Die Geschichte der Wende ist eine Geschichte vol­ler Missverständnisse, könn­te man sagen. Aber vor allem ist es eine, deren unge­lös­te Konflikte uns immer mehr um die Ohren flie­gen. Sie formt die deut­sche Gesellschaft bis heu­te, wäh­rend der Prozess selbst Teil einer Verkettung von Ereignissen ist, die sich um eine Jahrhunderte alte Machtfrage ranken.

„Der Mauerfall ist über 30 Jahre her, jetzt ist auch mal gut mit dem Ost-West-Thema, wir sind ja ein geein­tes Land!“ – so oder so ähn­lich hört man es immer wie­der. Ost-West – das sei doch vor­bei. Nun ja. Es kommt dar­auf an, wen man fragt. So lobens­wert eine sol­che Vorstellung ist, so wenig deckt sie sich mit der Realität.

Die ehe­ma­li­ge Grenze ist nach wie vor auf so gut wie jeder demo­gra­phi­schen Karte erkenn­bar – Religionszugehörigkeit, Rentenniveau, Erbschaft, Ehrenamt, Heiratsalter – für ver­schie­dens­te gesell­schaft­li­che Aspekte zeich­nen sich erkenn­ba­re Differenzen ab. Dass 40 Jahre Trennung ihre Folgen bis heu­te zei­gen, ist nur logisch. Doch die­se Unterschiede sind nicht ein­fach nur Unterschiede und sie las­sen sich auch nicht allein auf die Teilung zurück­füh­ren. Es han­delt sich all­zu oft um Machtgefälle und ein gro­ßer Teil davon hat sei­ne Wurzeln in dem Prozess, der heu­te „Wiedervereinigung“ genannt wird. Einer aktu­el­len Umfrage zufol­ge füh­len sich 50 % der Ostdeutschen wie Bürger:innen zwei­ter Klasse in ihrem eige­nen Land. Gleichzeitig sagen 73 % der Westdeutschen, die­ser Eindruck sei nicht berechtigt.

“Wir sind ein Volk!”

Reden wir über die „Wiedervereinigung“. Was das Wort so schön sug­ge­riert, ist eine Zusammenführung auf Augenhöhe. Die ein­ge­sperr­ten Menschen im Osten wur­den befreit aus den Klauen des bösen Sozialismus’ und der gro­ßen Freiheit des Westens zuge­führt. Dort wur­den sie mit offe­nen Armen emp­fan­gen und end­lich kam wie­der zusam­men, was zusam­men­ge­hört. Außerdem gab es nun auch rich­ti­ge Cola für die Ossis. Das zu dem roman­ti­schen Bild, was in den letz­ten 30 Jahren flei­ßig zu zeich­nen ver­sucht wur­de und noch immer wird.

Doch kom­men wir lie­ber zu den Fakten: Die Wende mach­te sich bei einem Drittel der damals berufs­tä­ti­gen Ostdeutschen in der Arbeitsbiografie bemerk­bar. Mit Hilfe der Treuhand wur­den die staat­li­chen Betriebe zer­schla­gen und pri­va­ti­siert. In die­ser Zeit kam es zur ers­ten Entlassungswelle. Die Käufer:innen waren natür­lich in über­wäl­ti­gen­der Mehrheit Investor:innen aus dem Westen. In der DDR gab es kaum rei­che Eliten. Doch die Betriebe und ihre Wirtschaft waren nicht auf kapi­ta­lis­ti­sche Maxime aus­ge­legt. Viele wur­den von den neu­en Eigentümer:innen “umstruk­tu­riert”, wie es so schön heißt, und/oder nach weni­gen Jahren geschlos­sen. Während so im Osten der gro­ße Niedergang ein­setz­te, kam es im Westen zu einem klei­nen Wirtschaftsboom. Neben den „zahl­lo­sen Investitionsmöglichkeiten“ gab es einen neu­en Markt, den man mit Produkten aus Westdeutschland, USA und so wei­ter flu­ten konn­te. Die Nachfrage war groß – die star­ke Sanktionierung von Westprodukten zu DDR-Zeiten mach­te die­se zu heiß­be­gehr­ter Ware. Lokale Hersteller konn­ten oft nicht mit­hal­ten und gin­gen plei­te. In den Nachwendejahren ver­lo­ren im Osten so vie­le Menschen ihre Stelle, dass Anfang der Nullerjahre – in den Hochzeiten deut­scher Arbeitslosigkeit – hier jede fünf­te Person erwerbs­los war. Im Vergleich: im Westen war es zeit­gleich nur jede zehn­te. Das also zu den „blü­hen­den Landschaften“, die Helmut Kohl sei­ner­zeit ver­spro­chen hat­te. Arbeitslosigkeit und Armut als Massenphänomen in einem Land, in dem das vor­her kaum Thema war – damit kam für vie­le die ers­te Ernüchterung. Das ist auch einer der Gründe, war­um bis heu­te das ost­deut­sche Rentenniveau deut­lich unter dem west­deut­schen liegt. Während west­deut­sche Investor:innen das Kapital aus den soge­nann­ten neu­en Bundesländern hol­ten, nah­men sie vie­len die Möglichkeit, zu arbei­ten und damit in die Rentenkasse ein­zu­zah­len. Auch wur­den gro­ße Versprechungen aus der Anfangszeit schlicht nicht gehal­ten. Den DDR-Eisenbahner:innen zum Beispiel sicher­te man bei der Wiedervereinigung einen Betriebsrentenanteil von der Bahn zu, wie er west­deut­schen Kolleg:innen zusteht – bekom­men haben sie den aber nie. Auch Bergleute waren betrof­fen: Bei der Sozialversicherung sind sie als sol­che ein­ge­tra­gen wor­den, doch die Knappschaft ver­wei­ger­te eine Anerkennung. Damit erhal­ten sie bis heu­te monat­lich 400 Euro weni­ger Rente.

