Jede gute Geschichte ist wie eine Reise. Sie nimmt uns mit auf neue Pfade und wirft uns in Leben, die wir so bisher nicht kannten. Vielleicht begleiten wir auch die Figuren auf einen Streifzug in neue Gefilde, hinaus in die Welt oder auch in sich selbst. Wenn sie zurückkommen, sind sie verändert – und so auch wir.
Die Frau, die singt – Incendies (2010)
von Denis Villeneuve
133 min / CAN / FSK 12
Nach dem Tod ihrer Mutter erfahren die Zwillinge Jeanne und Simon von deren letzten Willen: Sie möchte anonym bestattet werden. Außerdem hinterlässt sie zwei Briefe: Einen für den Vater der Geschwister, den sie nie kennengelernt haben, und einen für einen Bruder von ihnen, von dem sie bisher nichts wussten. Erst wenn diese beiden Briefe persönlich übergeben wurden, dürfen die Zwillinge einen Grabstein anfertigen lassen. Während Simon zögert, macht sich Jeanne auf den Weg in die Heimat ihrer Mutter, irgendwo im arabischen Raum, aus der sie einst floh.
Im Film verflechten sich die Geschichten von Mutter und Tochter, zwei Frauen in unterschiedlichen Zeitebenen, die eine auf der Suche nach Freiheit, die andere nach Wahrheit. Sie beide bewegen sich dabei in einer Welt, die zutiefst zerrissen ist von religiösen und politischen Konflikten. Teilweise auf der Lebensgeschichte der libanesischen Widerstandskämpferin Souha Bechara beruhend, erzählt Denis Villeneuve hier eine tiefgehende Geschichte über Schmerz, Traumata und Hoffnung, die einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen wird.
303 (2018)
von Hans Weingartner
145 min / D / FSK 12
Jule studiert Biologie und ist gerade durch ihre letzte Prüfung gefallen. Zudem ist sie ungeplant schwanger. Um den herumschwirrenden Gedanken in ihrem Kopf Herrin zu werden, entschließt sie sich zu einem Roadtrip nach Portugal, wo ihr Freund und Kindsvater wohnt. Auf dem Weg trifft sie den Politikstudenten Jan, der nach Spanien will, um dort seinen Vater kennenzulernen. So schließen die beiden sich zusammen – zwei junge Menschen in der Schwebe — und auf ihrer Reise durch Westeuropa entspinnen sich Gespräche über die großen und ganz kleinen Dinge des Lebens, über Sinn und Unsinn und was denn nun eigentlich die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.
Die Figuren und ihre Dialoge sind mit einer Zärtlichkeit inszeniert, die ihresgleichen sucht. Der Film hat etwas von einem leichten Sommersong, wo man bei genauerem Achten auf den Text jedoch auch eine gewisse Tiefe und Tragik feststellen kann. Zusammen mit Mala Emdes und Anton Spiekers sensiblem Spiel entsteht dabei eine zauberhafte Geschichte über die gesamte Schwere und Leichtigkeit des Seins.
Good Time (2017)
von Benny und Josh Safdie
101 min / USA / FSK 12
Connie überfällt mit seinem kognitiv behinderten Bruder Nick eine Bank. Er will das Geld nutzen, um mit Nick abzuhauen, damit dieser nicht in der Obhut der Behörden verbleibt. Doch der Coup geht schief, Nick wird verhaftet. Connie hat nur eine Chance, seinen Bruder rauszuholen: Er muss bis zum nächsten Morgen 10 000 Dollar für die Kaution auftreiben. So beginnt eine Reise durch den New Yorker Untergrund, elektrisierend, auf heißen Kohlen, eine Nacht wie im Rausch, die weder Connie noch dem Publikum eine Verschnaufpause gönnt. Dabei entwickelt der Film einen Sog, dem man sich bis zum Ende nicht entziehen kann.
Text: Ronja Hähnlein
Illustrationen: Marlene Nötzold
Ich empfehle noch “Perfect Days” von Wim Wenders. Der Film ist jetzt neu gestartet und ist im Puschkino zu sehen