Aufgrund mei­ner guten Erziehung ist mir bewusst, dass es sich nicht ziemt, ande­re Menschen (zufäl­lig) zu belau­schen. Doch wie jeder von uns im Laufe sei­nes Lebens her­aus­fin­det, besteht zwi­schen dem Wissen um Regeln und ihrer tat­säch­li­chen Befolgung in man­chen Situationen eine nicht zu über­brü­cken­de Diskrepanz. Ebenjene ließ mich vor nicht all­zu lan­ger Zeit mit sämt­li­chen Konventionen rück­sichts­vol­len Benehmens bre­chen – zu scha­de wäre es gewe­sen, dem Gespräch nicht zu lau­schen, Jahre der Reue und vol­ler Selbstvorwürfe hät­ten gedroht!

Ich saß also in einer Straßenbahn, wel­che die Merseburger Straße gedul­di­ger ent­lang kroch als das Kondenswasser an den Fensterscheiben, wenn ich Nudeln koche. Da begann vor mei­nen Augen und Ohren ein Gespräch zwi­schen zwei Damen im bes­ten Alter, wel­ches sich genau so und nicht anders zuge­tra­gen hat: Die brü­net­te Dame beschwer­te sich im schöns­ten hal­li­schen Dialekt über die Hitze in der Bahn. »Ach, mit mei­ne Wechseljahren, das ist so furcht­bar, nur fünf Minuten in einer Bahn las­sen dich schwit­zen wie so ne Sau!« Hierzu sei gesagt, dass es bereits Winter und die Bahn an jenem Tag tat­säch­lich sehr stark beheizt war. »Ja, das kanns­te laut saren, Meine! Im Sommer Hitze, weil se hier kei­ne Klimaanlage haben, und jet­ze im Winter dre­hen se die Heizung auf! Na kein Wunder, dass man da ins Schwitzen gommt!«, setz­te die zwei­te Dame mit blond­ge­färb­ten Haaren nach.

Illustration: Sophie Ritter

Mein Innerstes wur­de bei die­sen Worten von einer Vielzahl inten­sivs­ter Empfindungen erfasst: Mitleid mit den bei­den Damen wegen ihrer Leiden in den Wechseljahren, Verständnis für ihren Kummer über die HAVAG – und mas­si­ve Belustigung, als ich merk­te, dass ich nicht die ein­zi­ge Person war, die zuhör­te: Ein Mitarbeiter eben­je­ner Verkehrsgesellschaft schien eben­falls gesell­schaft­li­che Konventionen bezüg­lich des Belauschens von Gesprächen ver­ges­sen zu haben und an der Konversation mit säu­er­li­cher Miene Anteil zu neh­men. Es war mir, als wür­de aus sei­nen Ohren- und Nasenlöchern Dampf ent­wei­chen, viel­leicht war es aber auch nur der Dunst sei­nes Schweißes in der all­ge­mei­nen Hitze dank der auf vol­le Pulle auf­ge­dreh­ten Heizung. Seine Augen such­ten indes einen Fixpunkt in der vor­bei­zie­hen­den Stadtlandschaft, um sich von der ver­ba­len Schmach abzu­len­ken. Doch kei­ne Chance – die Scheiben waren zu stark beschla­gen. Hatten auch die Damen (»Ischen«, wie der Hallenser sagen wür­de) es bemerkt, wer da hin­ter ihnen saß? Ich glau­be nicht. Vielleicht war es ihnen aber auch ein­fach egal, denn in regem Tonfall und mit noch lau­te­ren Stimmen setz­ten die bei­den ihr Gespräch fort. »In Leipzig, sare ich dir, da ist es kühl im Sommer, nicht so ne Sauna wie hier immer, das ist ja furcht­bar! Da denks­te ja, du stirbst! Gerade die alten Leutchens, ich will mich das über­haupt jar nicht vor­stel­len! Und mit’n Kinnors, na!«, so die brü­net­te Dame. Die Antwort der Blonden ließ nicht lan­ge auf sich war­ten: »Ach, komm mich mal nicht mit Leipzig! Da fah­ren se wenigs­tens pünkt­lich, nicht so wie hier immer zwei Minuten zu früh, was soll’n das!« Mit einem resi­gnier­ten Kopfschütteln und einem empör­ten Schnauben hak­te die brü­net­te Dame das über­aus ergie­bi­ge Gesprächsthema ab und wedel­te sich hek­tisch Luft zu.

Meine Aufmerksamkeit wand­te sich erneut dem HAVAG-Menschen zu: Nun völ­lig in sich zusam­men­ge­sackt und mit gesenk­tem Kopf saß er da, ein Häufchen Elend; end­gül­tig gebro­chen von die­sem unfai­ren Vergleich mit Leipzig. So viel Kummer, solch ein Leid – und das alles nur wegen feh­len­den Klimaanlagen! Möge also die HAVAG das Problem 2019 end­lich ernst neh­men und dies das Jahr der Ventilation in den hal­li­schen Straßenbahnen wer­den. Denn es ver­spricht ein­zig und allein dann ein fro­hes Neues für Hallenser, Hallunken und Halloren zu wer­den, wenn man beim Bahnfahren nur ins Schwitzen gerät, weil gera­de Fahrkartenkontrolleure zuge­stie­gen sind und man selbst kein Ticket dabei­hat. Einen wei­sen Spruch will ich hier­zu fürs neue Jahr noch mit auf den Weg geben, frei nach dem Talmud: »Wer auch nur eine ein­zi­ge Klimaanlage instal­liert, ret­tet die gan­ze Welt.«

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