Wer das Lebensgefühl der 20er Jahre abseits von Ringvereinen und Schwarzer Reichswehr erle­ben möch­te, dem sei die Sonderausstellung »Kleinwohnung, Modehaus, Kraftzentrale« emp­foh­len, wel­che bis zum 16. Juni im Stadtmuseum zu sehen ist. Ob hun­dert­jäh­ri­ges Bauhausjubiläum oder die Serie »Babylon Berlin«, die Goldenen Zwanziger erle­ben eine (pop­kul­tu­rel­le) Renaissance.

»Die Uhr an dei­ner Wand, sie ist gefüllt mit Sand …«, tönt es mit ver­rauch­ter Stimme durch den edlen Nachtclub Moka Efti. Auf der Bühne ein andro­gy­nes Wesen am Mikrofon, im Hintergrund spär­lich geklei­de­te Tänzerinnen, deren Bananenröckchen zum Takt der Musik wip­pen. Ein Hauch von Ekstase liegt in der Luft, gleich­wohl sich die Menschen vor der Bühne syn­chron recken, zap­peln, wie­gen. Die Einstellung, in wel­cher der Serien-Charakter Swetlana Soronkina den Titelsong »Zu Asche, zu Staub« per­formt, ist eine der legen­därs­ten Szenen der Serie »Babylon Berlin«. Der Text des Liedes könn­te den Zeitgeist der 20er Jahre nicht bes­ser zusam­men­fas­sen: Alte Strukturen, ob im Leben oder Lieben, wei­chen der Modernität. Euphorie und Lebenslust auf der einen Seite, pre­kä­re Lebensverhältnisse und Zukunftsängste auf der ande­ren. Und über allem schwebt wie ein Damoklesschwert die Vergänglichkeit die­ser kur­zen Epoche, die mit der Machtübernahme Hitlers ein jähes, glanz­lo­ses Ende fand.

Schizophrenie einer Epoche

Nach dem Ende des ver­hee­ren­den Weltkriegs im Jahr 1918, auf wel­chen nur gut 20 Jahre spä­ter ein zwei­ter fol­gen soll­te, lag Deutschland in jeg­li­cher Hinsicht am Boden. Reparationszahlungen an die Siegermächte stan­den an, eine dubio­se Dolchstoßlegende ver­gif­te­te Herzen und Köpfe, und die poli­ti­schen Verhältnisse die­ser Zeit waren mehr von Wirrnis und Tumult als von Recht und Ordnung geprägt. Doch wie Asche und Staub nicht nur Spuren der Vernichtung, son­dern auch einen frucht­ba­ren Nährboden dar­stel­len kön­nen, erneu­er­te sich auch Deutschland und trat den Weg in die Moderne an: Mit der Gründung der Weimarer Republik eta­blier­te sich Deutschlands ers­te par­la­men­ta­ri­sche Demokratie, das Frauenwahlrecht blieb nicht län­ger Forderung, son­dern wur­de Realität, und gesell­schaft­li­che Konventionen, ob in der Mode oder im Liebesleben, locker­ten sich zuneh­mend. Nie zuvor konn­ten sich Frauen so frei­zü­gig klei­den und so selbst­be­stimmt am Nachtleben teil­neh­men; in den Nachtclubs eta­blier­ten sich der­weil Szenen für Transvestiten und Homosexuelle. Ringvereine dien­ten als Brutstätte orga­ni­sier­ter Kriminalität und brach­ten Pornographie sowie Drogen in Umlauf.

Besonders letzt­ge­nann­tem ist Kommissar Gereon Rath, Hauptfigur der Serie »Babylon Berlin«, nicht abge­neigt. Sein Charakter, Sittenwächter und Drogenabhängiger zugleich, könn­te die Schizophrenie die­ser Zeit kaum bes­ser ver­kör­pern. Mit ein­drucks­vol­len Bildern und span­nen­den Charakteren bie­tet die Serie, die auf dem Roman »Der nas­se Fisch« von Volker Kutscher basiert, ihren Zuschauern eine Zeitreise in die 20er Jahre. Gleichwohl wird bereits im Titel das Klischee bedient, die­se Epoche habe sich allein in Berlin abge­spielt. Dazu die Anspielung auf das sagen­um­wo­be­ne Babylon, dem einen Sündenpfuhl, dem ande­ren Wiege einer Hochkultur: nur einer der vie­len Gegensätze der Zeit.

Das Pech der Goldenen Zwanziger

Tatsächlich ist es kei­nes­wegs abwe­gig, von der Epoche wie von der mys­te­riö­sen Stadt Babylon zu spre­chen. Doch wie das his­to­ri­sche Babylon nicht aus­schließ­lich als Ort der Hurerei und Hort des Lasters zu betrach­ten ist, sind auch die 20er Jahre nicht allein auf die bis dahin nie erleb­te Freizügigkeit zu redu­zie­ren. Babylon, mit sei­nen hän­gen­den Gärten und dem gigan­ti­schen Turmbau, war zugleich eine Wiege der Wissenschaft, der Kunst und der Kultur. Im Deutschland der 20er Jahre setz­ten Architekten wie Walter Gropius neue Maßstäbe, die Kultur wur­de durch bis heu­te bekann­te Literatur, Filme und Musik berei­chert. Die Blütezeit der Wissenschaft, wel­che bereits im Kaiserreich begann, setz­te sich fort. Die letz­te, wohl größ­te Gemeinsamkeit ist das tra­gi­sche Ende des ori­gi­na­len Babylon. Historisch las­sen sich dafür zwar nur weni­ge hand­fes­te Beweise fin­den, doch zumin­dest in der Geheimen Offenbarung des Johannes ist von einer Apokalypse die Rede, die den Mythos der Stadt bis heu­te prägt. Das deut­sche Babylon indes fand sei­nen Untergang 1933 – und der Beginn des zwei­ten Weltkriegs läu­te­te eine men­schen­ge­mach­te Apokalypse ein.

