Die Geschichte der Wende ist eine Geschichte voller Missverständnisse, könnte man sagen. Aber vor allem ist es eine, deren ungelöste Konflikte uns immer mehr um die Ohren fliegen. Sie formt die deutsche Gesellschaft bis heute, während der Prozess selbst Teil einer Verkettung von Ereignissen ist, die sich um eine Jahrhunderte alte Machtfrage ranken.
„Der Mauerfall ist über 30 Jahre her, jetzt ist auch mal gut mit dem Ost-West-Thema, wir sind ja ein geeintes Land!“ – so oder so ähnlich hört man es immer wieder. Ost-West – das sei doch vorbei. Nun ja. Es kommt darauf an, wen man fragt. So lobenswert eine solche Vorstellung ist, so wenig deckt sie sich mit der Realität.
Die ehemalige Grenze ist nach wie vor auf so gut wie jeder demographischen Karte erkennbar – Religionszugehörigkeit, Rentenniveau, Erbschaft, Ehrenamt, Heiratsalter – für verschiedenste gesellschaftliche Aspekte zeichnen sich erkennbare Differenzen ab. Dass 40 Jahre Trennung ihre Folgen bis heute zeigen, ist nur logisch. Doch diese Unterschiede sind nicht einfach nur Unterschiede und sie lassen sich auch nicht allein auf die Teilung zurückführen. Es handelt sich allzu oft um Machtgefälle und ein großer Teil davon hat seine Wurzeln in dem Prozess, der heute „Wiedervereinigung“ genannt wird. Einer aktuellen Umfrage zufolge fühlen sich 50 % der Ostdeutschen wie Bürger:innen zweiter Klasse in ihrem eigenen Land. Gleichzeitig sagen 73 % der Westdeutschen, dieser Eindruck sei nicht berechtigt.
“Wir sind ein Volk!”
Reden wir über die „Wiedervereinigung“. Was das Wort so schön suggeriert, ist eine Zusammenführung auf Augenhöhe. Die eingesperrten Menschen im Osten wurden befreit aus den Klauen des bösen Sozialismus’ und der großen Freiheit des Westens zugeführt. Dort wurden sie mit offenen Armen empfangen und endlich kam wieder zusammen, was zusammengehört. Außerdem gab es nun auch richtige Cola für die Ossis. Das zu dem romantischen Bild, was in den letzten 30 Jahren fleißig zu zeichnen versucht wurde und noch immer wird.
Doch kommen wir lieber zu den Fakten: Die Wende machte sich bei einem Drittel der damals berufstätigen Ostdeutschen in der Arbeitsbiografie bemerkbar. Mit Hilfe der Treuhand wurden die staatlichen Betriebe zerschlagen und privatisiert. In dieser Zeit kam es zur ersten Entlassungswelle. Die Käufer:innen waren natürlich in überwältigender Mehrheit Investor:innen aus dem Westen. In der DDR gab es kaum reiche Eliten. Doch die Betriebe und ihre Wirtschaft waren nicht auf kapitalistische Maxime ausgelegt. Viele wurden von den neuen Eigentümer:innen “umstrukturiert”, wie es so schön heißt, und/oder nach wenigen Jahren geschlossen. Während so im Osten der große Niedergang einsetzte, kam es im Westen zu einem kleinen Wirtschaftsboom. Neben den „zahllosen Investitionsmöglichkeiten“ gab es einen neuen Markt, den man mit Produkten aus Westdeutschland, USA und so weiter fluten konnte. Die Nachfrage war groß – die starke Sanktionierung von Westprodukten zu DDR-Zeiten machte diese zu heißbegehrter Ware. Lokale Hersteller konnten oft nicht mithalten und gingen pleite. In den Nachwendejahren verloren im Osten so viele Menschen ihre Stelle, dass Anfang der Nullerjahre – in den Hochzeiten deutscher Arbeitslosigkeit – hier jede fünfte Person erwerbslos war. Im Vergleich: im Westen war es zeitgleich nur jede zehnte. Das also zu den „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl seinerzeit versprochen hatte. Arbeitslosigkeit und Armut als Massenphänomen in einem Land, in dem das vorher kaum Thema war – damit kam für viele die erste Ernüchterung. Das ist auch einer der Gründe, warum bis heute das ostdeutsche Rentenniveau deutlich unter dem westdeutschen liegt. Während westdeutsche Investor:innen das Kapital aus den sogenannten neuen Bundesländern holten, nahmen sie vielen die Möglichkeit, zu arbeiten und damit in die Rentenkasse einzuzahlen. Auch wurden große Versprechungen aus der Anfangszeit schlicht nicht gehalten. Den DDR-Eisenbahner:innen zum Beispiel sicherte man bei der Wiedervereinigung einen Betriebsrentenanteil von der Bahn zu, wie er westdeutschen Kolleg:innen zusteht – bekommen haben sie den aber nie. Auch Bergleute waren betroffen: Bei der Sozialversicherung sind sie als solche eingetragen worden, doch die Knappschaft verweigerte eine Anerkennung. Damit erhalten sie bis heute monatlich 400 Euro weniger Rente.
