Kultur soll für alle da sein – doch ist sie das wirklich? Während Kulturangebote wachsen, bleibt die Barrierefreiheit oft auf der Strecke. Dabei gibt es für viele Hürden Lösungen. Wie Kulturangebote inklusiver werden können und was das Projekt „Kulturzeit für alle“ damit zu tun hat.
Montags ins Puschkino, dienstags zum Poetry-Slam in die Palette und am Wochenende ins Theater. Die Termine von HUNGER, dem literarischen Salon im WuK, sind genauso im Kalender markiert, wie die von Halle lacht. Das Kulturangebot der Saalestadt ist breit und vielfältig. Eigentlich müsste hier für jeden etwas dabei sein, oder? Ein Blick ins Publikum zeigt jedoch: Menschen mit Behinderung sind kaum vertreten.
Dabei sollten Kulturveranstaltungen für alle Bürger:innen zugänglich sein. Egal ob Rockkonzert oder Oper, Kulturveranstaltungen sind Begegnungsräume. Angeregte Gespräche über die Setlist oder das Bühnenbild verbinden und schaffen gemeinsame Erinnerungen. Menschen, die in ihrem Alltag wenig Berührungspunkte miteinander haben, empfinden ein Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit. Kultur verbindet Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen.
Kultur kann und soll dabei nicht nur unterhalten oder eine Abwechslung vom alltäglichen Leben bieten. Es geht auch darum, gesellschaftliche Missstände zu diskutieren und alternative Perspektiven einzunehmen. Schaut man aber genauer hin, zeigen sich nicht nur auf der Bühne oder der Leinwand Missstände.

Stroboskopische Effekte und UN-Behindertenrechtskonvention
Fehlende Audiodeskription oder Untertitel, unzählige Treppenstufen und mangelhafte Aufklärung über stroboskopische Effekte sowie die Lautstärke sind keine Seltenheit. Während das Treppensteigen oder die extreme Lautstärke für die meisten Menschen höchstens nervig oder anstrengend ist, stellt es für Menschen mit Behinderung und neurodiverse Menschen meist eine echte Herausforderung dar.
Diese Hürden erschweren vielen Menschen den Zugang zu Kultur. Und gegen genau diese Barrieren haben sich die Vertragsstaaten der UN-Behindertenrechtskonvention mit der Unterzeichnung eigentlich ausgesprochen. Der Artikel 30 trägt den passenden Titel „Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“. Gemäß dem Artikel müssen die Vertragsstaaten dafür Sorge tragen, dass Menschen mit Behinderung der Zugang zu kulturellen Aktivitäten möglich ist.
Harry Potter und Ikkimel – Barrierefreiheit? Kein Problem.
Dass Barrierefreiheit im Kulturbereich keine unerreichbare Vision sein muss, beweisen verschiedene Institutionen bereits heute. Um barriereärmer zu werden, können Kultureinrichtungen einiges tun. Mit gutem Beispiel gehen etwa die Staatlichen Museen zu Berlin voraus. Dort werden Informationen zu den Ausstellungen und Veranstaltungen in leichter Sprache angeboten. In Bochum setzt man im Schauspielhaus hingegen auf Induktionsschleifen, um Träger:innen von Hörgeräten eine bessere Akustik zu ermöglichen. Währenddessen gibt es beim Theaterstück „Harry Potter und das verwunschene Kind“ in London ausgeschriebene „relaxed performances“. Von der Sicherheitskontrolle bis hin zu den Sitzplätzen ist alles an den Bedürfnissen neurodivergenter Menschen ausgerichtet.
Auch Künstler:innen setzten in der jüngsten Vergangenheit vermehrt ein Zeichen für eine verbesserte Barrierefreiheit. So gab die Sängerin Ikkimel bekannt, dass sie während ihrer Tour „Hände hoch, Hose runter 2025“ für ein inklusives Umfeld für neurodivergente Menschen und Schwangere sorgen wolle. Und auch der Radiosender MDR Jump veranstaltete im Februar im Rahmen der Konzertreihe „Bands for Friends“ ein Konzert mit Musikdolmetscherinnen. Wer will, findet also Lösungen, um Kultur für alle Menschen zu ermöglichen.
