Der Rapper Disarstar kritisiert in einem Video den Umgang mit auf der Straße lebenden Menschen. Er entfernte mit einer Flex die Metallbügel einer Bank, die Obdachlose am Hinlegen hindern sollen. Doch das ist „Nicht mal das Mindeste“. Halle, Leipzig, egal in welcher Stadt man sich befindet – defensive Architektur gibt es überall.
In einem Land wie Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, muss doch niemand obdachlos sein!
Ein sowohl empathieloser, als auch unzutreffender Satz, den man nicht gerade selten hört. Und wenn man ihn hört, dann meistens aus dem Mund eines:r aufgeklärten Neoliberalen, der:die der Meinung ist, die Armen seien faul und schließlich auch selbst schuld, in dieser Lage zu sein. Ganz nach dem Motto: Jede:r ist seines:ihres Glückes Schmied.
Jede:n kann es treffen!
Die ersten Schneeflocken fallen. Jedes Kind freut sich. Bald ist Weihnachten! Einem Menschen auf der Straße geht es da anders. Die Gedanken drehen sich hauptsächlich darum, einen Ort zu finden, um den Winter und die Kälte irgendwie zu überstehen. Erst kürzlich kursierte ein Video in den sozialen Medien, in dem ein alter Mann zu sehen ist, der aus der Verzweiflung heraus versucht, ein Feuer vor dem Berliner Hauptbahnhof zu machen, um sich irgendwie aufzuwärmen. In den Kommentaren unter dem Video reagierten einige Menschen mit Dingen wie „Wir müssen alle Heizkosten sparen“ oder „Stockbrot time“. Ich sah in dem Moment einen hilflosen, frierenden, alten Mann, der sich nichts anderes wünscht als ein warmes Zuhause.
Auf der Straße zu leben bedeutet, jeden Tag ausgegrenzt zu werden, mit der Angst, den nächsten Tag nicht zu überstehen. Es bedeutet auch, öfter Opfer von Gewalttaten zu werden und vor allem: Vertriebener oder Vertriebene zu sein. Man sollte meinen, der Rechtsstaat ist des Menschen treuer Begleiter und Helfer – so ist er in diesem Fall oft aber eine Barriere, die Obdachlose daran hindert, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Einer Sache sollte man sich aber bewusst werden: Jede:n von uns kann es treffen. Wir alle wissen, wie schwer es ist, eine Wohnung zu finden. Hinzu kommt, dass es in Deutschland kein Recht auf Wohnen gibt. Du kannst deine Miete nicht mehr bezahlen? Dann bist du obdachlos. Du bist obdachlos? Dann hast du es auf dem Arbeitsmarkt auch nicht leicht. Du hast keine Arbeit? Dann fehlt dir das Geld für eine Wohnung. Das mag alles sehr banal klingen, doch ist es für obdachlose Menschen traurige Realität und eine ewige Abwärtsspirale.
„Hostile Design“ – Der öffentliche Raum als Raum für alle?
Man könnte meinen, der öffentliche Raum sei ein Raum für alle. Wirft man allerdings einen genaueren Blick auf die Gestaltung der Innenstädte, braucht einen das Gefühl eines obdachlosen Menschen, unerwünscht zu sein, nicht wundern. Der Platz gilt eher all den Dingen, die Touristen und Touristinnen anziehen und für ein schönes Stadtbild zum Wohlfühlen sorgen. Obdachlosigkeit passt da nicht rein.
Es gibt eine Bezeichnung für die Strategie, obdachlose Menschen aus dem Stadtkern fernzuhalten: “Defensive Architektur” oder “Anti-Obdachlosen-Architektur”, auf Englisch „Hostile Design“. Das Ziel ist es, die Großstadtidylle aufrecht zu erhalten. Stadtplaner:innen haben in diesem Punkt nicht an Kreativität, dafür aber an Menschlichkeit gespart. Es geht vor allem um Sitzmöglichkeiten, die so (um)gebaut wurden, dass man sich nicht länger als nötig an diesen Stellen aufhält. Mit „wohlfühlen“ oder „Bequemlichkeit“ hat das nichts mehr zu tun.
Das Design der Bänke oder generell des Mobiliars in den Städten soll gezielt den Aufenthalt unerwünschter Gruppen verhindern und Randgruppen ausschließen. Auch in Leipzig ist die Selektionsarchitektur angekommen. Absperrgitter, abgeschrägte Bänke und Spikes auf eigentlich freien Flächen. Einwegmülleimer, um Pfandsammler aus dem Stadtbild verschwinden zu lassen. Getrennte und ungerade Sitze, die es unmöglich machen, sich für längere Zeit niederzulassen. Oft findet man Stühle auch in Kreisen oder Halbkreisen angeordnet vor, was ein bequemes Liegen nicht möglich macht. Bänke aus Metall oder Stein stellen vor allem im Winter ein Problem dar. Einmal hingesetzt, hält man es nicht lange darauf aus, da das kalte Material den Körper schnell auskühlt. Ebenso eine Taktik, um obdachlose Menschen fernzuhalten. Und nicht zu vergessen ist die wohl gängigste Methode: Bügel auf Bänken und Liegeflächen, die zwar niemand braucht, die aber dazu dienen sollen, dass Obdachlose auch ja nicht auf die Idee kommen, es sich „gemütlich“ zu machen. Die Selektionsdesigns sind nicht nur repressiv, sondern auch zutiefst exkludierend – direkt vor unserer Haustür. Erst vor kurzem wurde vor der Sparkasse auf der Bernburger Straße in Halle eine Sitzbank entfernt, auf der drei Obdachlose “wohnten”. Man gönnt ihnen nicht einmal den Dreck unter den Fingernägeln.