Nach wie vor bestehen die Vorurteile bezüglich der ostdeutschen Wirtschaft zur Wendezeit. Gerne wird die „Schrottnarrative“ bedient, wonach die BRD kaum Nützliches mit der Wiedervereinigung erhielt. Jedoch gab es einen neuen Markt mit 16 Millionen Menschen und man konnte eine beachtliche Wirtschaftskraft aus den staatlichen Betrieben in die Taschen westlicher Privatiers und Investor:innen umschichten. Die Mär von der großen Verschuldung der DDR stimmt auch nicht so ganz. Tatsächlich kam bei einer Untersuchung der Deutschen Bundesbank im Jahr 1999 heraus, dass die Verschuldung nicht halb so hoch war, wie 1989 kalkuliert. Aber da war der Mythos schon geschaffen.
Doch nicht nur die betrieblichen Strukturen wurden zerschlagen und neu zusammengewürfelt, auch die der sozialen Absicherung, Bildung, Gesundheit und so weiter wurden nach westdeutschem Vorbild errichtet. Ebenso die Justiz und Gesetzeslage. Man verwarf die Dinge, ohne einen genaueren Blick darauf zu werfen – schließlich war eh alles „ideologisch durchsetzt“. Ein schönes Beispiel ist die Ethnographie. Das war der ostdeutsche Begriff für Ethnologie und nach der Wende wurde praktisch alles davon in den wissenschaftlichen Giftschrank gepackt, weil die ideologische Einfärbung der Forscher:innen die Ergebnisse angeblich unbrauchbar mache. Ein Dozent erzählte mir im ersten Semester, er wisse von einer(!) ostdeutschen Kollegin, die auch nach der Wende weiter Karriere machte. Gut, immerhin wurden ihre Bildungsabschlüsse anerkannt. Das Glück hatten viele andere auch nicht.
„Wiedervereinigung“ – nun ja, vielmehr wurde die BRD den Leuten im Osten einfach übergestülpt. Aber das ist nun mal kein so hübsches Bild wie das der romantischen Zusammenführung.
Die Spitzen des Landes
Warum schreibe ich das alles? Weil die Geschichte der DDR und der Wende – die Geschichte meines Landes – noch immer einem westdeutschen Narrativ unterliegt.
Ich komme aus einem Dorf von der Nordseite des Thüringer Waldes und ich studiere Sozialwissenschaften. Es ist eine persönliche und eine wissenschaftliche Perspektive, die sich bei mir zu einer Menge Frust vermengen. Es wird so viel über „den Osten“ geschrieben und geredet, doch die Menschen von hier haben wenig Mitspracherecht. Die Attitüde, mit der auch die Politik in den Wendejahren betrieben wurde, steckt bis heute tief im Mark der deutschen Gesellschaft.
2022 war bei den 100 größten Hochschulen dieses Landes genau eine Rektoratsstelle mit einer ostdeutschen Person besetzt. Ganze zwei Mitglieder, die im Osten geboren wurden, gab es in den Vorständen der 30 größten DAX-Konzerne. In den Medien sind derzeit rund 8 % der Spitzenkräfte ostdeutsch. In der Justiz knapp 2 %. Sogar im Osten selbst sind ostdeutsche Eliten unterrepräsentiert. 20 % der Bevölkerung der sogenannten neuen Bundesländer haben westdeutsche Wurzeln, aber in Wissenschaft, Wirtschaft, Justiz, Medien und Politik besetzten sie rund 74 % der Elitepositionen. Bundesweit liegt der Anteil von Ostdeutschen in Spitzenpositionen insgesamt immerhin bei 3,5 %. Wahnsinn.