Doch man muss den Blick gar nicht auf allzu weit entfernte Orte werfen, um Maßnahmen zur Barrierefreiheit zu entdecken. Auch hier vor Ort gibt es Initiativen, die Kultur für Menschen mit Behinderung zugänglich machen wollen – wie das Projekt „Kulturzeit für alle“ in Halle.
Gemeinsam statt allein
Mithilfe dieses Tandemprojekts sollen Menschen mit und ohne Behinderung das kulturelle Angebot der Stadt Halle gemeinsam erkunden. Nach einem kurzen Kennenlerngespräch matchen die Organisator:innen des Projekts Menschen miteinander, die ähnliche kulturelle Interessen und Erwartungen an das Tandem haben. Ein erstes Kennenlernen zwischen den Tandempartner:innen wird in den Räumen der Freiwilligenagentur organisiert. Und mit etwas Budget von der Freiwilligenagentur ausgestattet kann die individuelle Entdeckungsreise durch Halle im eigenen Tempo starten.
Sindy und Laura bilden seit Dezember 2024 ein solches Tandem. Seitdem waren sie bereits gemeinsam in der Oper und im Halloren Schokoladenmuseum. Genug Ideen für weitere Aktivitäten haben die beiden Frauen auf jeden Fall. „Bereits geplant ist ein Besuch im Kino sowie im Zoo und dem Botanischen Garten der Stadt, um den Frühling zu genießen“, so Laura.
Planung, Planung und Alternativen
Doch nicht jede Idee kann am Ende umgesetzt werden. „Nach dem gemeinsamen Besprechen, wo es überhaupt hingehen soll, ist der zweite Schritt natürlich die Überprüfung der Barrierefreiheit“, erklärt Laura. Fußläufige Ziele, Fahrstühle und Informationen in einfacher Sprache sind dabei ein Muss. Trotz Planung steht das Kulturtandem manchmal vor unvorhersehbaren Hürden.
„Wichtig ist, sich nicht im Stillen zu ärgern, sondern die kulturellen Einrichtungen auf ihre Defizite in Sachen Barrierefreiheit aufmerksam zu machen“. Ein hilfreiches Tool dafür ist der von der Freiwilligenagentur erstellte Fragebogen. So können die Tandems Kultureinrichtungen auf Barrieren und Hindernisse aufmerksam machen und Awareness schaffen.

Viele der Hürden meistern die beiden Frauen jedoch auch gemeinsam. „Wenn wir doch mal eine Treppe vorfinden, für die es keinen Fahrstuhl gibt und die auch kein Geländer aufweist, wäre diese für Sindy eine Hürde, die sie nicht allein bewältigen kann. Sind wir zu zweit unterwegs, werden diese Situationen entschärft, da ich ihr einfach schnell unter die Arme greifen kann, um die Treppe hinauf oder abzusteigen.“
Ein Tandem ist keine Einbahnstraße
Doch das Tandem ist keine Einbahnstraße und Laura ist nicht die Begleiterin von Sindy. Während Sindy durch das Projekt mehr kulturelle Teilhabe erlebt, entdeckt Laura neue Orte und Perspektiven, die sie allein nicht wahrgenommen hätte. Das ist vor allem dann der Fall, wenn Sindy und Laura nach Alternativen suchen müssen, wenn das eigentliche Ausflugsziel über zu viele Hindernisse verfügt. „Wir entdecken zusammen Neues und sehen die Stadt aus einem anderen Blickwinkel“, so Laura. Dank des Tandems fallen Laura mittlerweile immer mehr Barrieren auf, die ihr bisher nicht bewusst waren.
Programme wie „Kulturzeit für alle“ sind also ein wichtiger Schritt für eine barriereärmere Umgebung. „Ich denke, dass den Kultureinrichtungen überhaupt erst mal die Nachfrage nach Barrierefreiheit bewusst wird. Diese kann aber in vielen Fällen erst durch Projekte wie das Kulturtandem der Freiwilligenagentur geschaffen werden.“ Eine wachsende Awareness für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung würde langfristig dazu führen, dass Menschen mit Behinderung Kultureinrichtungen selbstständig und ohne Unterstützung besuchen könnten.
Text: Leonie Brommer
Fotos: Sulamith Fenkl-Ebert, © Freiwilligen-Agentur Halle (Saale)