Die ehe­ma­li­ge Grenze ist auf so gut wie jeder demo­gra­phi­schen Karte erkennbar. 

Aufbau und Vernetzung — Die Wiedervereinigung ist ein roman­ti­sier­tes Konzept 

Nach wie vor bestehen die Vorurteile bezüg­lich der ost­deut­schen Wirtschaft zur Wendezeit. Gerne wird die „Schrottnarrative“ bedient, wonach die BRD kaum Nützliches mit der Wiedervereinigung erhielt. Jedoch gab es einen neu­en Markt mit 16 Millionen Menschen und man konn­te eine beacht­li­che Wirtschaftskraft aus den staat­li­chen Betrieben in die Taschen west­li­cher Privatiers und Investor:innen umschich­ten. Die Mär von der gro­ßen Verschuldung der DDR stimmt auch nicht so ganz. Tatsächlich kam bei einer Untersuchung der Deutschen Bundesbank im Jahr 1999 her­aus, dass die Verschuldung nicht halb so hoch war, wie 1989 kal­ku­liert. Aber da war der Mythos schon geschaffen.

Doch nicht nur die betrieb­li­chen Strukturen wur­den zer­schla­gen und neu zusam­men­ge­wür­felt, auch die der sozia­len Absicherung, Bildung, Gesundheit und so wei­ter wur­den nach west­deut­schem Vorbild errich­tet. Ebenso die Justiz und Gesetzeslage. Man ver­warf die Dinge, ohne einen genaue­ren Blick dar­auf zu wer­fen – schließ­lich war eh alles „ideo­lo­gisch durch­setzt“. Ein schö­nes Beispiel ist die Ethnographie. Das war der ost­deut­sche Begriff für Ethnologie und nach der Wende wur­de prak­tisch alles davon in den wis­sen­schaft­li­chen Giftschrank gepackt, weil die ideo­lo­gi­sche Einfärbung der Forscher:innen die Ergebnisse angeb­lich unbrauch­bar mache. Ein Dozent erzähl­te mir im ers­ten Semester, er wis­se von einer(!) ost­deut­schen Kollegin, die auch nach der Wende wei­ter Karriere mach­te. Gut, immer­hin wur­den ihre Bildungsabschlüsse aner­kannt. Das Glück hat­ten vie­le ande­re auch nicht.

DDR — angeb­lich kaum mehr als nutz­lo­ser Schrott hin­ter einer Mauer

„Wiedervereinigung“ – nun ja, viel­mehr wur­de die BRD den Leuten im Osten ein­fach über­ge­stülpt. Aber das ist nun mal kein so hüb­sches Bild wie das der roman­ti­schen Zusammenführung.

Man ver­warf die Dinge, ohne einen genaue­ren Blick dar­auf zu werfen. 

Die Spitzen des Landes

Warum schrei­be ich das alles? Weil die Geschichte der DDR und der Wende – die Geschichte mei­nes Landes – noch immer einem west­deut­schen Narrativ unterliegt.

Kohls blü­hen­de Landschaften

Ich kom­me aus einem Dorf von der Nordseite des Thüringer Waldes und ich stu­die­re Sozialwissenschaften. Es ist eine per­sön­li­che und eine wis­sen­schaft­li­che Perspektive, die sich bei mir zu einer Menge Frust ver­men­gen. Es wird so viel über „den Osten“ geschrie­ben und gere­det, doch die Menschen von hier haben wenig Mitspracherecht. Die Attitüde, mit der auch die Politik in den Wendejahren betrie­ben wur­de, steckt bis heu­te tief im Mark der deut­schen Gesellschaft.

