Das bekannteste Gesicht der AfD muss sich wegen Gebrauchs einer verbotenen SA-Parole einem Strafprozess stellen. Vor dem Landgericht Halle wird dabei auch über die Frage verhandelt, wie bewusst die extreme Rechte mit der Grenze des Sagbaren spielt.
Björn Höcke, AfD-Landeschef und Oppositionsführer im thüringischen Landtag, steht vor Gericht. Zum ersten Mal. Das ist insofern zu betonen, als seine Abgeordneten-Immunität bereits achtmal aufgehoben wurde, um Ermittlungen zu ermöglichen. Alle bisherigen, unter anderem zum Vorwurf der Volksverhetzung, wurden eingestellt. Dieses Jahr allerdings wurden gleich zwei Anklagen zugelassen: eine der Staatsanwaltschaft Mühlhausen wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung (Prozess bisher nicht eröffnet) und eine in Halle, über die das Landgericht seit dem 18. April verhandelt.
Der Vorwurf
In der Endphase des Landtagswahlkampfs 2021 in Sachsen-Anhalt trat Höcke auf einer Veranstaltung der AfD in Merseburg auf. Live vor über 200 Menschen und später als Video auf Facebook gestellt. Seine Rede beendete er mit den Worten: „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland!“ Der letzte Teil ist nun für den Strafprozess relevant, denn: „Alles für Deutschland“ war der Leitspruch der Sturmabteilung (SA) im nationalsozialistischen Deutschland. Die SA als paramilitärische Organisation steht für den NS-Terror auf den Straßen der Weimarer Republik schon vor der Machtübernahme; und hat dann in der Anfangszeit des neuen Regimes 1933 in provisorischen Konzentrationslagern Tausende misshandelt, gefoltert und ermordet.
Die Anklage wirft Höcke vor, mit „Alles für Deutschland“ bewusst ein Kennzeichen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation öffentlich verwendet zu haben, was nach §§ 86 Abs. 1 Nr. 4, 86a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar ist. Im Prozess geht es nun darum, ob Höcke von der Bedeutung der Parole gewusst, sie also vorsätzlich verwendet hat. Nur seine individuelle Kenntnis ist von Belang – nicht, ob die Bedeutung allgemein bekannt ist.
Der Prozess und mögliche Folgen
Der Prozess findet aufgrund der besonderen Bedeutung und dem großen Interesse der Öffentlichkeit vor dem Landgericht Halle statt und nicht wie ursprünglich angesetzt vor dem Amtsgericht. Die Hauptverhandlung hat am 18. April begonnen und soll bis zum 14. Mai an vier Verhandlungstagen erfolgen. Ursprünglich war geplant, in dem Verfahren eine weitere Anklage zu behandeln: Bei einer Rede 2023 in Gera hat Höcke den ersten Teil der Parole „Alles für…“ gesprochen und das Publikum „Deutschland“ ergänzen lassen; zu einem Zeitpunkt, da er von den ersten Ermittlungen gegen ihn schon wusste. Kurzfristig wurde am ersten Verhandlungstag jedoch entschieden, die beiden Verfahren wieder zu trennen – mit Rücksicht auf einen Verteidigerwechsel kurz vor Beginn. Übrigens: Einer der drei Verteidiger, Ulrich Vosgerau, war laut Correctiv-Recherche Teilnehmer des Potsdamer Treffens, das Anfang des Jahres bundesweit Proteste auslöste.
Bei Verurteilung nach § 86a StGB würde eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren erfolgen. Wenn Höcke zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt würde, könnte das Gericht als Nebenfolge seine Rechte betreffend Wahl und Mandat einschränken. Das gilt in diesem Verfahren jedoch als äußerst unwahrscheinlich. Das Gericht teilte bereits mit, dass das Verfahren wohl nur auf eine Geldstrafe hinauslaufen werde.
Nach eigener Aussage: „Völlig unschuldig“
Grundsätzlich gilt bis zu einer Verurteilung die Unschuldsvermutung. Auch sollen Angeklagte in einem Strafprozess jede Möglichkeit bekommen, durch eigene Einlassungen zur Aufklärung beizutragen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist sogar explizit durch das Grundgesetz geschützt. So haben Angeklagte zum Beispiel auch das Recht auf das sogenannte letzte Wort am Ende der Verhandlung und ein Frage- und Beweisantragsrecht.
Höcke bezog am zweiten Prozesstag (24.04.) in einer gebündelten Einlassung persönlich Position zu dem Vorwurf. Er nutzte die Bühne, die das Gericht ihm bot, erhob sich und richtete weite Teile seiner ‚Rechtfertigungsrede‘ mehr an die Prozesszuschauenden (Presse, grundsätzlich Interessierte, darunter viele Studierende, Vertraute wie AfD-Kollegen) als an das Gericht. Während er eher demütig anfing, sich als „rechtstreuer Staatsbürger“, Familienvater und ehemals im Kollegium geachteter Gymnasiallehrer inszenierte, der sich vorher nie in Kollision mit dem Gesetz befunden habe, wurde sein Ton bald schärfer.