Auch 33 Jahre nach der Angliederung der sogenannten neuen Bundesländer an Westdeutschland haben ihre Bewohner:innen kaum Einfluss auf das Geschehen in diesem Land. Da helfen die 20 % ostdeutsche Vertreter:innen in der Spitzenpolitik (was in etwa proportional zur Gesamtbevölkerung ist) wenig. Zumal ein neuer Trend einzusetzen scheint. Zwischen 2018 und 2022 wurden mehr als die Hälfte aller Spitzenpositionen neu besetzt: 8 % der Stellen mit westdeutschen Vorgänger:innen wurden mit ostdeutschen Kandidat:innen nachbesetzt. Verließ ein:e Ostdeutsche:r seine:ihre Position, rückten in 54 % der Fälle Westdeutsche nach. Die strukturellen Benachteiligungen der letzten Jahrzehnte werden nicht etwa bekämpft, sie werden gelebt. Aber gut, dreiviertel der Westdeutschen sieht ja auch keine Benachteiligung ostdeutscher Bürger:innen. Und wenn die Mehrheit der privilegierten Mehrheit in diesem Land kein Problem erkennt, dann wird dieses auch nicht behoben werden. Vielmehr sehen viele das Problem im Osten selbst.
Mit Blick von oben
Zugegeben, den Satz „Das Ost-West-Thema ist vorbei.“ hört man in den letzten Jahren vielleicht wieder etwas weniger. Grund dafür sind Umfragewerte und Wahlergebnisse. Aktuellen Erhebungen zufolge würden ein Drittel der Ostdeutschen die AfD wählen, eine Partei, die inzwischen (Stand Dezember 2023) vom Verfassungsschutz in drei Bundesländern offiziell als rechtsextrem eingestuft ist. In drei ostdeutschen Bundesländern. Ein weiteres Viertel würde der Union ihre Stimme geben, was bei der derzeitigen Bundespolitik, aber vor allem bei den ostdeutschen Landesverbänden der CDU, auch nicht gerade eine Stimme für die politische Mitte wäre. Abgesehen davon, dass die AfD auch in westdeutschen Bundesländern immer höhere Umfragewerte erzielt, ist der daraus folgende Schluss für viele inzwischen „Die Ostdeutschen können keine Demokratie.“ – ein Satz, der mich ziemlich sauer macht. Zumal wenn er von Menschen kommt, die durchgehend bis 1998 ehemalige NSDAP-Mitglieder in ihr Parlament gewählt haben.
Vorweg: Ich bin Demokrat. Mit aller Überzeugung und Verzweiflung, die dazu gehört. Ich habe kein Verständnis für Menschen, die eine demokratie- und menschenfeindliche Partei wählen. Aber ich kann nachvollziehen, warum sich so viele von den etablierten Parteien und auch von der Demokratie abwenden. Nachvollziehen ist nicht verstehen. Dennoch sehe ich, woher die Entscheidung rührt; aus wissenschaftlicher und aus persönlicher Perspektive.
Viele suchen Erklärungen für den großen AfD-Zuspruch im Osten, aber oft bleibt diese Suche oberflächlich. Von „Ost-Frust“ wird da viel geredet, während gleichzeitig dieses romantische Bild der Wiedervereinigung im Kopf besteht – und entsprechend Unverständnis. Oft kommt dann noch eine gewisse Überheblichkeit dazu, „die Ossis sollen mal dankbar sein, wir haben denen schließlich die Demokratie gebracht und schicken da bis heute einen Haufen Geld rüber.“ Nur dass das nicht die Perspektive vieler Ostdeutscher ist.
Sie stehen in einem Land, in dem sie weniger Gestaltungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen haben als Westdeutsche. Sie verdienen auch weniger Geld, kriegen weniger Rente. Sie erinnern sich, dass zu DDR-Zeiten alle selbstverständlich einen Platz im nächsten Kindergarten bekommen haben oder einen Job. Der Betrieb war auch mehr als nur ein Arbeitsplatz, er war ein Begegnungsort, wo Sozialität und Gemeinschaft gefördert wurden. Die soziale Ungleichheit war einerseits geringer und andererseits weit weniger sichtbar. Für die Mehrheit war das ein abgesichertes Leben.