2022 war bei den 100 größ­ten Hochschulen die­ses Landes genau eine Rektoratsstelle mit einer ost­deut­schen Person besetzt. Ganze zwei Mitglieder, die im Osten gebo­ren wur­den, gab es in den Vorständen der 30 größ­ten DAX-Konzerne. In den Medien sind der­zeit rund 8 % der Spitzenkräfte ost­deutsch. In der Justiz knapp 2 %. Sogar im Osten selbst sind ost­deut­sche Eliten unter­re­prä­sen­tiert. 20 % der Bevölkerung der soge­nann­ten neu­en Bundesländer haben west­deut­sche Wurzeln, aber in Wissenschaft, Wirtschaft, Justiz, Medien und Politik besetz­ten sie rund 74 % der Elitepositionen. Bundesweit liegt der Anteil von Ostdeutschen in Spitzenpositionen ins­ge­samt immer­hin bei 3,5 %. Wahnsinn.

Auch 33 Jahre nach der Angliederung der soge­nann­ten neu­en Bundesländer an Westdeutschland haben ihre Bewohner:innen kaum Einfluss auf das Geschehen in die­sem Land. Da hel­fen die 20 % ost­deut­sche Vertreter:innen in der Spitzenpolitik (was in etwa pro­por­tio­nal zur Gesamtbevölkerung ist) wenig. Zumal ein neu­er Trend ein­zu­set­zen scheint. Zwischen 2018 und 2022 wur­den mehr als die Hälfte aller Spitzenpositionen neu besetzt: 8 % der Stellen mit west­deut­schen Vorgänger:innen wur­den mit ost­deut­schen Kandidat:innen nach­be­setzt. Verließ ein:e Ostdeutsche:r seine:ihre Position, rück­ten in 54 % der Fälle Westdeutsche nach. Die struk­tu­rel­len Benachteiligungen der letz­ten Jahrzehnte wer­den nicht etwa bekämpft, sie wer­den gelebt. Aber gut, drei­vier­tel der Westdeutschen sieht ja auch kei­ne Benachteiligung ost­deut­scher Bürger:innen. Und wenn die Mehrheit der pri­vi­le­gier­ten Mehrheit in die­sem Land kein Problem erkennt, dann wird die­ses auch nicht beho­ben wer­den. Vielmehr sehen vie­le das Problem im Osten selbst.

Mit Blick von oben

Zugegeben, den Satz „Das Ost-West-Thema ist vor­bei.“ hört man in den letz­ten Jahren viel­leicht wie­der etwas weni­ger. Grund dafür sind Umfragewerte und Wahlergebnisse. Aktuellen Erhebungen zufol­ge wür­den ein Drittel der Ostdeutschen die AfD wäh­len, eine Partei, die inzwi­schen (Stand Dezember 2023) vom Verfassungsschutz in drei Bundesländern offi­zi­ell als rechts­ex­trem ein­ge­stuft ist. In drei ost­deut­schen Bundesländern. Ein wei­te­res Viertel wür­de der Union ihre Stimme geben, was bei der der­zei­ti­gen Bundespolitik, aber vor allem bei den ost­deut­schen Landesverbänden der CDU, auch nicht gera­de eine Stimme für die poli­ti­sche Mitte wäre. Abgesehen davon, dass die AfD auch in west­deut­schen Bundesländern immer höhe­re Umfragewerte erzielt, ist der dar­aus fol­gen­de Schluss für vie­le inzwi­schen „Die Ostdeutschen kön­nen kei­ne Demokratie.“ – ein Satz, der mich ziem­lich sau­er macht. Zumal wenn er von Menschen kommt, die durch­ge­hend bis 1998 ehe­ma­li­ge NSDAP-Mitglieder in ihr Parlament gewählt haben.

Der Traum vom „gol­de­nen Westen“ ist für vie­le inzwi­schen zerbrochen

Vorweg: Ich bin Demokrat. Mit aller Überzeugung und Verzweiflung, die dazu gehört. Ich habe kein Verständnis für Menschen, die eine demo­kra­tie- und men­schen­feind­li­che Partei wäh­len. Aber ich kann nach­voll­zie­hen, war­um sich so vie­le von den eta­blier­ten Parteien und auch von der Demokratie abwen­den. Nachvollziehen ist nicht ver­ste­hen. Dennoch sehe ich, woher die Entscheidung rührt; aus wis­sen­schaft­li­cher und aus per­sön­li­cher Perspektive.