Doch nicht nur Berlin, auch ande­re deut­sche Städte spür­ten den Zeitgeist der Erneuerung in Architektur und Lebensgefühl – Sündenbabel war über­all. In eini­gen Städten mag es viel­leicht maxi­mal zum Sündenpfühlchen statt zum »Chicago an der Spree« gereicht haben, wie zum Beispiel in Halle; die Modernität hielt aber gleich­wohl auch in der Saalestadt Einzug. Zu sehen ist die­se Entwicklung auf einer fast 400 Quadratmeter umfas­sen­den Ausstellungsfläche im Stadtmuseum, die den 20er Jahren in Halle eine Sonderausstellung wid­met. Hierbei geht es aller­dings nicht um die Auswüchse eines Sünden­babels an der Saalestadt; wer einen hal­li­schen Gang­ster im Format eines Johann Marlow erwar­tet, wird ent­täuscht werden.

Charleston, Glockenhut und Grammophon

Statt Schwarzer Reichswehr zeigt die Ausstellung Modelle der Tante Ju, statt Ringvereinen wer­den neu­es­te Errungenschaften im Haushalt, wie etwa der Staubsauger, the­ma­ti­siert. Den Anlass für die Ausstellung stellt das hun­dert­jäh­ri­ge Bauhaus-Jubiläum dar, um das man 2019 nicht her­um­kommt: Mit der Vereinigung der Großherzoglich-Sächsischen Hochschule für Bildende Kunst und der Kunstgewerbeschule ent­stand am 12. April 1919 in Weimar das Staatliche Bauhaus. Der Name des Direktors ist bis heu­te welt­be­kannt und gilt gleich­zei­tig als Synonym moder­ner (Bau-) Kunst: Walter Gropius. Im Jahr 1933 durch die Nationalsozialisten zur Selbstauflösung gezwun­gen, steht die Kunstschule sinn­bild­lich für die 20er Jahre. Sowohl das Bauhaus selbst als auch die Epoche, wel­che die­ses gebar, ver­kör­pern Modernität und Komfort, Effizienz und Eleganz. Zwar mögen moder­ne Hallenser und Hallunken über die ein­hun­dert Meter hohen Schornsteine des Kraftwerk Trotha oder ein Erfrischungsrestaurant im Dachgeschoss eines Kaufhauses, um nur zwei Beispiele der dama­li­gen Baukunst zu nen­nen, nur müde schmun­zeln. Für die Menschen der dama­li­gen Zeit jedoch stell­ten sol­che Bauwerke ein Versprechen auf eine bes­se­re Zukunft dar.

Sowohl für Einheimische als auch für Zugezogene ist die Zeitreise ins Halle der 20er Jahre ange­nehm kurz­wei­lig und gleich­zei­tig mit über­ra­schen­den Erkenntnissen gespickt. Die Lehmannsfelsen als rie­sig bebau­tes Freizeit-Areal wären heut­zu­ta­ge zum Beispiel nicht vor­stell­bar, in den 20er Jahren gab es hier­für aber sehr wohl Pläne. Dabei han­delt es sich nur um ein Beispiel für die über­schie­ßen­de Kreativität und Schöpfungskraft der dama­li­gen Zeit, wel­che sich in moder­nen Bauten wie zum Beispiel an der Vogelweide – übri­gens auch heu­te noch als Wohnraum genutzt – mani­fes­tier­te. Denn trotz Weltkrieg und Inflation wuchs die Bevölkerung, die wei­ter vor­an­schrei­ten­de Industrialisierung trieb die Menschen in die ste­tig im Wachstum inbe­grif­fe­nen Städte. Nicht nur die Nachfrage nach Wohnraum, son­dern auch die nach Energie und Mobilität nahm zu. Gleichzeitig wuchs das Bedürfnis der Bevölkerung nach geis­ti­ger Nahrung und Vergnügen, nach Kultur und Ausschweifung. Die Sonderausstellung beleuch­tet all die­se Aspekte – stets mit dem Fokus auf Halle und Umgebung.

Kuratorin Ute Fahrig und ihr Team haben hier­bei gro­ßen Wert dar­auf gelegt, die Zeitreise mög­lichst erleb­bar zu machen, sei es mit einer Schreibmaschine, auf wel­cher nach Herzenslust geklap­pert wer­den kann, oder mit einer Video-Anleitung für die Grundschritte des Charleston. Zwar wid­met sich die Ausstellung über­wie­gend den – auf den ers­ten Blick – pro­fan erschei­nen­den Alltagsbegebenheiten der dama­li­gen Zeit, statt ein »Babylon Halle« zur Schau zu stel­len. Spätestens mit Blick auf die deka­den­te Abendgarderobe fühlt man sich dann aber doch ein wenig wie im Moka Efti, wäh­rend der Star des Abends das Schicksal die­ser Epoche ins Mikro haucht: Zu Asche, zu Staub.

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