Er sei das Mobbingopfer der „etablierten Medien“, von Menschen, die davon lebten, ihn „zu diskreditieren und zu jagen“ und die „Strafanzeigen beruflich betreiben“; jede seiner Reden werde von „Hundertschaften von Antifaschisten“ untersucht, um strafbare Bezüge zu konstruieren, kurzum: Er sei zum „Teufel der Nation“ erklärt worden. Dabei distanziere er sich als freiheitsliebender Mensch ausdrücklich von jedweder Form der Diktatur und insbesondere der braunen. Allerdings: Dass er und viele in seiner Partei die deutsche Erinnerungskultur immer wieder angreifen, ist mit der im Gericht geäußerten Abscheu gegenüber dem NS-Regime schwer in Einklang zu bringen.
In welchem Maß fundiert seine doppeldeutigen Einschätzungen zum Nationalsozialismus sind, könnte man anhand der Tatsache bewerten, dass der Gymnasiallehrer für Geschichte Höcke, der sich auch während seiner Ausführungen immer wieder auf diese Tätigkeit und sein Historiker-Sein bezog, im Laufe seines ganzen Studiums laut eigener Angabe keine einzige Lehrveranstaltung zum Nationalsozialismus besuchte. Das versuchte er als Beleg für seine Unwissenheit in Bezug auf NS-Sprache anzubringen, ebenso wie einige mitgebrachte Schul- und Unterrichtsbücher seiner Lehrkarriere, in denen man den Spruch „Alles für Deutschland“ vergeblich suche.
Ein Geschichtslehrer sei ebenso wenig wie Anwälte oder Ärzte ein Universalgelehrter und also nicht in jedem Bereich seines Fachs kundig. Sein Schwerpunkt habe im 19. Jahrhundert gelegen, für dessen oft „blumige Sprache“ er ein Faible habe. Mit der SA, der er eine nur untergeordnete Rolle im Gefüge des NS-Regimes zuordnete, habe er sich deshalb nie ausführlich auseinandergesetzt. Daher habe er auch nicht von der Bedeutung des Satzes gewusst und hätte ihn andernfalls auch nicht verwendet, da das dem Landtagswahlkampf seiner Parteifreunde geschadet hätte. Er interpretiere den Ausspruch grundsätzlich als „Alltagsspruch“ und habe ihn unter Bezugnahme auf den Titel des Wahlprogramms der AfD Sachsen-Anhalt („Alles für unsere Heimat“) in einen „Dreiklang als aufsteigende rhetorische Kaskade“ eingebaut, mit der er in ähnlicher Form gerne seine Reden abschließe. Von diesen Reden habe er in seiner Karriere hunderte bis tausende gehalten und vieles passiere spontan.
Die Fragen des Gerichts
Der Staatsanwalt Benedikt Bernzen reagierte auf Höckes Ausführung mit Fragen nach dessen persönlichen Verhältnis zu einzelnen Parteikollegen wie Ulrich Oehme. Dieser hatte im Bundestagswahlkampf 2017 den SA-Spruch sogar auf Plakate drucken lassen; Ermittlungen wurden eingestellt, weil ihm nicht nachgewiesen werden konnte, dass er von der Bedeutung wusste. Höcke bejahte zwar, dass er in gutem Kontakt mit Oehme stehe, von diesem Sachverhalt will er aber erst im Nachhinein erfahren haben. Was auch daran liegen könne, dass er die „etablierten Medien“ aus „psychologischem Selbstschutz“ kaum rezipiere. Gleiche Unkenntnis gelte für eine ähnliche Verwendung (mit anschließender Ermittlung) Monate vor dem Tatzeitpunkt durch den Landes-Vize der AfD Sachsen-Anhalt, Kay-Uwe Ziegler, den Höcke nur dem Namen nach kennen will.
Höcke zeigte sich vermeintlich grenzenlos uninformiert: Auch mit einem Mitarbeiterstab seien ihm als AfD-Landeschef, thüringischem Oppositionsführer und Parteistrategen diese Fälle nicht zu Kenntnis gekommen – offenbar auch nicht durch Lektüre „alternativer Medien“ – und sogar nicht einmal der Fakt, dass Teile seiner Partei, unter anderem sein eigener Landesverband, ins Visier des Verfassungsschutzes gerieten. Das interessiere ihn nicht, weil er diesen sowieso für den politischen Arm der Bundesregierung halte. Er sehe sich durch das Agieren seiner Gegner seiner Spontaneität beraubt, die seine Reden lebendig mache. Er zitierte eine Studie des Allensbach-Instituts für Demoskopie, wonach viele Befragte in Deutschland die Redefreiheit als zu eingeschränkt bewerteten. Auf die Nachfrage der beisitzenden Richterin, ob das Allensbach-Institut eine aus seiner Sicht vertrauenswürdige Institution sei, reagierte er ausweichend, nachdem er kurz zuvor eine Studie des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung als Pseudo-Wissenschaft abgewertet hatte. Mit dem verbreiteten Wunsch nach mehr Meinungsfreiheit begründete er auch die Aussagen in seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“, in dem er dafür plädiert, mit kleinen Vorstößen offensiv die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Diese Passage zitierte die Anklage wörtlich und fragte ebenfalls nach einem Tweet, in dem Höcke kürzlich auf eine Nachfrage Elon Musks antwortete, es gebe in Deutschland Straftatbestände, „um Deutschland daran zu hindern, sich selbst wiederzufinden“. Dazu mochte Höcke sich nicht äußern.
