Viele Menschen leben einsam. Dass aber wenigstens niemand mehr in Einsamkeit bestattet wird, dafür sorgt eine Initiative in Halle. Über den Besuch einer Trauerfeier für Menschen ohne Angehörige.
Ein Montagvormittag Mitte November und ich fahre zum Gertraudenfriedhof, anstatt wie sonst zur Vorlesung zu gehen. Ich will eine Trauerfeier besuchen, weiß aber nicht einmal für wen. Komisch? Ein bisschen schon. Ich habe auch eigentlich sonst gar keine Affinität zum Thema Endlichkeit und Tod; im Gegenteil, ich meide es im Alltag, so gut es geht. Und doch hat mich die Einladung zu dieser Trauerfeier angesprochen. Zu einer Trauerfeier für Menschen, die gestorben sind, ohne Angehörige zu hinterlassen, die sich um ihre Beisetzung kümmern könnten. In solchen Fällen sorgt die Stadtverwaltung für die Bestattung. Das bedeutet, dass in der Vergangenheit Betroffene meist nur im Beisein von Mitarbeitenden der Stadt und des Bestattungsunternehmens beigesetzt wurden.
Das hat sich geändert, als im Oktober 2022 die evangelische Citykirche um Pfarrerin Ulrike Scheller eine Initiative gründete, die seither dafür sorgt, dass sich Menschen einmal im Monat zu einer Trauergemeinde versammeln, die den Verstorbenen ein würdevolles letztes Geleit in Gemeinschaft gibt. Unterstützt wird das durch die Mitteldeutsche Zeitung, die jeweils ein paar Tage vorher eine Anzeige für die Verstorbenen schaltet. Manche werden nur dadurch auf den Tod eines oder einer entfernten Bekannten aufmerksam und erhalten dann die Gelegenheit, sich in passendem Rahmen zu verabschieden. Aber man muss keinen der verstorbenen Menschen kennen, um Anteil zu nehmen und bei einer Trauerfeier Respekt zu erweisen.
So geht es auch mir. Bisher hatte ich solche Sterbefälle gar nicht auf dem Schirm, bin nirgendwo auf sie aufmerksam geworden. Damit bin ich bestimmt nicht allein. Und so können Menschen aus unserer Gesellschaft verschwinden, ohne dass es jemandem außer „dem Amt“ auffällt. Umso erfüllender ist es, an diesem Vormittag nun Teil einer Trauergemeinschaft zu sein.
Die Trauerfeier findet in der großen Trauerhalle auf dem Gertraudenfriedhof statt, einer von warm-goldenem Licht zahlreicher Kerzen erhellten Rotunde mit einem freskenbemalten blauen Kuppelhimmel. Vorne stehen in einer kleinen Runde zehn Urnen auf hölzernen Stelen, geschmückt mit weißen Blumen. Ein Gitarrist bringt den halligen Raum zum Klingen, melancholisch, nachdenklich, zuversichtlich. Eine harmonischere und passendere Atmosphäre geht wohl kaum. Der Gemeindereferent, der durch die Trauerfeier führt, verliest die Namen der Verstorbenen und ihr Alter. Mehr ist meistens nicht bekannt; eine große Herausforderung für die Veranstaltenden. Wie soll man passende letzte Worte finden für Menschen, die man nicht kannte und von denen man nichts weiß außer dem Namen? Man kann diese Fragen stellen, gemeinsam nachdenken. Wofür begeisterten sich diese Menschen? Wovon lebten sie, wofür lebten sie? Die Trauerrede reflektiert, überlegt und gibt Hoffnung. An einem Satz bleibe ich hängen: „Wir wissen zu wenig. Aber vielleicht fragen wir auch zu wenig.“ Die Menschen, die dort betrauert werden, sind wohl oft ziemlich einsam gestorben. Sonst stünde nicht eine unbekannte Gruppe an ihrem Grab mit hundert Fragen im Kopf. Doch wir müssen diese Fragen vorher stellen, wenn wir möchten, dass jeder Mensch in unserer Mitte wichtig ist. Ich habe selbst ein bisschen nachgedacht und mir ist aufgefallen, wie viele Menschen ich in meinem direkten Umfeld nicht kenne. Zum Beispiel den Großteil meiner Nachbar:innen und die meisten meiner Kommiliton:innen, mit denen ich seit drei Semestern in der Vorlesung sitze. Stattdessen bleibe ich in gleichen, bekannten Kreisen und chatte lieber mit einer Freundin, anstatt mit der Person neben mir ein Gespräch anzufangen. Das ist für unsere Sozialstruktur wahrscheinlich ziemlich beispielhaft. Aber woher können wir dann wissen, dass für alle gesorgt ist?
Die meisten der etwa 20 Anwesenden wissen wie ich nichts über die Menschen, die wir an diesem Tag verabschieden und doch legen einige Blumen an den Gräbern der Verstorbenen ab. Die letzten Ruhestätten dieser „ordnungsbehördlich“ Bestatteten sind übrigens anonym — kein Stein, keine Tafel erinnert an sie. Und auch wenn ich niemanden von den Verstorbenen kannte, fühle ich mich mit den anderen Anteilnehmenden verbunden; und in diese Verbindung nehmen wir die zehn Menschen mit hinein, denen wir auf den Straßen von Halle nie wieder begegnen können.
Auf dem Weg zur Tram komme ich mit einem Intensivpfleger ins Gespräch, der während der Beisetzung neben mir stand. Wir sind uns einig, dass zur menschlichen Würde auch ein Begräbnis in Gemeinschaft gehört. Gerade weil er in seinem Beruf viel mit menschlichem Schicksal konfrontiert ist, schätzt er die monatlichen Trauerfeiern: um innezuhalten und die Endlichkeit menschlichen Lebens einmal bewusst wahrzunehmen.
Dazu laden die Trauerfeiern für Menschen ohne Angehörige ein: eine Gemeinschaft zu bilden, die Anteil nimmt und ein Zeichen setzt gegen Einsamkeit.
Text und Illustration: Benjamin Elsholz