Welche Auswirkungen hat unsere Art des Konsums in einer kapitalistischen, globalisierten Welt auf das Leben anderer? Und weitergedacht: Welche Mitschuld hat unser rücksichtsloser Lebensstil und unser Mangel an Empathie am Schicksal der unsichtbaren Mitglieder unserer Gesellschaft, den undokumentierten Migrant:innen? Diese Fragen wirft die Oper „Der goldene Drache“ auf und verhaspelt sich dabei in verstrickten Handlungen.
Das 90-minütige Musiktheater „Der goldene Drache“ von Peter Eötvös, das 2014 seine Uraufführung hatte, basiert auf dem gleichnamigen Schauspiel von Roland Schimmelpfennig und wird an der Oper Halle unter der Regie von Katharina Kastening aufgeführt. Auch wenn es Eötvös Ziel war, das Stück zugänglicher als das Schauspiel zu gestalten und durch Musik ein wenig Struktur in die verwirrende Darstellung zu bringen, wird schon bei der Einführung eine halbe Stunde vor Beginn der Oper deutlich: Leicht verständlich ist das Stück auch weiterhin nicht.
Die Bewohner:innen des Mietshauses
Im gut gefüllten Operncafé lauschen die Besucher:innen den Erläuterungen des Dramaturgen Carlo Mertens. Diese beziehen sich zu Beginn erst einmal auf den eigentlichen Inhalt des Stücks.
Ein junger Mann, „der Kleine“ genannt, arbeitet in der Küche eines asiatischen Restaurants mit dem Namen „Der goldene Drache“. Er ist von China nach Deutschland migriert, um seine Schwester zu suchen, die bereits in Deutschland lebt, sich aber nicht mehr bei der Familie meldet. Der junge Mann leidet unter großen Zahnschmerzen, kann aber nicht zu einem Zahnarzt gehen, da ihm die nötigen Papiere fehlen.
In Eötvös Musiktheater finden fast alle Handlungsstränge in dem Mietshaus statt, in dessen Erdgeschoss sich “Der goldene Drache” befindet. Über dem Restaurant, im ersten Obergeschoss, befindet sich eine Wohnung, in der die Grille lebt. Schimmelpfennig erweckt hier die Fabel der Grille und der Ameise zum Leben, denn die Schwester des Kleinen wird durch die Grille symbolisiert. Die Ameise führt die Grille in die Zwangsprostitution, ein Leidensweg, der schließlich tödlich für sie endet. Auch wenn das Geschwisterpaar demnach im selben Haus lebt, trifft es sich nie. Die zwei weiteren Wohnungen des Hauses werden von einem alten Mann und dessen Enkelin und ihrem Freund bewohnt. Der alte Mann hat Besuch von seiner Enkelin, welche ihm etwas Wichtiges sagen möchte, dies aber letztendlich nicht tut. Stattdessen verlässt sie ihren Freund, weil sie schwanger von ihm ist.
Die Handlung: Todesursache Zahnschmerzen?
Als die Zahnschmerzen des jungen Chinesen unerträglich werden, beschließen die anderen Küchenhilfen ihm den Zahn aus Mangel an Alternativen mit einer Rohrzange zu ziehen. Der Zahn landet hierbei unbemerkt in der Thai-Suppe der Stewardess Inga, die zu Gast im goldenen Drachen ist. Als Inga den Zahn findet, sagt sie jedoch nichts zu den Bediensteten, sondern steckt ihn in ihre Tasche und nimmt ihn mit nach Hause. Sie entwickelt ein merkwürdiges Interesse an dem Zahn und erkundet seinen Geschmack, indem sie ihn in den Mund nimmt.
Aufgrund der Schmerzen und des Blutverlustes halluziniert der Kleine und spricht ein letztes Mal mit seiner Familie, bevor er schließlich verblutet. Die anderen Köche entsorgen ihn in einem Fluss, der das übriggebliebene Skelett schließlich wieder zurück in sein Heimatland trägt. Kurz danach begegnet Inga den Köch:innen des Asia-Restaurants auf der Brücke über dem Fluss, behält ihren Fund jedoch weiterhin für sich und spuckt wenig später den fremden Zahn ebenso in das Wasser. Der Zahn ist weg – als ob er nie dagewesen wäre.
Besonderheiten
Das Ausgefallene an diesem Stück: Die 18 Rollen werden lediglich von fünf Sänger:innen verkörpert. So wird in kürzester Zeit zwischen jungen und alten, männlichen und weiblichen Charakteren hin und her gewechselt, was die stetige Aufmerksamkeit der Zuschauenden erfordert.
Auch die Musik der Oper ist nicht typisch melodisch, sondern beinhaltet Elemente aus der Filmmusik, speziell aus Zeichentrickfilmen, sowie der Minimal Music, bei der kleinste, nur wenig variierte Klangeinheiten oft wiederholt werden. Bilder und Handlungen auf der Bühne sollen so durch die Klänge hörbar gemacht werden. Außerdem sagt das Orchester im Laufe der Vorführung mehrfach eine kurze oder lange Pause an, in der die Darsteller:innen in ihrer Pose einfrieren und die Lichter ausgehen. Nach wenigen Sekunden geht es dann wieder weiter. In der Nachbesprechung des Stücks erklärt die Regisseurin, dies sei als Atempause gedacht, um die Zuschauer:innen kurz aus der Handlung herauszuholen und so auch in der Partitur und dem Theaterstück von Schimmelpfennig vorgeschrieben.
