30 Jahre Mauerfall sind auch 30 Jahre Stura: Im Zeitraum der Wende entstand der hallische Studentenrat am 7. November 1989 und war damit der vermutlich erste in der gesamten DDR. Udo Grashoff analysiert als Historiker und Zeitzeuge diese Vorgänge und Hintergründe in seinem Buch „Studenten im Aufbruch“. Zur Veröffentlichung kam er dahin zurück, wo dessen Ursprung liegt: an die Martin-Luther-Universität.
Es fühlt sich an wie ein Klassentreffen. Udo Grashoff begrüßt an einem Novemberabend in einem Hörsaal des Löwengebäudes die Anwesenden für ein Zeitzeugengespräch. Dabei stellt sich heraus: Nicht nur die geladenen Gäste waren im Jahre 1989 Studierende an der Martin-Luther-Universität, sondern auch ein Großteil des Publikums. Eine lebhafte Diskussion und das Schwelgen in Erinnerungen prägen den Abend, bis die ehemaligen Studierenden sich nach der Veranstaltung zusammenfinden, um – vermutlich – einem klassischen studentischen Vergnügen zu frönen: dem Umtrunk. Wir sprachen mit ehemaligen Studierenden und Udo Grashoff über die Protestbewegung der Studierendenschaft, die Gründung des Studierendenrates und die Rolle der hallischen Freien Deutschen Jugend.
Herr Grashoff, in Ihrem Buch stellen Sie den Ursprung der Bewegung in der Theologie dar. Welche Rolle spielten die Theologiestudierenden?
Zum einem hat sich der Widerstand in der DDR in den Kirchen entwickelt. Nicht alle in den Kirchen waren Christen, aber die Kirchen haben einfach den einzigen möglichen geschützten Raum in der DDR geboten, in dem man sich als kritischer oder andersdenkender Mensch relativ geschützt bewegen konnte. Und dann war es so, dass diejenigen, die eine Theologieausbildung in der DDR gemacht haben, auch in die FDJ eintreten mussten. Die FDJ war als einzige studentische Interessensvertretung definiert, und da gab es immer Reibungen mit der Theologie. Welche Frage für mich allerdings noch offen ist: Warum Halle letztlich so effizient war und eine Vorreiterrolle hatte.
FDJ: Noch heute gibt es die Jugendorga-nisation „Freie Deutsche Jugend“. Sie betreibt politische Arbeit aus dem Karl-Liebknecht-Haus in Berlin, wo auch Die Linke ihren Sitz hat. Sie war die einzige staatlich anerkannte Jugendorganisation der DDR und hatte 1989 ungefähr 2,3 Millionen Mitglieder. Allerdings ist die Organisation mittlerweile in die Bedeutungslosigkeit versunken.
So hatte Halle den vermutlich ersten Studierendenrat in der DDR. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Vielleicht war es eine glückliche Fügung. Fairerweise muss gesagt werden, dass die Anfänge der revolutionären studentischen Bewegung in Leipzig und Berlin lagen, aber dort gab es erheblichen Widerstand. In Halle hingegen war die FDJ-Kreisleitung sehr kleinlaut und leistete nicht wirklich Widerstand. Im Gegenteil, sie haben noch assistiert und die Veranstaltungen und Räume organisiert. Die FDJ-Kreisleitung in Halle wollte auch Veränderung, aber sie wollten es unter Kontrolle halten. Das ist ihnen aber nicht gelungen.
Wie waren denn die Reaktionen von „staatstreuen“ Studierenden, der Universität und des Ministeriums für Staatssicherheit?
Die Gegenkräfte waren da. Es gab noch systemkonforme Gegenthesen von Studenten, die meinten, die DDR verteidigen zu müssen, aber das war eine kleine lächerliche Minderheit. Die Stasi hat natürlich alles versucht, die hat noch bis Mitte Oktober 1989 Verhaftungen vorgenommen. Das hat die anderen aber nicht davon abgehalten weiterzumachen. Die Stasi war da und eine gefühlte Bedrohung, allerdings nicht besonders effektiv. Die Strukturen der Uni, die SED-Parteileitung und gewisse Professoren sind mir noch stärker als Repressionsorgane in Erinnerung als die Stasi. Die Stasi hat man nicht gesehen.