Heute wohnen sie in einem Land, in dem die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft, und sie aufgrund der Politik und Wirtschaft der Wendejahre hauptsächlich auf der armen Seite stehen. Sie sehen all die Probleme von fehlender Chancengleichheit und Klassismus, unter denen Deutschland immer weiter ächzt. Die Träume und Versprechungen von 1990 haben sich kaum erfüllt. Was dagegen kam, war Verlust. Nur ein knappes Viertel aller Ostdeutschen würde sich heute als Gewinner:in der Wende bezeichnen.
Was sie dafür erhalten haben, ist ein westdeutsches Narrativ; die Geschichte wird von den Sieger:innen geschrieben. Viele Analysen zu dem Thema unterschätzen die ideologische Komponente der Wende. Was bei dem Überstülpen westdeutscher Standards nämlich passierte, war das komplette Verwerfen von 40 Jahren Arbeit. „Ihr habt hier Jahrzehnte lang nur ideologisch-verblendeten Unsinn verzapft, hier: das ist alles besser.“. Nichts wurde behalten, nichts. Stattdessen wurde die westdeutsche Vorstellung, dass bei ihnen ausnahmslos alles besser war, in Gesellschaft und Geschichtsbücher getragen. Was für ein Schlag in das Gesicht von Menschen, die sich jahrelang als wichtigen Teil eines Kollektivs verstanden haben, das zusammen etwas aufbaute! Und dann stimmt diese Vorstellung nicht einmal.
Neben den bereits dargestellten Verschlechterungen für den Lebensstandard vieler Ostdeutscher gab es durchaus Aspekte der DDR-Gesellschaft, die progressiver waren als die der BRD. Der Osten war, was die Gleichstellung der Frau anging, viel fortgeschrittener. Diese waren beispielsweise deutlich mehr ins Berufsleben integriert, unterstützt durch ein stabiles Netz an Kinderbetreuung, und hatten seit 1972 das Recht, sich selbstbestimmt für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Als bei der Wiedervereinigung die Gesetze der BRD übernommen wurden, machte das Abbrüche wieder prinzipiell strafbar – bis heute. Auch gab es mit dem Paragraphen §175 erneut ein Gesetz, durch das bei homosexuellen Handlungen zwischen minderjährigen und über 18-jährigen Männern für letzteren eine bis zu fünfjährige Freiheitsstrafe drohte. Das war in der DDR im Jahr zuvor erst entkriminalisiert worden.
Die Gesundheitsversorgung war auf dem Land genauso gesichert wie in der Stadt, es existierte ein nicht-dreigleisiges Schulsystem, das bis heute von sehr viele Pädagog:innen und Soziolog:innen gefordert wird. Betriebe und Genossenschaften waren nicht nur dafür da, deren Besitzer:innen reicher zu machen.
Was auch gern vergessen wird: die friedliche Revolution. Der Mut all der Menschen, die in einem autoritären Staat wie der DDR auf die Straße gingen, um mehr Freiheit zu fordern, findet bis heute wenig Beachtung, geschweige denn Anerkennung. Aber die Ossis können ja keine Demokratie.
Die Wende war die einmalige Möglichkeit, das Beste aus beiden Ländern zu nehmen, und daraus eine sozial gerechtere und bessere Gesellschaft zu schaffen als die, in der wir bis heute leben. Doch diese Chance wurde vertan; aus ideologischen Gründen.
Eine deutsche Tradition
Über die Indoktrinierung in der DDR wird oft geredet, doch die ideologische Ausrichtung der BRD übersieht man gerne. Demokratisch, frei – das war’s. Dabei fehlen hier noch zwei Begriffe: kapitalistisch und anti-links.
Die Wende wurde nicht nur als Zusammenführung eines Volkes betrachtet, im Rahmen des Kalten Krieges galt sie auch als wichtiger Sieg des Kapitalismus’ über den offiziell sozialistisch-kommunistischen Ostblock. In den Jahrzehnten zuvor hatten Politik, Wirtschaft und Medien der BRD und der gesamten sogenannten Westlichen Welt sehr viel getan, um linke Ideen negativ zu framen. Man wollte sich als Weltmacht gegenüber der UdSSR durchsetzen und einem von Nationalsozialist:innen durchsetzten Staat wohnt ohnehin eine „von Natur aus“ anti-linke Haltung inne. Die Diktaturen, die in den Ostblockstaaten unter Berufung auf vermeintlich sozialistische und kommunistische Ideen entstanden, eigneten sich hervorragend als Schreckgespenst. Besonders zu spüren bekam das die 68er-Bewegung, wo das politische und mediale Framing ihrer Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit, Frieden und Aufarbeitung der NS-Vergangenheit doch sehr an die Reaktionen auf heutige Klimaschutzbewegungen erinnert.