Viele suchen Erklärungen für den gro­ßen AfD-Zuspruch im Osten, aber oft bleibt die­se Suche ober­fläch­lich. Von „Ost-Frust“ wird da viel gere­det, wäh­rend gleich­zei­tig die­ses roman­ti­sche Bild der Wiedervereinigung im Kopf besteht – und ent­spre­chend Unverständnis. Oft kommt dann noch eine gewis­se Überheblichkeit dazu, „die Ossis sol­len mal dank­bar sein, wir haben denen schließ­lich die Demokratie gebracht und schi­cken da bis heu­te einen Haufen Geld rüber.“ Nur dass das nicht die Perspektive vie­ler Ostdeutscher ist.

Sie ste­hen in einem Land, in dem sie weni­ger Gestaltungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen haben als Westdeutsche. Sie ver­die­nen auch weni­ger Geld, krie­gen weni­ger Rente. Sie erin­nern sich, dass zu DDR-Zeiten alle selbst­ver­ständ­lich einen Platz im nächs­ten Kindergarten bekom­men haben oder einen Job. Der Betrieb war auch mehr als nur ein Arbeitsplatz, er war ein Begegnungsort, wo Sozialität und Gemeinschaft geför­dert wur­den. Die sozia­le Ungleichheit war einer­seits gerin­ger und ande­rer­seits weit weni­ger sicht­bar. Für die Mehrheit war das ein abge­si­cher­tes Leben.

Die Mauer ist vor über 30 Jahren gefal­len, doch oft fehlt der Blick auf ost­deut­sche Perspektiven bis heute

Heute woh­nen sie in einem Land, in dem die Schere zwi­schen Arm und Reich immer wei­ter aus­ein­an­der­klafft, und sie auf­grund der Politik und Wirtschaft der Wendejahre haupt­säch­lich auf der armen Seite ste­hen. Sie sehen all die Probleme von feh­len­der Chancengleichheit und Klassismus, unter denen Deutschland immer wei­ter ächzt. Die Träume und Versprechungen von 1990 haben sich kaum erfüllt. Was dage­gen kam, war Verlust. Nur ein knap­pes Viertel aller Ostdeutschen wür­de sich heu­te als Gewinner:in der Wende bezeichnen.

Die Träume und Versprechungen von 1990 haben sich kaum erfüllt. 

Was sie dafür erhal­ten haben, ist ein west­deut­sches Narrativ; die Geschichte wird von den Sieger:innen geschrie­ben. Viele Analysen zu dem Thema unter­schät­zen die ideo­lo­gi­sche Komponente der Wende. Was bei dem Überstülpen west­deut­scher Standards näm­lich pas­sier­te, war das kom­plet­te Verwerfen von 40 Jahren Arbeit. „Ihr habt hier Jahrzehnte lang nur ideo­lo­gisch-ver­blen­de­ten Unsinn ver­zapft, hier: das ist alles bes­ser.“. Nichts wur­de behal­ten, nichts. Stattdessen wur­de die west­deut­sche Vorstellung, dass bei ihnen aus­nahms­los alles bes­ser war, in Gesellschaft und Geschichtsbücher getra­gen. Was für ein Schlag in das Gesicht von Menschen, die sich jah­re­lang als wich­ti­gen Teil eines Kollektivs ver­stan­den haben, das zusam­men etwas auf­bau­te! Und dann stimmt die­se Vorstellung nicht einmal.

Das Bild bis heu­te – Strahlender Westen, dunk­ler Osten

Neben den bereits dar­ge­stell­ten Verschlechterungen für den Lebensstandard vie­ler Ostdeutscher gab es durch­aus Aspekte der DDR-Gesellschaft, die pro­gres­si­ver waren als die der BRD. Der Osten war, was die Gleichstellung der Frau anging, viel fort­ge­schrit­te­ner. Diese waren bei­spiels­wei­se deut­lich mehr ins Berufsleben inte­griert, unter­stützt durch ein sta­bi­les Netz an Kinderbetreuung, und hat­ten seit 1972 das Recht, sich selbst­be­stimmt für einen Schwangerschaftsabbruch zu ent­schei­den. Als bei der Wiedervereinigung die Gesetze der BRD über­nom­men wur­den, mach­te das Abbrüche wie­der prin­zi­pi­ell straf­bar – bis heu­te. Auch gab es mit dem Paragraphen §175 erneut ein Gesetz, durch das bei homo­se­xu­el­len Handlungen zwi­schen min­der­jäh­ri­gen und über 18-jäh­ri­gen Männern für letz­te­ren eine bis zu fünf­jäh­ri­ge Freiheitsstrafe droh­te. Das war in der DDR im Jahr zuvor erst ent­kri­mi­na­li­siert worden.