Aber es gab auch Professor:innen und Dozierende, die die Bewegung unterstützt haben.
Es gab ein Häuflein Aufrechter, die Initiativgruppe zur Erneuerung der Martin-Luther-Universität. Das war eine Gruppe von nicht unbedingt Professoren, aber Mittelbau, die sich zusammengetan und tapfer gekämpft haben. Die haben sich im Dezember 1989 gegründet, da gab es den Studentenrat schon anderthalb Monate. Es gab natürlich auch einzelne Hochschullehrer, die sich nicht offen bekannt, aber die schützende Hand darübergehalten haben.
Mittelbau: Als Mittelbau werden die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen der Universität bezeichnet.
Welche Rolle spielten der 9. und 10. Oktober 1989?
An der Uni war es ein Wendepunkt. Es kam das erste Mal zu größeren Vollversammlungen. In Leipzig war die Montagsdemo am 9. Oktober der friedliche Durchbruch, und in Halle gab es die Prügelei durch die Polizei. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Vorher waren es Einzelne, die sich konspirativ getroffen haben. In die Masse ging es dann am 9./10. Oktober.
Wie wurde diese Masse dann in einen Rat transformiert?
In einem oppositionellen Kreis entstand die Idee, eine studentische Interessensvertretung zu installieren. Während wir uns konspirativ getroffen hatten, kam von der FDJ die Einberufung zur Vollversammlung. Da haben wir gesagt: Die kapern wir. Wir wollten einen Antrag zur Abstimmung über die Sitzungsleitung stellen, ich sollte der Versammlungsleiter werden. Wir hatten eine Kampfabstimmung, die haben wir verloren. Da waren wir geknickt, aber es hat uns auch mehr gereizt. Wir haben dann die Versammlung genutzt, um unsere Ideen vorzustellen. Wir beantragten einen Studentenrat zu gründen, die übergroße Mehrheit hat dafür gestimmt. Auch die ganzen FDJ-Anhänger.
Warum waren die FDJler:innen dafür?
Ich glaube, das Wort „Rat“ hat in diesem Zusammenhang Brücken gebaut. Für Kommunisten waren Räte etwas sehr Positives und insbesondere in Krisenzeiten notwendig.
Die FDJ war Geldgeber des Studierendenrats. Wie hat sich die Zusammenarbeit entwickelt?
Die FDJ hat es noch bis Februar 1990 gegeben. Anfangs war es ein Nebeneinander, und man hat parallel existiert. Irgendwann musste es aber geklärt werden. In Verhandlung mit der FDJ wurden erst die Räume und dann das Budget auf den Studentenrat übertragen.
Welche Aktionen gingen dann von diesem Studierendenrat aus?
Erst einmal musste alles sehr demokratisch sein. Die ersten zwei Monate ging es um die Satzung. Einer der ersten Beschlüsse war die Abschaffung des marxistisch-leninistischen Grundstudiums. Dann wurde die Pflichtsportausbildung abgeschafft, weil die auch militärisch ausgelegt war. Zum Jahreswechsel begann dann die Arbeit der Ausschüsse.
Wie engagiert waren die Mitglieder des Studierendenrates?
Also, das kann man sich heute als Student nicht vorstellen, was für ein Maß an unverlangter und politischer Aktivität es gegeben hat. Zum Beispiel am 8. November, einen Tag nach der konstituierenden Sitzung. Ich habe eine große Veranstaltung in einem Hörsaal am Weinberg moderiert: „Die Zukunft der Studentenvertretung“. Da sind fünf verschiedene Modelle für den Studentenrat entstanden. Studenten haben von sich aus Konzepte ausgedacht und geschrieben. Das war eine spontane politische Aktivität, wie ich sie nie wieder erlebt habe.
Einige Historiker:innen kritisieren Ihre Auffassung vom Engagement der Studierenden, da ein Studium häufig eine gewisse Regimetreue erforderte und Studierende daher mit dem Erhalt des Status Quo zufrieden sein müssten.
Dieses Interesse gab es. Aber Studenten sind auch Leute mit Grips und stellen eben auch Fragen, selbst die der DDR. Oftmals kam die Opposition von Kindern aus staatsnahen Familien.
Sie sprechen von einer widersprüchlichen Revolution, wie ist das zu verstehen?