Aus dieser Haltung heraus ging auch die Wende vonstatten. Allein die Idee, sich näher mit den Strukturen der DDR-Gesellschaft zu beschäftigen, schien undenkbar. So wurde alles in den Dreck gestoßen, obwohl viele Aspekte davon eine Antwort auf damalige wie aktuelle Missstände bieten würden. Aber sie passen nicht in eine kapitalistische, anti-linke Gesellschaft. Bis heute wird gerne die Gleichung aufgemacht links = Sozialismus = Diktatur. Diese undifferenzierte Verkettung ist in den Köpfen der meisten Menschen in Deutschland verankert. Die Linke hatte bei der letzten Bundestagswahl das radikalste Umweltschutzprogramm von allen größeren Parteien und doch wählten weitaus mehr Menschen Die Grünen, weil Die Linke bis heute medial und gesellschaftlich als SED-Nachfolgerin stilisiert wird.
Auch Geschichtsschreibung ist nach wie vor kapitalistisch, anti-links und eben westdeutsch geprägt. Geschichtsbücher und Unterrichtsstoff sind gemacht von Menschen, die in Westdeutschland aufgewachsen sind und studiert haben. Ich persönlich habe immer wieder Gespräche mit Gleichaltrigen zu dem Thema geführt. Eine Freundin aus Essen besuchte mich in der Heimat für ein paar Tage und an einem Abend haben meine Mutter, mein Stiefvater und mein Onkel von ihrer Kindheit und Jugend in der DDR erzählt. Die Freundin meinte hinterher, sie habe zum ersten Mal von Zeitzeug:innen selbst gehört, wie sie es empfanden. In der Schule und zuhause hatte sie immer nur vermittelt bekommen, alle hätten sich unglücklich in einem grauen Staat eingesperrt gefühlt. Bei einem anderen Gespräch mit einer Bekannten redete ich über die selbstverständliche Kinderversorgung durch Kindergarten- und Hortplätze. Auf ihren Einwand, dass diese vornehmlich der ideologischen Eingliederung ins System gedient hatte, fragte ich sie, wann sie denn in das kapitalistische System eingeführt worden war. Danach schwiegen wir eine Weile. Der Kapitalismus als natürliches, neutrales System, während der Sozialismus (oder was in der DDR als solcher bezeichnet wurde) als künstliche, beschränkende Ideologie gilt – sehr vieles, was ich mit diesem Artikel kritisiere, lässt sich auf dieses Mindset zurückführen.
Zu Recht wird über die Gräueltaten des DDR-Regimes geredet. Ich will hier keine Diktatur verteidigen. Doch wenn das das Einzige ist, was in der öffentlichen Wahrnehmung auch über 30 Jahre später übrigbleibt, dann haben wir ein Problem – vor allem, wo es so viele Zeitzeug:innen gibt, die vielfältigere Erfahrungen gemacht haben und die wir fragen können. Es macht nur praktisch niemand. Ihre Lebensrealitäten finden kaum Platz in der öffentlichen Wahrnehmung. Zumal nicht alles schlecht war. Ja, der Satz ist abgedroschen, aber er stimmt. Die DDR war eine Diktatur und doch verdient sie eine andere Geschichtsschreibung als die NS-Zeit. Allerdings besteht dafür bei vielen kein Interesse. „Ein Land, das kurz nach dem zweiten verlorenen Weltkrieg ganz pragmatisch Nazis auf allen Ebenen hat weitermachen lassen, bis in höchste Ämter aller Gewalten, aber gleichzeitig so tut, als hätte es die eigene Geschichte besser ‘bewältigt’ als je irgendein anderes Land, braucht die Lüge von einer nazigleich schlimmen DDR, um stets in der Mitte zu stehen, in der doch immer die Wahrheit liegt. Die deutsche Mitte ist traditionelle, ja institutionelle Nazi-Verharmlosung.“, wie es der Journalist und Satiriker Tim Wolff einmal ausdrückte.
