Warum machen wir lie­ber alles – außer das, was wir eigent­lich tun soll­ten? Dieser Artikel wirft einen Blick in die Psychologie der Prokrastination und gibt dir prak­ti­sche Tipps an die Hand, um dem ewi­gen Aufschieben ein Ende zu setzen.

Ich soll­te längst an die­sem Artikel schrei­ben. Ehrlich gesagt hat­te ich sogar einen Plan: Früh anfan­gen, struk­tu­riert arbei­ten, recht­zei­tig abge­ben. Doch statt­des­sen habe ich mein Bücherregal nach Farben sor­tiert, zehn Folgen mei­ner Lieblingsserie geschaut und mir ernst­haft Gedanken dar­über gemacht, ob Pflanzen in mei­nem Zimmer glück­li­cher wären, wenn ich ihnen klas­si­sche Musik vor­spie­le. Kurz gesagt: Ich habe pro­kras­ti­niert – und genau dar­um geht es hier. Warum sind wir so gut dar­in, uns selbst aus­zu­trick­sen? Was pas­siert dabei in unse­rem Gehirn? Und gibt es einen Weg, die­sen Teufelskreis zu durch­bre­chen? Willkommen zu einem tie­fen (und leicht selbst­iro­ni­schen) Tauchgang in die Welt der Prokrastination.

Was ist Prokrastination – und warum tun wir das?

Aus psy­cho­lo­gi­scher Sicht ist Prokrastination kein Zeitmanagement-Problem, son­dern ein Problem der Emotionsregulation. Stell dir vor, du müss­test eine kom­pli­zier­te Hausarbeit schrei­ben oder dei­ne Steuererklärung aus­fül­len – schon beim Gedanken dar­an spürst du eine Welle von Stress, Angst oder purem Desinteresse. Und genau hier greift dein Gehirn zu einem alt­be­währ­ten Trick: Es lenkt dich mit etwas Angenehmerem ab. Warum sich mit ner­vi­gen Pflichten her­um­schla­gen, wenn du statt­des­sen TikTok-Videos anschau­en oder plötz­lich das drin­gen­de Bedürfnis ver­spü­ren kannst, dei­nen Kleiderschrank aus­zu­mis­ten? Diese kurz­fris­ti­ge Erleichterung fühlt sich gut an – zumin­dest für den Moment. Die Aufgabe ver­schwin­det dadurch zwar nicht, aber dein Gehirn fei­ert eine klei­ne Party, weil es unan­ge­neh­men Gefühlen erfolg­reich aus­ge­wi­chen ist.

Der Psychologe Timothy Pychyl erklärt das Phänomen als einen epi­schen Kampf zwi­schen zwei Versionen dei­ner selbst: dem “gegen­wär­ti­gen Ich” und dem “zukünf­ti­gen Ich”. Dein gegen­wär­ti­ges Ich ist ein ech­ter Hedonist. Es will Spaß haben, Entspannung genie­ßen und sich auf kei­nen Fall mit lang­wei­li­gen oder stres­si­gen Dingen beschäf­ti­gen. Dein zukünf­ti­ges Ich hin­ge­gen ist der ver­ant­wor­tungs­be­wuss­te Erwachsene, der die Konsequenzen aus­ba­den muss, wenn die Frist näher rückt und die Panik ein­setzt. Das gegen­wär­ti­ge Ich ist lei­der viel lau­ter und über­zeu­gen­der – beson­ders, wenn Netflix nur einen Klick ent­fernt ist oder die Wohnung drin­gend eine Frühlingsputz-Aktion ver­langt. Da hat das zukünf­ti­ge Ich ein­fach kei­ne Chance.