Natürlich wollten die Studenten – da schließe ich mich ein – Veränderung und Demokratisierung, aber keine Revolution, sondern eine Reform und einige Dinge von der DDR behalten. Wir waren teilweise von den Werten und Normen der SED geprägt und daher ein bisschen blind.
Weiterhin wird kritisiert, dass an Protesten – speziell am 9. und 10. Oktober – der Anteil der Studenten gering war.
Das kann natürlich sein, aber wie viele von der halleschen Bevölkerung waren da? Prozentual gesehen waren die Studenten überproportional vertreten. Das muss man immer im Verhältnis sehen.
Ist die Entwicklung des Studierendenrats nach Ihren Vorstellungen verlaufen?
Wir haben die Funktionsfähigkeit von Basisdemokratie deutlich überschätzt. Im Verlauf des Jahres 1990 ging das Interesse am Stura gegen Null. Trotzdem wollten wir das Rätemodell nicht aufgeben, weil es unseren demokratischen Idealen am besten entsprach. Deshalb ging es nach der Wiedervereinigung vor allem darum, die Anerkennung des Studentenrat-Modells zu erreichen. Und das ist gelungen.
Eine wichtige Forderung war auch die Drittelparität …
Das ist vermutlich das Einzige, was wir uns von unseren Westpartnern haben schmackhaft lassen machen. Ansonsten waren wir ja, was die Studentenparlamente im Westen anbelangte, eher skeptisch. Studentische Politik an westdeutschen Universitäten sah für uns eher aus wie eine Spielwiese für heranwachsende Jungpolitiker und nicht wie studentische Interessenvertretung. Aber die Idee, dass Studenten, Mittelbau und Professoren je ein Drittel der Sitze im Senat bekommen sollten, entsprach unseren Vorstellungen von Demokratie. Um das durchzusetzen, hätten wir aber eine Massenmobilisierung gebraucht. Vielleicht klappt das ja irgendwann noch …
Stefanie Jenssen (geb. Reinert) studierte Deutsch, Musik und Englisch, heute Sprachlehrerin
Hatte Halle eine Vorreiterrolle?
Für mich war Halle eine Art Befreiung, weil ich aus Potsdam von einem kommunistischen Gymnasium kam. In Halle hat für mich ein Freigeist geherrscht, insbesondere an der Uni und ganz besonders in der Germanistik. Ich kam an einem Ort an, an dem die Leute freier miteinander diskutiert haben, aber die Stasi war trotzdem immer dabei. Für mich hat Halle die Bildungsrolle gespielt – hier bin ich ein Individuum geworden. Es war sehr billig, ins Kino und Theater zu gehen, es hatte also eine unheimliche kulturelle Wirkung auf mich. Ich bin heute glücklich darüber, dass ich in Halle studiert habe.
Susanne Ehrhardt-Rein studierte Theologie, heute Dozentin an der KFU
Welche Rolle spielte die Theologie in der Bewegung?
Eine Sonderrolle, und zwar nicht nur in Halle. Das lag zum einen am Fach und zum anderen an der Rolle der Kirche, die es eigentlich gar nicht mehr geben sollte. Mir persönlich ging es so, dass ich mit dem Theologiestudium eine ganz andere freie Form des Denkens kennengelernt hatte, die ich so aus der Schule nicht kannte. Man kann nicht Theologie studieren, ohne frei zu denken, und deswegen gab es dort gewisses Potenzial. Kirchen waren Räume der Freiheit und des Diskurses, die es woanders nicht gab.
Jörg Wagner studierte Deutsch und Englisch, heute Dozent der Germanistik an der MLU
Sie hatten in der Diskussion die Drittelparität angesprochen. Inwieweit besteht an der Uni noch Demokratisierungsbedarf?
Es geht um die gesamten Unistrukturen. Wenn wir die Einheit von Lehre und Forschung ernst nehmen, müsste die Lehre in gewissen Gremien stärker vertreten sein. Entscheidungen werden letztlich ausschließlich von den Lehrstuhlinhabern getroffen. Wenn man Glück hat, wird man gehört, aber es gibt keine verbrieften Mitspracherechte. Die Mitbestimmung im Institut ist im engeren Sinne nicht gegeben.
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