Neben den bereits erwähnten Baumaßnahmen gibt es noch ein altes, etabliertes Konzept: “Klassik gegen Obdachlose”. Es ist dir bestimmt schon einmal aufgefallen, dass an den Ein- und Ausgängen von Bahnhöfen, wie dem Hauptbahnhof in Leipzig, klassische Musik gespielt wird. Für jemanden, der diese Stellen nur kurz passiert, erscheint die Musik als eine Methode, um den Orten mehr Flair zu geben. Hält man sich hier jedoch länger auf, wird es schnell nervtötend. Die Dauerbeschallung macht es den obdachlosen Menschen unmöglich, Ruhe zu finden und verdeutlicht ihnen gleichzeitig, dass sie an diesem Ort nicht erwünscht sind.
Architektur als Kontrollinstrument
Wenn man Stadtplaner:innen auf die fragwürdigen Metallbügel der Sitzbänke anspricht, versuchen sie diese als „Aufstehhilfen“ zu verkaufen. Dennoch sieht man oft noch „menschliche“ Bänke, bei denen die Bügel an den Enden platziert sind. Dadurch denken viele gar nicht erst daran, es könnte ein feindlicher Gedanke hinter dem Design der Städte stecken, der da heißt: „Du bist kein Teil dieser Stadt und hier nicht erwünscht“, oder unverblümt ausgedrückt: „Verzieh dich!“.
Neben dem Ordnungsamt übernimmt vor allem die Architektur die Rolle, für Ordnung zu sorgen. Während das Ordnungsamt aber Platzverweise erteilt, stellt „Anti-Obdachlosen-Architektur“ eine scheinbar wesentlich angenehmere Variante dar. Klar, damit umgeht man ja auch die direkte Konfrontation mit den Betroffenen. Das große Problem von “Hostile Design” ist jedoch, dass die obdachlosen Menschen gezwungen werden, einen anderen Ort aufzusuchen. Letzten Endes werden Probleme nicht behoben, sondern nur verdrängt und an andere Orte manövriert. Nicht zu vergessen ist, dass die exkludierende Methode ebenso die alten und erkrankten Menschen, als auch Menschen mit eingeschränkter Mobilität betrifft. Da sind wir wieder bei dem Thema: Sollte ein öffentlicher Raum nicht alle Menschen gleichermaßen willkommen heißen?
Welche Alternativen gibt es?
Dass Sitzbänke nicht als Schlafplatz dienen sollen, ist verständlich und damit ist der Grundgedanke defensiver Architektur nachvollziehbar. Das eigentliche Problem wird damit allerdings nicht gelöst: das Fortbleiben von Safe Spaces für die Betroffenen.
Hier ein vorläufiges Fazit: Anti-Obdachlosen-Architektur ist NICHT die Lösung! Vielmehr sollte es darum gehen, den Menschen Räume zu schaffen, an denen sie sich aufhalten und sicher fühlen können. Damit obdachlose Menschen nicht weiter dazu genötigt werden, sich auf Bänke oder vor Eingänge zu legen, könnten temporäre Schlafplätze eine Alternative bieten. Diese sollten an dazu geeigneten Orten errichtet werden, um den hilfesuchenden Menschen das gesamte Jahr über ein Dach über dem Kopf und einen Schutzraum zu bieten.
Nicht sozial exklusive, sondern sozial inklusive Stadtplanung ist die Lösung der Probleme, während “Hostile Design” diese nur an einen anderen Ort verschiebt. Alle in einer Stadt lebenden Menschen sollten sich rund um die Uhr sicher und wohl fühlen dürfen.
Im Namen der obdachlosen und hilfesuchenden Menschen …
Man kann nicht jedem bedürftigen Menschen helfen. Man kann und möchte auch nicht immer und überall Geld spenden. Nicht selten gibt es Situationen, in denen man sich darüber aufregt oder sich unbehaglich fühlt, angesprochen und nach Geld gefragt zu werden. Aber es gibt Dinge, zu denen jede:r im Stande ist: eine freundliche Geste, ein nettes “Hallo” und Aufmerksamkeit schenken. Niemand mag es ignoriert zu werden. Ignoranz verstärkt und bestätigt das ohnehin schon vorhandene Gefühl, ausgegrenzt zu werden.