Interessanterweise sind gera­de Menschen, die hohe Ansprüche an sich selbst stel­len, beson­ders anfäl­lig für Prokrastination. Perfektionismus kann eine enor­me Hürde dar­stel­len: Die Angst, eine Aufgabe nicht per­fekt zu erle­di­gen, lässt vie­le lie­ber gar nicht erst anfan­gen. Warum sich dem Risiko aus­set­zen, zu schei­tern, wenn man die Aufgabe ein­fach auf spä­ter ver­schie­ben kann? Dieses Vermeidungsverhalten ist kurz­fris­tig eine Erleichterung, lang­fris­tig jedoch eine selbst­ver­stär­ken­de Falle, aus der es schwer ist, (wie­der) auszubrechen.

Auch unser Belohnungssystem im Gehirn spielt eine ent­schei­den­de Rolle. Sofortige Belohnungen – wie ein schnel­ler Dopaminschub durch sozia­le Medien oder einen Serienmarathon – wir­ken viel attrak­ti­ver als der lang­fris­ti­ge Nutzen, eine Aufgabe abzu­schlie­ßen. Das Gehirn bevor­zugt das schnel­le Glücksgefühl gegen­über abs­trak­ten, zukünf­ti­gen Vorteilen. Dieser bio­lo­gi­sche Mechanismus stammt aus einer Zeit, in der es über­le­bens­wich­tig war, kurz­fris­ti­ge Ressourcen zu sichern – nicht gera­de hilf­reich, wenn man ver­sucht, eine Hausarbeit zu beenden.

Kurz gesagt: Wir pro­kras­ti­nie­ren nicht, weil wir faul sind, son­dern weil unser Gehirn auf kurz­fris­ti­ge Belohnungen pro­gram­miert ist und unan­ge­neh­me Emotionen ver­mei­den will. Und mal ehr­lich: Wer wür­de sich frei­wil­lig für Steuerformulare ent­schei­den, wenn er statt­des­sen Katzenvideos schau­en kann?

Der Kampf im Kopf: Was beim Prokrastinieren wirklich passiert

Neurobiologisch lässt sich Prokrastination durch den Konflikt zwi­schen dem lim­bi­schen System und dem prä­fron­ta­len Kortex erklä­ren. Das lim­bi­sche System ist für unse­re Emotionen und unmit­tel­ba­ren Bedürfnisse zustän­dig – es schreit: “Sofortige Belohnung, bit­te!” Der prä­fron­ta­le Kortex hin­ge­gen steu­ert ratio­na­le Entscheidungen und lang­fris­ti­ge Planung – er flüs­tert: “Du soll­test die­se Hausarbeit fer­tig schreiben.”

Wenn eine Aufgabe unan­ge­nehm wirkt, über­nimmt das impul­si­ve lim­bi­sche System die Kontrolle. Das führt dazu, dass wir uns lie­ber mit etwas Angenehmem ablen­ken. Noch per­fi­der ist, dass unser Gehirn dabei ein aus­ge­zeich­ne­ter Selbstbetrüger ist. Es lie­fert uns auf Knopfdruck groß­ar­ti­ge Ausreden:

„Ich arbei­te unter Druck ein­fach viel bes­ser!“
(Nein, eigent­lich bist du dann nur panisch und pro­du­zierst drei mal so vie­le Tippfehler.)

„Ein biss­chen Pause bringt mei­ne Kreativität in Schwung!“
(Falls mit „Pause“ ein drei­stün­di­ger TikTok-Marathon gemeint ist – eher nicht.)

„Ich kann das spä­ter immer noch per­fekt machen!“
(Oder eben in letz­ter Sekunde irgend­wie zusammenflicken.)

Das Dumme an der Sache: Wissenschaftliche Studien zei­gen, dass wir unter Stress meist inef­fi­zi­en­ter arbei­ten. Der ver­meint­li­che Adrenalinschub kurz vor der Deadline sorgt zwar für eine Art „Überlebensmodus“, aber nicht unbe­dingt für beson­ders durch­dach­te oder krea­ti­ve Ergebnisse.

