Warum wir die Retromanie unserer Eltern und Großeltern nicht zu ernst nehmen sollten und wie die Vergangenheit uns dabei helfen kann, mit gesellschaftlichem Wandel umzugehen.
Verklärte Geschichten aus vermeintlich besseren Tagen haben wir wohl alle schon einmal, spätestens an der familiären Kaffeetafel, zu Ohren bekommen – und vielleicht auch hin und wieder selbst mit ähnlichen Gedanken sympathisiert. Aber was ist dieses Früher, von dem alle Boomer immer sprechen? Reden wir über eine Zeit vor 50 oder 100 Jahren oder reicht diese Annahme sogar noch weiter zurück? Wirklich datiert wird diese leere Zeitangabe nie. Aber das ist auch gar nicht nötig. Denn Fakt ist, dass sich dieser berühmt-berüchtigte Ausruf wohl eher als Symptom eines allgemeineren Phänomens beschreiben lässt.
Die Welt ging schon immer zugrunde
Tatsächlich ist die Angst um den vermeintlichen Sitten- oder Werteverfall ein Konzept, das nicht erst seit Kurzem in den Köpfen der Menschen Platz findet. Im Rahmen einer Diskussion der Ludwig-Maximilians-Universität München erklärt der Sozialethiker Prof. Dr. Markus Vogt, dass die negative Wahrnehmung von Wertedebatten bereits in der Antike thematisiert wird. Dass sich die Sehnsucht nach den ‚alten‘ moralischen Grundsätzen also durch die gesamte Menschheitsgeschichte zu ziehen scheint, hängt laut Vogt vor allem damit zusammen, dass sich das gesellschaftliche Wertesystem notwendigerweise stetig entwickelt. Und das ist auch gut so. Oft wird dieser Entwicklung jedoch mit einer gewissen Überforderung begegnet. Und das eben vor allem seitens der älteren Generationen. Das Gewohnte – das ‚Altbewährte‘ – und damit teilweise auch die innersten Glaubenssätze infrage zu stellen, ist mit einer mentalen Anstrengung verbunden, die viele Menschen nicht bereit sind zu leisten. Viel einfacher ist es dann der eigenen Retromanie zu verfallen und so aus der sich verändernden Lebensrealität zu flüchten. Die Frage ist nun, ob die Angst der älteren Generationen berechtigt ist und was denn nun an dieser Aussage dran ist; war nun früher wirklich alles besser? Die Antwort: Natürlich nicht.
Es ist nicht alles schlecht
Was gestern die Norm war, wird heute meist schon in einem anderen Licht gesehen. Wenn auch nicht in jedem Fall, lässt sich diese Tatsache doch oft als gesellschaftlicher Fortschritt deuten. Nicht nur werden alte moralische Vorstellungen zu Recht hinterfragt und immer wieder evaluiert, auch viele ‚Tabuthemen‘ der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte finden immer mehr berechtigte Aufmerksamkeit. Das Thema rund um den Umgang mit unserer mentalen Gesundheit stellt hier ein gutes Beispiel dar, denn wo vor knapp hundert Jahren noch die Rede von “Rassenhygiene” an psychiatrischen Einrichtungen war, wird heute im Vergleich viel offener und konstruktiver über die vielfältigen Themen rund um psychische Erkrankungen gesprochen. Die stetig wachsende Relevanz sozialer Medien und des globalen Austausches kann (!) das Schaffen eines kollektiven gesellschaftlichen Bewusstseins und eines Diskurses um derartige Themen hinzukommend ungemein unterstützen.
Mit 200km/h in Richtung Fortschritt
Der Wandel der Moderne kann in anderen Aspekten auch ganz schön schwindelerregend sein, denn obwohl besagte Werteentwicklung normal ist und schon immer stattgefunden hat, betont Markus Vogt den Einfluss des besonders rasanten technischen und ökonomischen Fortschritts. Dieser stelle einen extremen Einschnitt in unsere aktuelle Lebensrealität dar und bringe laut Vogt eine gewisse Freiheit mit sich, die auf moralischer Ebene viel Verantwortung abverlange. Im Rahmen der Globalisierung und der modernen Kommunikation des 21. Jahrhunderts werden wir mit immer mehr gesamtgesellschaftlichen Themen konfrontiert und müssen zunehmend persönliche Stellung zu diesen Themen beziehen. Vor gesellschaftlich-moralischen Entscheidungen stehen wir meist schon beim Wocheneinkauf, bei dem wir für die Wahl der Produkte oft zwischen nachhaltig, gesund und günstig jonglieren müssen.
Zweifellos ist das Schaffen einer ‚Awareness‘ über gesellschaftlich relevante Themen aller Art wichtig und richtig. Zugegebenermaßen kann das ständige Tragen dieser Eigenverantwortung und der Druck, mit allen Debatten mitzuhalten, aber auch sehr anstrengend sein. Hinzu kommt die immer wachsende Bedeutung von Social Media und Co., der sich viele unhinterfragt anpassen, die unsere Art der Kommunikation jedoch völlig auf den Kopf stellt und sozialen Druck gedeihen lässt wie noch nie. Und das, obwohl ein großer Teil des Lebens vieler Menschen mittlerweile überwiegend online, also virtuell stattfindet. Zwischen der Pflege des Instagram-Profils, dem Zirkeltraining innerhalb des Bildschirmdschungels und dem empfundenen Zwang zur Selbstoptimierung (persönlich, physisch, beruflich und mental!) bleibt kaum Zeit und Raum um sich mal wirklich bewusst auf sich selbst und seine Umwelt zu besinnen. Und da kommt dieses Früher doch ab und zu ganz gelegen.
Die Balance zwischen Progression und Regression
Was so eine Rückschau auf vergangene Tage auch mit sich bringen kann, ist Entschleunigung, die uns oft in unserem gegenwärtigen Lebensalltag fehlt. Denn den traditionellen sonntäglichen Kaffeekranz wieder einzuführen, zum nächsten Ausflug mit der analogen statt der iPhone-Kamera aufzubrechen oder sich mal wieder ganz bewusst auf einen Film auf der Kinoleinwand zu konzentrieren, tut mit Sicherheit mehr für Körper und Geist als drei Stunden Dauerbeschallung auf TikTok kurz vor dem Schlafengehen. Die Rückbesinnung auf Praktiken und Traditionen aus vergangenen Zeiten kann es uns also ermöglichen, der omnipräsenten technischen Evolution, sozialem, beruflichem und gesellschaftlichem Druck und der generellen Sorge um die Zukunft ab und an bewusst zu entfliehen und den rasanten Entwicklungen unserer Zeit mental entgegenzusteuern.
Wenn wir nun zusammenfassend bei einer ähnlichen Formulierung bleiben wollen, lässt sich durchaus festhalten, dass früher alles anders war. Unsere Gesellschaft allgemein, die Art wie wir leben und wie wir miteinander kommunizieren, befinden sich ständig im Wandel. In vielen Aspekten hat das auch sein Gutes. Es soll dabei jedoch erlaubt sein, sich dem Trubel dieses Wandels und der Moderne ab und an zu entziehen, den Flugmodus einzuschalten und sich von den großen Verantwortungen des ‘modernen Menschen’ zu distanzieren. Was wir gleichermaßen in unserer Rolle als Individuen und als Teil einer Gesellschaft allerdings immer tun sollten ist, stets offen und objektiv über unsere Gegenwart und Vergangenheit zu reflektieren – zu überlegen, welche Traditionen es wert sind zu wahren und aus welchen Erfahrungen wir lernen können und sollten.
Text und Bild von Ria Michel