Die Gesundheitsversorgung war auf dem Land genau­so gesi­chert wie in der Stadt, es exis­tier­te ein nicht-drei­glei­si­ges Schulsystem, das bis heu­te von sehr vie­le Pädagog:innen und Soziolog:innen gefor­dert wird. Betriebe und Genossenschaften waren nicht nur dafür da, deren Besitzer:innen rei­cher zu machen.

Aspekte der DDR-Gesellschaft waren durch­aus progressiver. 

Was auch gern ver­ges­sen wird: die fried­li­che Revolution. Der Mut all der Menschen, die in einem auto­ri­tä­ren Staat wie der DDR auf die Straße gin­gen, um mehr Freiheit zu for­dern, fin­det bis heu­te wenig Beachtung, geschwei­ge denn Anerkennung. Aber die Ossis kön­nen ja kei­ne Demokratie.

Die Wende war die ein­ma­li­ge Möglichkeit, das Beste aus bei­den Ländern zu neh­men, und dar­aus eine sozi­al gerech­te­re und bes­se­re Gesellschaft zu schaf­fen als die, in der wir bis heu­te leben. Doch die­se Chance wur­de ver­tan; aus ideo­lo­gi­schen Gründen.

Eine deutsche Tradition

Über die Indoktrinierung in der DDR wird oft gere­det, doch die ideo­lo­gi­sche Ausrichtung der BRD über­sieht man ger­ne. Demokratisch, frei – das war’s. Dabei feh­len hier noch zwei Begriffe: kapi­ta­lis­tisch und anti-links.

Die Wende wur­de nicht nur als Zusammenführung eines Volkes betrach­tet, im Rahmen des Kalten Krieges galt sie auch als wich­ti­ger Sieg des Kapitalismus’ über den offi­zi­ell sozia­lis­tisch-kom­mu­nis­ti­schen Ostblock. In den Jahrzehnten zuvor hat­ten Politik, Wirtschaft und Medien der BRD und der gesam­ten soge­nann­ten Westlichen Welt sehr viel getan, um lin­ke Ideen nega­tiv zu framen. Man woll­te sich als Weltmacht gegen­über der UdSSR durch­set­zen und einem von Nationalsozialist:innen durch­setz­ten Staat wohnt ohne­hin eine „von Natur aus“ anti-lin­ke Haltung inne. Die Diktaturen, die in den Ostblockstaaten unter Berufung auf ver­meint­lich sozia­lis­ti­sche und kom­mu­nis­ti­sche Ideen ent­stan­den, eig­ne­ten sich her­vor­ra­gend als Schreckgespenst. Besonders zu spü­ren bekam das die 68er-Bewegung, wo das poli­ti­sche und media­le Framing ihrer Forderungen nach mehr sozia­ler Gerechtigkeit, Frieden und Aufarbeitung der NS-Vergangenheit doch sehr an die Reaktionen auf heu­ti­ge Klimaschutzbewegungen erinnert.

Für den west­deut­schen Waldbesitzer ein Kapitalbetrag auf sei­nem Konto, für mich ein Stück zer­stör­te Heimat

Aus die­ser Haltung her­aus ging auch die Wende von­stat­ten. Allein die Idee, sich näher mit den Strukturen der DDR-Gesellschaft zu beschäf­ti­gen, schien undenk­bar. So wur­de alles in den Dreck gesto­ßen, obwohl vie­le Aspekte davon eine Antwort auf dama­li­ge wie aktu­el­le Missstände bie­ten wür­den. Aber sie pas­sen nicht in eine kapi­ta­lis­ti­sche, anti-lin­ke Gesellschaft. Bis heu­te wird ger­ne die Gleichung auf­ge­macht links = Sozialismus = Diktatur. Diese undif­fe­ren­zier­te Verkettung ist in den Köpfen der meis­ten Menschen in Deutschland ver­an­kert. Die Linke hat­te bei der letz­ten Bundestagswahl das radi­kals­te Umweltschutzprogramm von allen grö­ße­ren Parteien und doch wähl­ten weit­aus mehr Menschen Die Grünen, weil Die Linke bis heu­te medi­al und gesell­schaft­lich als SED-Nachfolgerin sti­li­siert wird.