Die fünf häufigsten Gründe, warum wir aufschieben

Konflikt im Gehirn
  1. Angst vor Versagen: Lieber nicht anfan­gen, als am Ende schlecht bewer­tet zu wer­den. Perfektionismus und Prokrastination gehen oft Hand in Hand.
  2. Zeitillusion: “Ich habe ja noch genug Zeit!” Das Gefühl, dass Deadlines weit ent­fernt sind, führt dazu, dass wir die Dringlichkeit unterschätzen.
  3. Fehlende Struktur: Ohne kla­re Arbeitszeiten oder einen fes­ten Plan las­sen wir uns leich­ter ablen­ken – schließ­lich gibt es kei­nen Chef, der uns kontrolliert.
  4. Belohnungsaufschub ver­mei­den: Unser Gehirn liebt sofor­ti­ge Belohnung – und eine Runde Social Media ist ein­fach reiz­vol­ler als das Schreiben einer Seminararbeit.
  5. Überforderung: Große Aufgaben wir­ken wie unüber­wind­ba­re Berge – also schie­ben wir sie vor uns her, statt klei­ne Schritte zu gehen.

Warum wir im Studium besonders anfällig für Prokrastination sind

Studierende gel­ten oft als die Könige und Königinnen der Prokrastination – und das aus gutem Grund. Das Studium schafft eine idea­le Umgebung, um Aufgaben aufzuschieben.

Ein zen­tra­ler Faktor ist die Zeitillusion. Viele Aufgaben haben weit ent­fern­te Deadlines, was den Eindruck ver­mit­telt, es sei noch aus­rei­chend Zeit. Diese Fehleinschätzung führt dazu, dass das Lernen oder die Bearbeitung von Aufgaben immer wie­der ver­scho­ben wird. 

Hinzu kommt die feh­len­de Struktur. Im Studium gibt es kaum direk­te Kontrolle, und die Freiheit der Zeiteinteilung macht es beson­ders leicht, sich ablen­ken zu las­sen. Ohne fes­te Vorgaben oder unmit­tel­ba­re Konsequenzen fällt es vie­len schwer, dis­zi­pli­niert zu bleiben.

Auch die Überforderung spielt eine Rolle. Während der Studienzeit pras­seln Aufgaben auf einen ein, die kom­ple­xer sind als alles, was man aus der Schule kennt. Und wenn eine Aufgabe so groß wirkt wie der Mount Everest, erscheint Aufschieben plötz­lich als die ver­nünf­ti­ge­re Option – schließ­lich wür­de man auch kei­nen Gipfel erklim­men, ohne sich vorzubereiten.

Auch Perfektionismus spielt eine wich­ti­ge Rolle. Der stän­di­ge Druck, gute Leistungen zu erbrin­gen, führt bei vie­len zur Überzeugung, dass alles per­fekt sein muss. Dieser Gedanke ver­wan­delt sich schnell in eine Blockade: „Wenn ich es nicht per­fekt machen kann, fan­ge ich lie­ber gar nicht erst an.“ Während man dar­auf war­tet, die per­fek­te Idee zu ent­wi­ckeln, ver­geht wert­vol­le Zeit – und nichts pas­siert. Diese Angst vor dem Versagen ver­stärkt die Tendenz, Aufgaben aufzuschieben.

Und dann wäre da noch das Problem des Belohnungsaufschubs. Spitzenleistungen im Studium for­dern Zeit, Geduld und Nerven – und die Belohnung? Kommt oft erst Monate spä­ter in Form von Noten. Da erscheint eine sofor­ti­ge Belohnung wie eine Netflix-Folge wesent­lich attraktiver.

Zusammengefasst ver­eint das Studium vie­le der häu­figs­ten Gründe für Prokrastination.

