Ich gebe mich als Kunstkritiker aus und gehe das zwei­te Mal in mei­nem Leben in die Oper. Ihr wer­det über­rascht sein, wie vie­le komi­sche Momente so ein Abend bereit­hal­ten kann. Ein Bericht über Demografie in Kulturstätten, bemit­lei­dens­wer­te Gestalten und appe­tit­an­re­gen­de Kunst.

Bevor ich mit der Beschreibung eines wun­der­ba­ren Abends und dem Urteil zu der Aufführung begin­ne, sei dar­auf hin­ge­wie­sen, dass ich von künst­le­ri­schen Darstellungsformen, wie eben zum Beispiel der Oper, unge­fähr so viel Ahnung habe wie von Wein. Und wenn ich zum Besten gebe, dass mei­ne Antwort auf die Frage einer Winzerin, was ich denn trin­ken wol­le, „Irgendwas Weißes“ war, soll­te klar sein, dass Ihr hier kei­ne Expertise erwar­ten dürft.

Haute culture

Nun aber hin­ein in das bun­te Vergnügen. Kulturveranstaltungen sind bekannt­lich eine Gelegenheit, sich mal wie­der so rich­tig in Schale zu wer­fen. Und das las­sen mei­ne drei Freunde und ich uns natür­lich nicht ent­ge­hen. In Hemd und Mantel geht es in das schö­ne Gebäude, das gegen­über des Löwencampus gele­gen ist.

Vorbei an den Frauen im Pinguin-Look, die für Tickets und Garderobe ver­ant­wort­lich sind, gelan­gen wir in eine Art Aufenthaltsraum. Dort kön­nen für hor­ren­de Preise Brezeln, Fettbemmen und Wein ergat­tert wer­den. Nach einem kur­zen Ausflug an die­se Theke set­zen wir uns an einen der zahl­rei­chen Tische, die mit Blickrichtung auf eine klei­ne Bühne an der Fensterfront des Raumes auf­ge­reiht sind.

Der Saal füllt sich zuneh­mend. Auffällig ist vor allem, dass wir das Durchschnittsalter des Publikums erheb­lich sen­ken dürf­ten. Weißes Haar und Falten, wohin das Auge blickt, zwi­schen­durch auch mal eine Glatze und ein Mann, der ver­blüf­fen­de Ähnlichkeit mit Albert Einstein hat.

Spoiler alert!

Wir alle war­ten nun auf die Einführung. Denn so viel weiß ich bereits: bevor die eigent­li­che Oper beginnt, führt der Dramaturg das Publikum in das Stück ein. Der lässt auch nicht lan­ge auf sich war­ten und sieht aus wie eine Parodie auf Florian Schroeder, den Moderator und Kabarettisten.

Für die­je­ni­gen von Euch, die noch nie in einer Oper waren: die Hinführung zu dem Stück ist ein ein­zi­ger Spoiler. Neben his­to­ri­schen und bio­gra­phi­schen Hintergründen wird in zwan­zig Minuten ein­mal das kom­plet­te Stück abge­ris­sen, damit am Ende auch ja kei­ner über­rascht ist, wenn die Geliebte in den Armen der Hauptfigur einen gan­zen Monolog lang vor sich hin­stirbt. Vor allem aber dürf­te die­ser Überblick dazu die­nen, dass sich die Kulturgenießenden wäh­rend der Aufführung auf die Darstellung an sich kon­zen­trie­ren kön­nen, ohne auch noch dar­über nach­sin­nen zu müs­sen, wor­um es eigent­lich gera­de geht. Hinzu kommt, dass in Originalsprache gesun­gen wird, also ita­lie­nisch, und man per­ma­nent damit beschäf­tigt ist, auf den links und rechts der Bühne ange­brach­ten Monitoren die Übersetzung zu lesen.

Von links: Andreas Beinhauer, Franziska Krötenheerdt. Foto: Anna Kolata (Bühnen Halle)

Da fällt mir auf: Ihr wisst ja auch noch nicht, wel­che Inszenierung wir uns anse­hen. Es war „La bohè­me“ von Puccini, was für mich aber eher nach Pizza als nach hoher Kunst klingt. Florian Schroeders Double erklärt uns dann, es gehe bei die­ser ita­lie­ni­schen Oper mit dem fran­zö­si­schen Namen ganz zen­tral um Kunst, Kunst und noch­mal Kunst (qua­si Kunst über Kunst, das hat ja rich­tig Meta­ebene). Das Werk sei ein „Abgesang auf die Jugend“ – genau das Richtige also für ein paar Studierende in ihren Zwanzigern – und han­de­le von vier Künstlern, die frie­ren und hun­gern, weil sie alle­samt von ihrer Arbeit nicht leben kön­nen. Auch an Beziehungsdramen in der Handlung sol­le es nicht feh­len. Das dürf­te für vie­le von uns eigent­lich nach einem ganz gewöhn­li­chen Wintersemester klingen.

Hinter den Kulissen

Spannend ist auch, was der Dramaturg über das Handwerk hin­ter „La bohè­me“ zu berich­ten hat. Als Werk des Naturalismus spie­le sich die Handlung auf vie­len ver­schie­de­nen Ebenen ab, stän­dig ver­lie­fen Szenen oder Musikelemente par­al­lel. À pro­pos Musik: die erin­ne­re etwas an Richard Wagner, aller­dings wer­de sie bei Puccini dop­pelt so schnell gespielt. (Und wie­der Wagner und Puccini: sicher, dass wir nicht doch an der TK-Abteilung von Edeka stehen?)