Wir alle sitzen im Warmen, haben genügend Geld, um uns etwas zu Essen zu kaufen und um uns ein Dach über dem Kopf leisten zu können. Das Leben, das wir jetzt führen, hätte an irgendeiner Stelle ganz anders verlaufen können und wer weiß, wo wir jetzt sitzen würden, wenn nicht hier? Am Ende ist es auch egal, in welcher Situation man sich befindet: Um Hilfe zu bitten fällt niemandem leicht und kostet in den meisten Fällen Überwindung. Erst recht, wenn man sich in einer unangenehmen Situation befindet.
Die Probleme obdachloser Menschen häufen sich, und mit ihnen auch die Scham und das Gefühl des Alleinseins. Frage behutsam nach, ob Hilfe gewünscht wird. Gerade jetzt im Winter ist es wichtig, die Augen offen zu halten und offensichtlich frierenden Menschen die nötige Hilfe anzubieten. Informiere dich dazu zum Beispiel, ob es in eurer Stadt Wärme- oder Kältebusse gibt, die man in Notsituationen anrufen kann. In sehr prekären Situationen, wenn die betroffene Person sichtbar verletzt ist oder nicht mehr ansprechbar ist, sollte man selbstverständlich sofort den Rettungsdient informieren.
In die Augen, in den Sinn.
Egal ob in Halle, Leipzig oder an irgendeinem anderen Ort, durch den du jetzt in der Weihnachtszeit und auch sonst schlenderst. In die Augen, in den Sinn – so sollte es doch heißen. Ich meine damit nicht, wie Disarstar eine Flex oder ähnliches an öffentlichen Sitzmöglichkeiten anzusetzen. Lass die Augen geöffnet und spende den Obdachlosen Aufmerksamkeit. Ich schreibe das hier nicht, weil Weihnachten vor der Tür steht und man gerade jetzt Menschen helfen und spenden soll. Nein. Auch nach Weihnachten haben die Obdachlosen kein Dach über dem Kopf. Auch nach Weihnachten werden die Obdachlosen mit Hass und Hetze konfrontiert. Auch nach Weihnachten benötigen sie Hilfe. Schau hin, nicht weg! Mach den ersten Schritt und andere werden dir folgen.
Laut Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom September 2022 leben in Deutschland etwa 37.400 Menschen auf der Straße, ganz zu schweigen von den 49.300, die in verdeckter Wohnungslosigkeit leben – also Wohnungslose, die Unterschlupf bei Bekannten, Freunden und Freundinnen oder sogenannten „Zweckpartner:innen“ finden. Die Dunkelziffer sollte allerdings um einiges höher ausfallen, da zum Beispiel Menschen, die in Notunterkünften eingepfercht sind, nicht mitgezählt werden. Obdachlosigkeit wird oft mit persönlichem Versagen verbunden. Die Menschen schämen sich, weshalb es ein ganz wesentlicher Aspekt von versteckter Wohnungslosigkeit ist, unsichtbar zu sein und die eigene Notlage zu verbergen, um in der Gesellschaft nicht komplett die Anerkennung zu verlieren.
Es gibt einige Obdachlosenhilfen, die sich jederzeit über Sach- und Geldspenden freuen. Allein eine Winterjacke, die schon lange nicht mehr das Tageslicht gesehen hat, kann für einen Menschen auf der Straße überlebenswichtig sein. Was an welcher Stelle gebraucht wird, findet man auf den Homepages der jeweiligen Hilfsorganisation. Auch in Halle gibt es Anlaufstellen, um Obdachlosen zu helfen:
„Der Bus der Vierjahreszeiten“
Quelle: https://derbusvierjahreszeiten.de/
„Der Bus der Vierjahreszeiten“ – ein Kälte‑, Tafel- und Sachspendenbus. Dieser rollt dreimal in der Woche durch Halle, um bedürftigen Menschen zu helfen. Das Ziel der Organisation ist es, neben warmen Mahlzeiten, Lebensmittel- und Sachspenden, den hilfesuchenden Menschen unangenehme Gefühle und Scham zu nehmen. Das Team, das komplett aus Ehrenamtlichen besteht, freut sich immer über Spenden, die den Bedürftigen in Halle (Saale) vollständig zugutekommen.
Spendenkonto
Bus Vierjahreszeiten e.V.
DE10 8005 3762 1894 1196 37
Kontakt
Bus Vierjahreszeiten e.V.
Merseburger Str. 402
06132 Halle (Saale)
Telefon: 0176 70 55 44 07
Wärmestube Evangelische Stadtmission Halle e.V.
Quelle: https://www.stadtmission-halle.de/soziale-arbeit/waermestube/
Die Einrichtung Sozialberatung und Tagesaufenthalt „Wärmestube“ ermöglicht Obdachlosen einen unbürokratischen Zugang zu Unterstützungsangeboten. Die Helfer:innen vor Ort freuen sich ebenfalls über Spenden, um den auf der Straße lebenden Menschen durch den Winter zu helfen.
Spenden für die Wärmestube:
Evangelische Stadtmission Halle e.V.
Evangelische Bank
IBAN: DE32 5206 0410 0408 0061 64
BIC: GENODEF1EK1
Text und Fotos: Alena Bata