Auch Geschichtsschreibung ist nach wie vor kapi­ta­lis­tisch, anti-links und eben west­deutsch geprägt. Geschichtsbücher und Unterrichtsstoff sind gemacht von Menschen, die in Westdeutschland auf­ge­wach­sen sind und stu­diert haben. Ich per­sön­lich habe immer wie­der Gespräche mit Gleichaltrigen zu dem Thema geführt. Eine Freundin aus Essen besuch­te mich in der Heimat für ein paar Tage und an einem Abend haben mei­ne Mutter, mein Stiefvater und mein Onkel von ihrer Kindheit und Jugend in der DDR erzählt. Die Freundin mein­te hin­ter­her, sie habe zum ers­ten Mal von Zeitzeug:innen selbst gehört, wie sie es emp­fan­den. In der Schule und zuhau­se hat­te sie immer nur ver­mit­telt bekom­men, alle hät­ten sich unglück­lich in einem grau­en Staat ein­ge­sperrt gefühlt. Bei einem ande­ren Gespräch mit einer Bekannten rede­te ich über die selbst­ver­ständ­li­che Kinderversorgung durch Kindergarten- und Hortplätze. Auf ihren Einwand, dass die­se vor­nehm­lich der ideo­lo­gi­schen Eingliederung ins System gedient hat­te, frag­te ich sie, wann sie denn in das kapi­ta­lis­ti­sche System ein­ge­führt wor­den war. Danach schwie­gen wir eine Weile. Der Kapitalismus als natür­li­ches, neu­tra­les System, wäh­rend der Sozialismus (oder was in der DDR als sol­cher bezeich­net wur­de) als künst­li­che, beschrän­ken­de Ideologie gilt – sehr vie­les, was ich mit die­sem Artikel kri­ti­sie­re, lässt sich auf die­ses Mindset zurückführen.

Jahrzehnte der Teilung haben bis heu­te Spuren hinterlassen

Zu Recht wird über die Gräueltaten des DDR-Regimes gere­det. Ich will hier kei­ne Diktatur ver­tei­di­gen. Doch wenn das das Einzige ist, was in der öffent­li­chen Wahrnehmung auch über 30 Jahre spä­ter übrig­bleibt, dann haben wir ein Problem – vor allem, wo es so vie­le Zeitzeug:innen gibt, die viel­fäl­ti­ge­re Erfahrungen gemacht haben und die wir fra­gen kön­nen. Es macht nur prak­tisch nie­mand. Ihre Lebensrealitäten fin­den kaum Platz in der öffent­li­chen Wahrnehmung. Zumal nicht alles schlecht war. Ja, der Satz ist abge­dro­schen, aber er stimmt. Die DDR war eine Diktatur und doch ver­dient sie eine ande­re Geschichtsschreibung als die NS-Zeit. Allerdings besteht dafür bei vie­len kein Interesse. „Ein Land, das kurz nach dem zwei­ten ver­lo­re­nen Weltkrieg ganz prag­ma­tisch Nazis auf allen Ebenen hat wei­ter­ma­chen las­sen, bis in höchs­te Ämter aller Gewalten, aber gleich­zei­tig so tut, als hät­te es die eige­ne Geschichte bes­ser ‘bewäl­tigt’ als je irgend­ein ande­res Land, braucht die Lüge von einer nazi­gleich schlim­men DDR, um stets in der Mitte zu ste­hen, in der doch immer die Wahrheit liegt. Die deut­sche Mitte ist tra­di­tio­nel­le, ja insti­tu­tio­nel­le Nazi-Verharmlosung.“, wie es der Journalist und Satiriker Tim Wolff ein­mal ausdrückte.

Diese Tradition besteht im Übrigen nicht erst seit dem Dritten Reich. So hat­te sich zum Beispiel der Mathematiker Emil Julius Gumbel sei­ner­zeit die juris­ti­schen Folgen poli­tisch moti­vier­ter Morde in den ers­ten vier Jahren der Weimarer Republik ange­schaut. Das Ergebnis: Für die 314 erfass­ten rech­ten Morde wur­den ins­ge­samt eine lebens­lan­ge Festungshaft und 31 Jahre und 3 Monate Freiheitsstrafe ver­hängt. Die 13 Morde von links wur­den mit 8 Todesstrafen und 176 Jahren und 10 Monaten Freiheitsstrafe abge­ur­teilt. Und auch Bismarck hat­te nicht viel für ehr­lich lin­ke Ideen übrig. Die von ihm eta­blier­ten ers­ten Versicherungssysteme soll­ten haupt­säch­lich die Masse der Arbeiter:innen von den links­li­be­ra­len Parteien ent­frem­den und mehr an das mon­ar­chi­sche Kaiserreich und den Obrigkeitsstaat bin­den. Als Ergänzung zu die­ser Politik schuf er das Gesetz gegen die gemein­ge­fähr­li­chen Bestrebungen der Sozialdemokratie (kurz: Sozialistengesetz).

Geschichtsbücher sind gemacht von Menschen, die in Westdeutschland auf­ge­wach­sen sind. 

