­re­ne Zukunft. Dass die­se Haltung offen­bar von einem Wissenschaftsminister mit­ge­tra­gen wird, der selbst einst Rektor einer Hochschule war und den Wert aka­de­mi­scher Institutionen eigent­lich ken­nen soll­te, macht die Sache nicht weni­ger wider­sprüch­lich als die stets ange­führ­te Rechtfertigung, die MLU lei­de nun ein­mal unter einem finan­zi­el­len Defizit. Denn einer­seits ist die klam­me Haushaltslage der Universität offen­bar zum größ­ten Teil haus­ge­macht – wür­de sich die Landesregierung an den Zukunftsvertrag mit dem Bund hal­ten und wie die­ser 40 Millionen Euro bei­steu­ern, gäbe es das aktu­el­le Budgetloch nicht – ande­rer­seits ist eine Hochschule ihrem Wesen nach grund­sätz­lich immer defi­zi­tär. Bildung und Forschung sind kol­lek­ti­ve Güter, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern in irgend­ei­ner Weise zur Verfügung stel­len muss, wenn sie im moder­nen Zeitalter und ins­be­son­de­re in der sich anbah­nen­den Wissensgesellschaft bestehen will; dabei kann sich die Kosten-Nutzen-Rechnung nicht nur auf den Haushaltsplan einer ein­zel­nen Institution beschrän­ken, son­dern muss in einem viel grö­ße­ren, gesell­schaft­lich-wirt­schaft­li­chen Rahmen gedacht wer­den. Von die­sem grund­sätz­li­chen Aspekt ein­mal abge­se­hen, sind 40 Millionen Euro selbst für den Haushalt eines ver­gleichs­wei­se finanz­schwa­chen Bundeslandes wie Sachsen-Anhalt (12,4 Milliarden im Jahr 2021) kaum mehr als „Peanuts“. Das Geld zur voll­stän­di­gen, unge­kürz­ten Finanzierung der MLU und ande­rer deut­scher Universitäten ist durch­aus vor­han­den; das Problem sind offen­bar die anders aus­ge­rich­te­ten Prioritäten. 

Das Ende der Universitas? 

Manche könn­ten an die­ser Stelle ein­wen­den, dass es sich bei den aktu­el­len Kürzungen an der MLU mit­nich­ten um ein kurz­sich­ti­ges Manöver han­delt, son­dern um ein längst über­fäl­li­ges Zurechtstutzen auf das Wesentliche. Immerhin lau­tet das Schlagwort des Rektorats „Profilschärfung“ und im natur­wis­sen­schaft­li­chen Bereich kann Halle immer­hin als Standort meh­re­rer Forschungsinstitute wie bei­spiels­wei­se dem Leibniz-Institut für Pflanzen-Biochemie punk­ten. Diesem Argument wider­spricht jedoch die Art der Kürzung; so soll neben Einsparungen bei Pharmazie, Biochemie und Agrarwissenschaften auch die Professur für Anorganische Chemie ver­schwin­den, die für eine Stärkung des natur­wis­sen­schaft­li­chen Bereichs eigent­lich von gro­ßer Bedeutung wäre. Dass noch 2017 die Bundesforschungsministerin am Weinberg-Campus ein neu­es, von Land und Bund mit 40 Millionen Euro (!) finan­zier­tes Proteinforschungszentrum eröff­ne­te, wirkt vor die­sem Hintergrund eben­so absurd wie die gera­de­zu zufäl­lig wir­ken­de Auswahl der übri­gen zu kür­zen­den Fachbereiche. 

Doch auch wenn man die­se Widersprüchlichkeit aus­blen­det, könn­te man argu­men­tie­ren, dass zumin­dest eini­ge „Orchideenfächer“ wie Japanologie oder Altertumswissenschaften zu Recht auf der Abschussliste ste­hen, schei­nen sie doch nur wenig zur Nützlichkeit MLU bei­zu­tra­gen. Überlegungen die­ser Art hört man immer wie­der; sie sind Ausdruck eines Prozesses, der eben­so wie die Transformation zur Wissensgesellschaft immer mehr an Fahrt auf­zu­neh­men und mit die­ser untrenn­bar ver­bun­den zu sein scheint. Denn selbst wenn man finanz­po­li­ti­sche Erwägungen bei­sei­telässt, scheint die Universität der Zukunft, die zen­tra­le Institution der Wissensgesellschaft, eine zum gro­ßen Teil ver­schul­te, kar­rie­re- und berufs­ori­en­tier­te Angelegenheit zu sein. Ein Ort der Ausbildung und nicht der Bildung, der sich ganz dem öko­no­mi­schen Nutzenkalkül unter­wor­fen hat und vor allem als Station auf dem Weg ins Berufsleben gese­hen wird. Für eine sol­che Einrichtung scheint dann auch das nüch­tern-büro­kra­ti­sche Wort „Hochschule“ als Bezeichnung bes­ser geeig­net zu sein als die idea­lis­ti­sche „Universität“. Das Konzept der uni­ver­si­tas lit­te­ra­tum, der „Gesamtheit der Wissenschaften“ im Sinne Wilhelm von Humboldts scheint kei­nen Platz mehr in der aka­de­mi­schen Welt der Zukunft zu haben. 

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