Diese Tradition besteht im Übrigen nicht erst seit dem Dritten Reich. So hatte sich zum Beispiel der Mathematiker Emil Julius Gumbel seinerzeit die juristischen Folgen politisch motivierter Morde in den ersten vier Jahren der Weimarer Republik angeschaut. Das Ergebnis: Für die 314 erfassten rechten Morde wurden insgesamt eine lebenslange Festungshaft und 31 Jahre und 3 Monate Freiheitsstrafe verhängt. Die 13 Morde von links wurden mit 8 Todesstrafen und 176 Jahren und 10 Monaten Freiheitsstrafe abgeurteilt. Und auch Bismarck hatte nicht viel für ehrlich linke Ideen übrig. Die von ihm etablierten ersten Versicherungssysteme sollten hauptsächlich die Masse der Arbeiter:innen von den linksliberalen Parteien entfremden und mehr an das monarchische Kaiserreich und den Obrigkeitsstaat binden. Als Ergänzung zu dieser Politik schuf er das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (kurz: Sozialistengesetz).
Anti-linke Politik hat Tradition und die Wende ist ein fundamentales Stück Geschichte, das durch diese Tradition entscheidend geformt wurde. Jetzt, nach über 30 Jahren Demokratie, wenden sich immer mehr Menschen im Osten bewusst von dieser ab, weil sie ein kapitalistisches Wirtschaftssystem mit sich brachte, durch das viele von ihnen tatsächlich an Lebensqualität eingebüßt haben. Was nützen Shoppingcenter, wenn man sich den neuen Fernseher eh nicht leisten kann? Was bringt die Reisefreiheit, wenn die Rente nicht reichen wird, um diese am Lebensabend in Ruhe auszunutzen? “Die hatten ja nichts.” – nun ja, aber sie lebten auch nicht in einer Welt, die ihnen suggerierte, dass Besitz entscheidend für die eigene Lebensqualität ist. Außerdem definiert sich Armut nicht darüber, dass jemand wenig besitzt; Armut ist in erster Linie ein soziologisches Motiv, das sich im Kontrast zu einer Umwelt herausbildet, wo Besitz einen hohen Stellenwert hat. Zudem kann einem der neue Fernseher, wenn man ihn sich doch leisten kann, eben nicht den Kreissaal im nächsten Spital ersetzen. Der wurde geschlossen, weil Geburten weniger in die Kassen eines Krankenhauses spülen als Hüftoperationen – und erfolgreich wirtschaften ist ja der wichtigste Aspekt einer guten Gesundheitsversorgung, wie man weiß.
Mit Blick nach oben
Viele Menschen im Osten haben eine Diktatur erlebt, die ich hier im Kontrast zum Dritten Reich überspitzt als “mild” bezeichnen will. In dieser “milden Diktatur” hatten sie Sicherheiten und ein Gefühl von Gemeinschaft, das sie in dieser kapitalistischen Demokratie vermissen. Dazu kommt das Gefühl von Zweitrangigkeit und Ignoranz gegenüber ihren Lebensgeschichten. Wenn wir über den Erfolg der AfD reden wollen, müssen wir darüber reden, was “Demokratie” inzwischen für viele bedeutet – und das ist “Verlierer:in sein”. Dann lieber die Stabilität einer “milden Diktatur”. Dass vor allem arme und bereits marginalisierte Gruppen unter einer AfD-Regierung leiden würden, blenden die meisten von ihnen aus. Außerdem haben AfD-Politker:innen zehn Jahre an der Illusion gefeilt, sie würden sich ernsthaft für die Belange der Ostdeutschen interessieren. Diese Illusion ist mehr als das, was sie in den letzten Jahrzehnten von etablierten Politker:innen und deren Entscheidungen bekommen haben. Wer 30 Jahre nicht gehört wird, während die Probleme immer weiterwachsen, der:die wird zunehmend wahlloser bei den Strohhalmen, nach denen er:sie greift. Die Wendepolitk hat dem Osten große Nachteile gebracht, und doch halten so gut wie alle Vetreter:innen der großen demokratischen Parteien an der romantischen, westdeutschen Zeichnung der “Wiedervereinigung” fest. Hätte sich je auch nur eine:r der Verantwortlichen der Wendepolitk oder ein:e aktuelle:r Regierungsvertreter:in hingestellt und gesagt: “Ja, im Nachhinein können wir erkennen, dass da einiges falsch gelaufen ist, es tut uns leid. Wir sehen die Probleme, die euch mit diesen Entscheidungen beschert wurden, und wir werden uns nun aufrecht bemühen, diese zu beheben.” – das hätte den Demokratiefeind:innen der AfD einigen Wind aus den Segeln genommen. Passiert ist das nie und irgendwie habe ich auch den Eindruck, ich hätte gerade eine realitätsferne Utopie geschildert. Und das ist ein Problem. Die Menschen im Osten wollen gesehen und anerkannt werden und der Faschist Björn Höcke vermittelt ihnen dieses Gefühl weitaus besser als jede:r demokratische:r Politiker:in es momentan vermag.