Wo angeb­lich jede lin­ke Idee unmit­tel­bar hin­führt: Leben hin­ter Gittern und grau­em Beton

Anti-lin­ke Politik hat Tradition und die Wende ist ein fun­da­men­ta­les Stück Geschichte, das durch die­se Tradition ent­schei­dend geformt wur­de. Jetzt, nach über 30 Jahren Demokratie, wen­den sich immer mehr Menschen im Osten bewusst von die­ser ab, weil sie ein kapi­ta­lis­ti­sches Wirtschaftssystem mit sich brach­te, durch das vie­le von ihnen tat­säch­lich an Lebensqualität ein­ge­büßt haben. Was nüt­zen Shoppingcenter, wenn man sich den neu­en Fernseher eh nicht leis­ten kann? Was bringt die Reisefreiheit, wenn die Rente nicht rei­chen wird, um die­se am Lebensabend in Ruhe aus­zu­nut­zen? “Die hat­ten ja nichts.” – nun ja, aber sie leb­ten auch nicht in einer Welt, die ihnen sug­ge­rier­te, dass Besitz ent­schei­dend für die eige­ne Lebensqualität ist. Außerdem defi­niert sich Armut nicht dar­über, dass jemand wenig besitzt; Armut ist in ers­ter Linie ein sozio­lo­gi­sches Motiv, das sich im Kontrast zu einer Umwelt her­aus­bil­det, wo Besitz einen hohen Stellenwert hat. Zudem kann einem der neue Fernseher, wenn man ihn sich doch leis­ten kann, eben nicht den Kreissaal im nächs­ten Spital erset­zen. Der wur­de geschlos­sen, weil Geburten weni­ger in die Kassen eines Krankenhauses spü­len als Hüftoperationen – und erfolg­reich wirt­schaf­ten ist ja der wich­tigs­te Aspekt einer guten Gesundheitsversorgung, wie man weiß.

Es gibt nur eine Richtung: Kapitalismus

Mit Blick nach oben

Viele Menschen im Osten haben eine Diktatur erlebt, die ich hier im Kontrast zum Dritten Reich über­spitzt als “mild” bezeich­nen will. In die­ser “mil­den Diktatur” hat­ten sie Sicherheiten und ein Gefühl von Gemeinschaft, das sie in die­ser kapi­ta­lis­ti­schen Demokratie ver­mis­sen. Dazu kommt das Gefühl von Zweitrangigkeit und Ignoranz gegen­über ihren Lebensgeschichten. Wenn wir über den Erfolg der AfD reden wol­len, müs­sen wir dar­über reden, was “Demokratie” inzwi­schen für vie­le bedeu­tet – und das ist “Verlierer:in sein”. Dann lie­ber die Stabilität einer “mil­den Diktatur”. Dass vor allem arme und bereits mar­gi­na­li­sier­te Gruppen unter einer AfD-Regierung lei­den wür­den, blen­den die meis­ten von ihnen aus. Außerdem haben AfD-Politker:innen zehn Jahre an der Illusion gefeilt, sie wür­den sich ernst­haft für die Belange der Ostdeutschen inter­es­sie­ren. Diese Illusion ist mehr als das, was sie in den letz­ten Jahrzehnten von eta­blier­ten Politker:innen und deren Entscheidungen bekom­men haben. Wer 30 Jahre nicht gehört wird, wäh­rend die Probleme immer wei­ter­wach­sen, der:die wird zuneh­mend wahl­lo­ser bei den Strohhalmen, nach denen er:sie greift. Die Wendepolitk hat dem Osten gro­ße Nachteile gebracht, und doch hal­ten so gut wie alle Vetreter:innen der gro­ßen demo­kra­ti­schen Parteien an der roman­ti­schen, west­deut­schen Zeichnung der “Wiedervereinigung” fest. Hätte sich je auch nur eine:r der Verantwortlichen der Wendepolitk oder ein:e aktuelle:r Regierungsvertreter:in hin­ge­stellt und gesagt: “Ja, im Nachhinein kön­nen wir erken­nen, dass da eini­ges falsch gelau­fen ist, es tut uns leid. Wir sehen die Probleme, die euch mit die­sen Entscheidungen beschert wur­den, und wir wer­den uns nun auf­recht bemü­hen, die­se zu behe­ben.” – das hät­te den Demokratiefeind:innen der AfD eini­gen Wind aus den Segeln genom­men. Passiert ist das nie und irgend­wie habe ich auch den Eindruck, ich hät­te gera­de eine rea­li­täts­fer­ne Utopie geschil­dert. Und das ist ein Problem. Die Menschen im Osten wol­len gese­hen und aner­kannt wer­den und der Faschist Björn Höcke ver­mit­telt ihnen die­ses Gefühl weit­aus bes­ser als jede:r demokratische:r Politiker:in es momen­tan vermag.