Außergewöhnlich bei der Inszenierung in Halle ist die Entscheidung, anstelle des Mietshauses ein Logistikzentrum auf der Bühne darzustellen. Diese Änderung durch das Team um Regisseurin Kastening soll die Schattenseiten der Globalisierung und die negativen Folgen des übermäßigen Konsums darstellen, indem das Bühnenbild an ein E‑Commerce-Versandhaus erinnert. Kastening begründet diese Besonderheit damit, dass das Stück von Natur aus nicht realistisch sei und nicht genau so wie es geschrieben wurde auf die Bühne gebracht werden könne. Die Entscheidung ist ambivalent zu betrachten, denn einerseits entsteht so ein Bezug zur Gegenwart des globalen Massenkonsums, doch andererseits sorgt eine zusätzliche Metaebene nicht gerade für ein verständlicheres Gesamtwerk.
Spannend, aber schwer zugänglich
Die Thematik der Oper ist hochgradig aktuell und auch die damit verbundenen Denkanstöße sind wichtig. Die Gleichgültigkeit, mit der das Verschwinden eines Menschenlebens hingenommen und mit der der junge Mann am Ende wieder in das System eingespeist wird — in der halleschen Inszenierung durch das Verpacken in einen Karton und das Weiterrollen über ein Fließband bildlich dargestellt — ist aufrüttelnd. Die Stewardess Inga soll uns als Gesellschaft darstellen, die sich Missständen durchaus bewusst ist und auch manchmal daran erinnert wird, sich dann aber aktiv dazu entscheidet wegzuschauen. Als Symbol dient hier der kariöse Zahn des Kleinen. Während es beim Zusehen bizarr wirkt, wenn Inga den Zahn in ihren Mund nimmt, wird nach ein wenig Grübelei durchaus die Tragweite ihrer Entscheidungen und die verknüpfte Symbolik deutlich.
Die Ausbeutung der Grille ist nur schwer mitanzusehen und wird trotz der anfänglich märchenhaften Parabel immer gewalttätiger. Begleitet von vulgärer Sprache wird die Schwester in jeder Szene von mehr Tape umwickelt und kann sich am Ende kaum noch bewegen. Eine eindrückliche Verbildlichung der äußerst eingeschränkten Mobilität von undokumentierten Migrant:innen.
Dem entgegengesetzt erscheint der gesamte Erzählstrang des Opas wenig nützlich für die Kernaussagen des Stücks. In der ersten Szene mit ihm wird seine Enkelin mit Zöpfen und kindlichem Verhalten als kleines Mädchen dargestellt, obwohl sie bereits 18 Jahre alt sein muss. Bei dieser Begegnung schaut der alte Mann seine Enkelin lasziv an und wünscht sich wieder jung zu sein. Auch in der daran anknüpfenden Szene, in der die Enkelin ihrem Freund von ihrer Schwangerschaft erzählt, erschließt sich mir nicht der Gesamtzusammenhang. Der Freund ermordet zwar schlussendlich die Grille als er ein Freier von ihr wird, jedoch hätte dies auch ohne die erwähnten Szenen passieren können.
Wie bereits erwähnt, soll die Musik Visuelles akustisch illustrieren. Das lässt zwar das Geschehene deutlicher werden, ist aber bisweilen auch anstrengend anzuhören. Wie im Programmheft nachzulesen ist, stecken hinter den Tönen durchdachte Konzepte, um diese starke Klanggestik zu erreichen. Für musiktheoretische Laien wie mich, die den Begriff Minimal Music zuletzt im Musik-Abitur gehört haben, ist es quasi unmöglich, diese Komplexität der Töne korrekt zu interpretieren. Bisweilen hätte mich deshalb ein wenig melodische Musik durchaus erfreut.
Fazit
Um an der Oper „Der goldene Drache“ Spaß zu haben, ist eine Vor- sowie Nachbereitung notwendig. Ohne diese versteht man kaum die Tragweite vermeintlich banaler Momente und einzelne Aspekte der Symbolik des Bühnenbildes. Wie auch Regisseurin Kastening bei der spärlich besuchten Nachbereitung des Stücks sagte: „Es ist nicht für jede:n etwas“. Wenn mensch sich allerdings ein wenig in die Interpretationen und die Metaebene eingräbt, dann entfaltet das Musiktheater seine ganze Bedeutung und schafft es durchaus interessante Denkanstöße zu den Schicksalen der unsichtbaren Mitglieder unserer Gesellschaft zu geben.
Eine weitere Aufführungen des Stücks „Der goldene Drache“ (inklusive einer Einführung) an der Oper Halle findet am 22.4. statt.
Text: Lena Fries
Fotos: Anna Kolata