Soweit sich der Angeklagte einlässt, ist es Aufgabe des Gerichts, diese Äußerungen im Hinblick auf den Anklagevorwurf zu bewerten. Relevant ist für das Gericht dabei insbesondere auch, wie die Person auftritt und ob der Vortrag konsistent und nachvollziehbar ist. Obwohl Höcke diese Bühne zu nutzen wusste, lang und breit seine teils haltlosen Vorwürfe ausführen durfte, zeigte sich in der anschließenden Befragung, dass das Gericht einige Brüche in seinem Narrativ fand.
Als Geschichtslehrer hätte er es wissen müssen? — Meine Meinung als Geschichtsstudent
Ich kann bestätigen, dass man während des Geschichtsstudiums ziemlich frei wählen kann, mit welchen Themen man sich beschäftigt. Dass Höcke in seinem Studium also keine Veranstaltung zum Nationalsozialismus besucht hat, ist durchaus denkbar, wenn auch im besten Fall fahrlässig, betrachtet man die herausgehobene Stellung, die das NS-Regime und sein Terror zu Recht im schulischen Lehrplan einnehmen. Doch auch wenn man sich mit dem „Dritten Reich“ ausführlicher beschäftigt, ist es möglich, nicht über die Parole „Alles für Deutschland“ zu stolpern. Ich halte es für wahrscheinlich, dass ich, wie auch andere meiner Kommiliton:innen und mit ihnen viele Geschichtslehrer:innen, nach Absolvierung meines Studiums diese Parole der SA nicht präsent gehabt hätte. Insofern halte ich die Aussage, die ich in vielen Medien zu dem Thema gelesen habe, als Geschichtslehrer hätte Höcke die Bedeutung dieses Satzes kennen müssen, per se für nicht besonders schlagkräftig.
Nun läuft ein Geschichtslehrer aus der Mitte der Gesellschaft aber auch kaum Gefahr, diesen Satz in einer Wahlkampfrede fallen zu lassen und noch dazu in einem Kontext, der inhaltlich der ursprünglichen Absicht der SA nicht sonderlich fern steht. Wenn man wie Höcke unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht und keine unlauteren Absichten hat, sollte man vorsichtig mit seiner Sprache umgehen und sich über problematische Zusammenhänge informieren. Dass Höcke ein ganz anderes Spiel spielt, erkennt, wer ihm zuhört: Jemand, der öffentlich immer wieder von „entarteten Altparteien“, „Umvolkung“ und „Volksverderbern“ spricht, bemüht sich ganz offenkundig nicht um Distanz zu NS-Vokabular. Ganz im Gegenteil lassen sich die unverhohlenen Bemühungen erkennen, eine Sprache wieder hoffähig zu machen, die möglicherweise ihre Ursprünge im 19. Jahrhundert und vorher hat, aber durch den NS-Terror in einer Weise verbrannt wurde, durch die sie heute zu Recht geächtet ist, unabhängig davon, dass sie ihrem Gehalt nach oft menschenverachtend ist.
Auf der Grenze zwischen rechtlich Sanktionierbarem und geradeso nicht Strafbarem zu tänzeln, ist die Meisterschaft eines Björn Höcke. Dabei zeigen die (erfolglosen) Gerichtsfälle der jüngeren Vergangenheit, wie schwer es ist, Höcke eine absichtliche Verwendung von rechtswidrigen Aussprüchen nachzuweisen. So ist auch die SA-Parole im logischen Kontext seiner Wahlkampfrede dergestalt unauffällig verblendet, dass die Opfererzählung, die ‚politisch gesteuerte Justiz‘ versuche, einen bekannten Oppositionspolitiker auf Grundlage eines harmlosen Alltagsspruches kalt zu stellen, leicht bei den eigenen Anhänger:innen zu verfangen mag.
Letztlich wird das Urteil in diesem Prozess eine neue Deutung zulassen, wie unser Rechtsstaat auf die Doppelstrategie der rechten Ultras reagiert: Erkennt er das perfide Spiel mit den sprachlichen Grenzen des gesellschaftlichen Diskurses derer, die gerne behaupten, die ‚echte‘ Wahrheit zu propagieren, oder geht er (weiterhin) der bekümmerten Unschuldsmiene auf den Leim? Entscheidend hierbei wird nicht zuletzt sein, ob es der Staatsanwaltschaft gelingt, eine Wiederverbindung mit dem Verfahren aus Gera durchzusetzen, das dem merseburgischen Tatbestand klarere Facetten hinzufügen könnte.Die Verhandlung wird am 03. und 14. Mai fortgesetzt. Am 14. Mai soll nach bisheriger Planung das Urteil ergehen.