Den Kapitalismus jucken diese demokratiefeindlichen Tendenzen übrigens wenig. Er und seine reichen Eliten können auch in autoritären Regimen profitieren und gedeihen. Deswegen besteht auch seitens wirtschaftlich-gesellschaftlicher Machtinhaber:innen maximal behutsames Interesse am Erhalt von Demokratien. Ihre Freiheit ist ihnen gewiss. Linke Ideen jedoch wie Erbschaftssteuern und bedingungsloses Grundeinkommen können ihren Elfenbeinturm zum Schwanken bringen. Früher waren linke Strömungen anti-royalistisch, heute sind sie anti-kapitalistisch. Sie stellen bestehende Machtgefälle infrage und wollen diese aufbrechen. Deswegen wird gegen solche Ideen seitens der Wirtschaftseliten fleißig lobbyiert und medial gearbeitet. Sozialdemokratische (nicht zu verwechseln mit der Politik, die die SPD fabriziert) und vor allem sozialistische Positionen werden gemäß der anti-linken Narrative als diktatorisch gezeichnet. Eine Demokratie, so heißt es, könne es nur im Kapitalismus geben. Entsprechend sei Kapitalismuskritik anti-demokratisch. Doch wie demokratisch ist ein Staat, wo Firmen und Industrien mit ihrer Lobbyarbeit mehr Einfluss auf Gesetze haben als die Tatsache, dass jedes fünfte Kind im Land armutsgefährdet ist? Kapitalismuskritik ist nicht anti-demokratisch, sie ist von Grund auf notwendig, um die Macht des Volkes innerhalb des politischen Geschehens einzufordern und zu wahren. Und Sozialismus ist auch nicht automatisch diktatorisch, nur weil sich die DDR als sozialistisch bezeichnet hat. Die CDU nennt sich ja auch christlich.
Der Klassismus in Deutschland – diese immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich – ließe sich durch linke Politik sehr einfach zumindest reduzieren. Gerade marginalisierte Gruppen wie auch die Ostdeutschen leiden unter dem wirtschaftlichen Machtgefälle. Durch die westdeutsche Narrative der “Wiedervereinigung” haben viele ihre damit einhergehende schwindende Lebensqualität innerlich an die etablierte Demokratie der Bundesrepublik geknüpft und wenden sich nun von dieser ab. Doch ich bin überzeugt: Viele von ihnen sind nicht anti-demokratisch – sie sind anti-klassistisch. Sie wollen ein besseres Leben. Wenn wir die Demokratie in diesem Land erhalten wollen, braucht es eine Politik, bei der die Mehrheit der Menschen ehrlich an Lebensqualität dazugewinnt, sprich: weg von einer neoliberalen Maxime und hin zu politisch-wirtschaftlichen Maßnahmen, die sich nachhaltig um soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit bemühen.
Dazu müssten wir erst unsere anti-linke Tradition überwinden. Doch eher findet sich ein Schneeball in der Hölle. Welche Machthabenden geben schon gerne systematisch Stücke von ihrer Macht ab? Aus dem gleichen Grund gibt es auch keine effektive Politik, um die heranrasende Klimakatastrophe abzufedern. Zu sehr sind ihre Ursachen an neoliberale und neokoloniale Dynamiken geknüpft, von denen die Reichen und damit Machtvollen in dieser Welt profitieren.
Von daher: Es lebe der Westen! Es lebe der Kapitalismus! Uns geht’s schließlich gut.
Text und Fotos: Ronja Hähnlein