Wir müss­ten erst unse­re anti-lin­ke Tradition überwinden 

Den Kapitalismus jucken die­se demo­kra­tie­feind­li­chen Tendenzen übri­gens wenig. Er und sei­ne rei­chen Eliten kön­nen auch in auto­ri­tä­ren Regimen pro­fi­tie­ren und gedei­hen. Deswegen besteht auch sei­tens wirt­schaft­lich-gesell­schaft­li­cher Machtinhaber:innen maxi­mal behut­sa­mes Interesse am Erhalt von Demokratien. Ihre Freiheit ist ihnen gewiss. Linke Ideen jedoch wie Erbschaftssteuern und bedin­gungs­lo­ses Grundeinkommen kön­nen ihren Elfenbeinturm zum Schwanken brin­gen. Früher waren lin­ke Strömungen anti-roya­lis­tisch, heu­te sind sie anti-kapi­ta­lis­tisch. Sie stel­len bestehen­de Machtgefälle infra­ge und wol­len die­se auf­bre­chen. Deswegen wird gegen sol­che Ideen sei­tens der Wirtschaftseliten flei­ßig lob­by­iert und medi­al gear­bei­tet. Sozialdemokratische (nicht zu ver­wech­seln mit der Politik, die die SPD fabri­ziert) und vor allem sozia­lis­ti­sche Positionen wer­den gemäß der anti-lin­ken Narrative als dik­ta­to­risch gezeich­net. Eine Demokratie, so heißt es, kön­ne es nur im Kapitalismus geben. Entsprechend sei Kapitalismuskritik anti-demo­kra­tisch. Doch wie demo­kra­tisch ist ein Staat, wo Firmen und Industrien mit ihrer Lobbyarbeit mehr Einfluss auf Gesetze haben als die Tatsache, dass jedes fünf­te Kind im Land armuts­ge­fähr­det ist? Kapitalismuskritik ist nicht anti-demo­kra­tisch, sie ist von Grund auf not­wen­dig, um die Macht des Volkes inner­halb des poli­ti­schen Geschehens ein­zu­for­dern und zu wah­ren. Und Sozialismus ist auch nicht auto­ma­tisch dik­ta­to­risch, nur weil sich die DDR als sozia­lis­tisch bezeich­net hat. Die CDU nennt sich ja auch christlich.

Der Klassismus in Deutschland – die­se immer grö­ßer wer­den­de Schere zwi­schen Arm und Reich – lie­ße sich durch lin­ke Politik sehr ein­fach zumin­dest redu­zie­ren. Gerade mar­gi­na­li­sier­te Gruppen wie auch die Ostdeutschen lei­den unter dem wirt­schaft­li­chen Machtgefälle. Durch die west­deut­sche Narrative der “Wiedervereinigung” haben vie­le ihre damit ein­her­ge­hen­de schwin­den­de Lebensqualität inner­lich an die eta­blier­te Demokratie der Bundesrepublik geknüpft und wen­den sich nun von die­ser ab. Doch ich bin über­zeugt: Viele von ihnen sind nicht anti-demo­kra­tisch – sie sind anti-klas­sis­tisch. Sie wol­len ein bes­se­res Leben. Wenn wir die Demokratie in die­sem Land erhal­ten wol­len, braucht es eine Politik, bei der die Mehrheit der Menschen ehr­lich an Lebensqualität dazu­ge­winnt, sprich: weg von einer neo­li­be­ra­len Maxime und hin zu poli­tisch-wirt­schaft­li­chen Maßnahmen, die sich nach­hal­tig um sozia­le Gerechtigkeit und Chancengleichheit bemühen.

Dazu müss­ten wir erst unse­re anti-lin­ke Tradition über­win­den. Doch eher fin­det sich ein Schneeball in der Hölle. Welche Machthabenden geben schon ger­ne sys­te­ma­tisch Stücke von ihrer Macht ab? Aus dem glei­chen Grund gibt es auch kei­ne effek­ti­ve Politik, um die her­an­ra­sen­de Klimakatastrophe abzu­fe­dern. Zu sehr sind ihre Ursachen an neo­li­be­ra­le und neo­ko­lo­nia­le Dynamiken geknüpft, von denen die Reichen und damit Machtvollen in die­ser Welt profitieren.

Von daher: Es lebe der Westen! Es lebe der Kapitalismus! Uns geht’s schließ­lich gut.

Text und Fotos: Ronja Hähnlein

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