Nach mei­nem Verständnis hat jede Oper min­des­tens eine Pause, was ange­sichts zwei Stunden geball­ter Eindrücke auch abso­lut not­wen­dig ist. So unter­teilt sich das Stück in zwei Teile, die selbst noch ein­mal aus je zwei „Bildern“ (gemeint sind die Bühnenbilder der Szenen) bestehen. Für die „bohè­me“ gilt, dass die ers­te Hälfte eine Komödie und die zwei­te eine Tragödie dar­stel­len soll.

Nach den umfang­rei­chen Erläuterungen ist es dann end­lich Zeit, sich auf die Plätze im Saal zu begeben.

Der Plot

Wir beglei­ten für die fol­gen­den 120 Minuten Rodolfo (Dichter), Marcello (Maler), Schaunard (Musiker) und Colline (Philosoph), die ver­zwei­felt ver­su­chen, in der Kälte des 24. Dezembers nicht zu erfrie­ren; not­falls wer­den eben die eige­nen Werke ver­brannt, um den Ofen anzu­hei­zen. Als der Musiker uner­war­tet Geld nach Hause bringt, soll auch das umge­hend ver­brannt wer­den. Allerdings nicht im Kamin, son­dern in der Stammkneipe. Alle zie­hen los, bis auf Rodolfo, der Besuch von sei­ner Nachbarin Mimi erhält. Er ver­liebt sich sofort in sie und auch ich fin­de die Rolle der Mimi hin­rei­ßend gespielt. Er ver­steckt ihren Schlüssel, sodass sie ihm und sei­nen Freunden durch das tur­bo­ka­pi­ta­lis­ti­sche Weihnachtsshopping bis zur Bar fol­gen muss.

Dort ange­kom­men, tref­fen die Freunde auf Musetta, eine ade­li­ge Frau, die eine On-off-Beziehung mit Marcello führt. Weil der aber län­ger abwe­send war, hat sie sich der­weil einen rei­chen alten Kerl gean­gelt. Ihre wech­seln­den Partnerschaften und ihr Drang zum Flirten brin­gen sowohl den alten Herrn als auch Marcello immer wie­der dazu, sie wüst zu beschimp­fen, nur um sich kurz dar­auf wie­der bei ihr anzu­bie­dern. Indes artet das Trinkgelage aus. Die Polizei ver­sucht, die Veranstaltung auf­zu­lö­sen und die vier Künstler mit den bei­den Damen prel­len natür­lich die Zeche, weil die Rechnung letzt­lich doch den eige­nen Haushalt über­steigt. (Klingelt da was im poli­ti­schen Berlin?)

In der zwei­ten Hälfte wird es dann ernst. Rodolfo will sich eini­ge Monate spä­ter von Mimi tren­nen, weil sie schwer krank ist und er ihr auf­grund sei­ner finan­zi­el­len Lage nicht hel­fen kann. Sie beschlie­ßen, sich erst im Frühjahr zu tren­nen. Wieder ver­geht etwas Zeit, die Stimmung scheint sich zu heben, denn die Künstler neh­men ihre nach wie vor beschei­de­ne Situation mit Humor und albern her­um. Doch dann bringt Musetta Mimi von der Straße her­ein, die dort zusam­men­ge­bro­chen war. In einem Wechsel von Monologen und dem Dialog zwi­schen den bei­den Liebenden stirbt Mimi sehr lang und eben sehr wort­reich. Kurz dar­auf schließt sich der Vorhang. Kein Happy End.

Von links: Andreas Beinhauer, Chuhyun Kim. Foto: Anna Kolata (Bühnen Halle)

Sehr viel Meinung

Eingangs erwähn­te ich, dass ich kei­nen Schimmer von Kunst habe, ich bin also nicht in der Lage zu bewer­ten, wie gut die­se Umsetzung des Stoffes im Vergleich zu ande­ren war. Das hält mich aber nicht davon ab, trotz­dem unge­fragt mei­ne Meinung hier kund­zu­tun. Vielleicht bin ich gar nicht ich, son­dern ein Boomer auf Facebook?

Ich hat­te das Gefühl, dass die weni­gen Modernisierungen der Geschichte gut in das Stück pas­sen, das im Original aus dem Jahr 1896 stammt. Bestes Beispiel dafür ist die Szene mit den Kindern, die sich auf dem Markt, dem ana­lo­gen Amazon Prime, um die neu­es­ten Spielzeuge klop­pen. Es gelingt der Inszenierung, das Bild aus Puccinis Lebenszeit (1858–1924) zu ver­mit­teln, ohne es unnö­tig mit moder­nen Anspielungen zu über­frach­ten. Die Darsteller:innen sind abso­lut text­si­cher, was bei einer Live-Aufführung, selbst für Profis, kei­ne Selbstverständlichkeit ist. Ein ein­zi­ges Mal höre ich, wie die Souffleuse – ja, das ist ein Beruf und kei­ne Eierspeise – Hilfestellung gibt. Die Musik bekräf­tigt in mei­nen Augen erfolg­reich das Geschehen auf der Bühne. Außerdem krie­gen mich Liebesdramen sowie­so immer, zumin­dest außer­halb des Fernsehens.

Die Kriterien, nach denen ich mei­ne Begegnungen mit Kunst bewer­te, sind Unterhaltung und die Frage, ob das Kunstwerk mich dazu bringt, über das rei­ne Erleben hin­aus nach­zu­den­ken. Beides hat mir die­ser Abend beschert, des­halb erach­te ich ihn als gelun­gen und kann nur wärms­tens emp­feh­len, sich irgend­wann ein­mal selbst von dem Werk über die Kleinkünstler (irgend­wo zuckt Marc-Uwe Kling gera­de zusam­men) zu überzeugen.

Text: Julian Herold

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