Strategien gegen Prokrastination – aus erster Hand erprobt

Nach unzäh­li­gen Stunden des Aufschiebens habe ich eini­ge Tricks ent­deckt, die tat­säch­lich hel­fen. Hier sind mei­ne bewähr­ten Methoden:

  1. Die Fünf-Minuten-Regel: Der schwers­te Teil ist oft der Anfang. Versprich dir, nur fünf Minuten an einer Aufgabe zu arbei­ten – meist bleibst du dann län­ger dran. Diese Methode umgeht die Angst vor der gro­ßen Aufgabe, indem sie den Einstieg erleich­tert. Sobald du beginnst, fällt es dem Gehirn schwe­rer, wie­der auf­zu­hö­ren – ein psy­cho­lo­gi­sches Phänomen namens „Zeigarnik-Effekt“.
  2. Die Pomodoro-Technik: Arbeit in 25-Minuten-Intervallen mit kur­zen Pausen. Diese Struktur hält die Konzentration hoch und ver­hin­dert das Gefühl, end­los arbei­ten zu müs­sen. Besonders hilf­reich ist es, nach vier Pomodori eine län­ge­re Pause ein­zu­le­gen. So trickst du dein Gehirn aus und erhöhst gleich­zei­tig dei­ne Produktivität.
  3. To-Do-Listen (aber rich­tig): Gliedere gro­ße Aufgaben in klei­ne, kon­kre­te Schritte. “Hausarbeit schrei­ben” ist über­wäl­ti­gend – “Einleitung ent­wer­fen” ist mach­bar. Formuliere dabei mög­lichst spe­zi­fisch: Je kla­rer der nächs­te Schritt, des­to gerin­ger die Hürde.
  4. Verbindlichkeit schaf­fen: Erzähle jeman­dem von dei­nen Zielen oder arbei­te in einer Lerngruppe. Soziale Kontrolle erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass du dei­ne Aufgaben erle­digst. Es hilft auch, Deadlines öffent­lich zu machen oder mit ande­ren um die Wette zu arbeiten.
  5. Selbstbelohnung: Setze dir klei­ne Belohnungen für abge­schlos­se­ne Etappen. Fertige Einleitung? Zeit für eine Folge dei­ner Lieblingsserie! Positive Verstärkung stärkt die Motivation lang­fris­tig – und macht das Erreichen von Zielen angenehmer.

Kann Prokrastination produktiv sein?

Es gibt tat­säch­lich Momente, in denen Prokrastination nicht nur destruk­tiv ist, son­dern auch zu posi­ti­ven Ergebnissen füh­ren kann. Wenn du eine schwie­ri­ge Aufgabe lan­ge vor dir her­schiebst, kann es sein, dass dein Unterbewusstsein wäh­rend­des­sen Lösungen ent­wi­ckelt. Oder du nutzt die Zeit, um ande­re Dinge zu erle­di­gen, die du auch immer wie­der auf­schiebst: den Schrank auf­räu­men, eine E‑Mail schrei­ben oder end­lich mal wie­der Sport machen. Diese Art der “pro­duk­ti­ven Prokrastination” löst zwar nicht die Hauptaufgabe, kann aber trotz­dem ein befrie­di­gen­des Gefühl hinterlassen.

Prokrastination ist menschlich – und okay (in Maßen)

Letztlich ist es völ­lig nor­mal, gele­gent­lich zu pro­kras­ti­nie­ren. Unser Gehirn ist nun ein­mal dar­auf pro­gram­miert, kurz­fris­ti­ge Belohnungen zu bevor­zu­gen. Wichtig ist jedoch, dass wir ler­nen, bewusst mit die­ser Tendenz umzugehen.

Also, wenn du das nächs­te Mal eine Aufgabe vor dir her­schiebst, erin­ne­re dich dar­an: Auch die­ser Artikel wäre fast zu spät gekom­men – aber irgend­wann muss man eben anfan­gen. Und viel­leicht ist jetzt der rich­ti­ge Moment dafür.

Text: Sophia Müller

0 0 vote
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments