261 Studiengänge an 10 Fakultäten bie­tet die MLU; eine bei­na­he unüber­sicht­li­che Anzahl. In unse­rer Rubrik »Studiengeflüster« stel­len unse­re Autoren kurz und knapp inter­es­san­te Aspekte ihres eige­nen Studiums vor. Teil 14: Aus dem Hörsaal in das Wohnzimmer der Queen. 

Jedes Semester das Gleiche: Texte über Texte, die gele­sen wer­den wol­len, zahl­rei­che Bücher, die dar­auf war­ten, gewälzt zu wer­den, und jede Menge tro­cke­ne Theorie. Im ver­gan­ge­nen Sommersemester jedoch bot das Institut für Anglistik/Amerikanistik unter der Leitung von Dr. Julia Nitz 15 Interessierten die Möglichkeit, aus dem Unialltag aus­zu­bre­chen und im Rahmen eines kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Aufbaumoduls eine Exkursion nach London zu machen. Nicht nur für uns deut­sche Studierende, son­dern auch für das bri­ti­sche Volk selbst ist die Monarchie nicht weg­zu­den­ken, denn die Tradition der bri­ti­schen Krone reicht über drei Jahrhunderte zurück und ist des­halb fes­ter Bestandteil der Identität. Unter dem Motto »The British Monarchy and Spaces of Cultural Identity Formation« unter­such­ten wir die Identität anhand der roya­len Domizile und deren Ausstellungen. Neben Besuchen in Hampton Court, Windsor Castle, Kew Palace und Kensington Palace blieb auch etwas Freizeit, um London auf eige­ne Faust zu ent­de­cken und das eine oder ande­re Abenteuer zu erle­ben. Ausgangspunkt unse­rer Forschung bil­de­ten erzähl-bezie­hungs­wei­se kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­re­ti­sche Ansätze, die davon aus­ge­hen, dass Museen nicht etwa schlich­te Fakten prä­sen­tie­ren, son­dern eine Art »Geschichte« erzäh­len, die von den Besuchern indi­vi­du­ell »gele­sen« wird.

Foto: Christoph Richter

Die Entstehung eines so genann­ten Narrativs wird dabei durch eine Vielzahl von Aspekten beein­flusst, bei­spiels­wei­se durch die Anordnung der Ausstellungsstücke, die Farbschemen der Räume, die Beleuchtung oder auch die Wahl der Medien. Um nach­voll­zie­hen zu kön­nen, wie die Ausstellungen Narrative ent­wi­ckeln, haben wir im Vorfeld Expertengruppen für die ein­zel­nen Schlösser gebil­det und begon­nen zu recher­chie­ren. Im nächs­ten Schritt war unse­re Aufgabe, inner­halb der Gruppen eine kon­kre­te Forschungsfrage auf­zu­stel­len und dar­an ange­pass­te Fragebögen zu ent­wi­ckeln. Als wich­tigs­tes Instrument unse­rer Forschung soll­ten die­se für das Erfassen der Daten vor Ort sowie für die abschlie­ßen­de Auswertung ver­wen­det wer­den. Mit je einem Frage­bogen für Hampton Court, Windsor Castle und Kensington Palace in der Tasche waren wir bereit, die Studienfahrt anzutreten.

»Your ticket to the past«

Das ers­te Abenteuer war­te­te schon auf uns, als nie­mand damit rech­ne­te. Angekommen am ver­ab­re­de­ten Treffpunkt am Berliner Flughafen Schönefeld scherz­ten wir noch über die Vielzahl der Londoner Flughäfen, immer­hin fünf Stück, und wie ungüns­tig es wäre, zum Rückflug nach Deutschland am fal­schen auf die Heimreise zu war­ten, als plötz­lich jemand auf das Ticket für den Hinflug sah und krei­de­bleich wur­de: Wir waren bereits jetzt am fal­schen Flughafen! Freundlicherweise hat­te die Fluggesellschaft am Abend zuvor nicht nur die Startzeit, son­dern auch den Flughafen selbst geän­dert – ohne expli­zit dar­über zu infor­mie­ren. Nun hat­ten wir nur noch andert­halb Stunden, um von Schönefeld nach Tegel zu kom­men, was zwar gut mach­bar klingt, aber in Anbetracht der Größe unse­rer Hauptstadt und ihrem Verkehrsaufkommen kei­ne Zeit zum Bummeln ließ …

Gerade noch recht­zei­tig erreich­ten wir Tegel und beka­men unse­ren heiß ersehn­ten Flug in die wohl royals­te Stadt Europas. Und wer hät­te es gedacht? London begrüß­te uns andert­halb Stunden spä­ter mit strah­len­dem Sonnenschein und kaum einer Wolke am Himmel – von wegen Regenschirme und mie­se­pe­tri­ges eng­li­sches Wetter. So konn­ten wir am Nachmittag unse­re ers­te Erkundung der Nachbarschaft unse­res Hostels im Stadtteil Whitechapel mit einem Picknick und herr­li­chem Blick auf die Themse und den Tower of London beenden.

Foto: Christoph Richter

Am nächs­ten Tag ver­sprach die Aufschrift »Your ticket to the past« der Eintrittskarten unse­res ers­ten Ziels einen span­nen­den Tag. Und tat­säch­lich ließ Hampton Court, die ehe­ma­li­ge Residenz des berüch­tig­ten Königs Henry VIII, die Besucher gänz­lich in das 16. Jahrhundert ein­tau­chen. Hufgeklapper und Wiehern, Mägde und Wachen, alte Staatsgemächer und ori­gi­nal­ge­treu ein­ge­rich­te­te Küchen erweck­ten das Schloss zum Leben und mach­ten Geschichte – im wahrs­ten Sinn des Wortes – zum Greifen nah. Die Kuratoren des Schlosses setz­ten voll und ganz auf Interaktivität. Wir führ­ten also Interviews mit den Schauspielern, die ihrer Rolle ent­spre­chend Geschichten über den König erzähl­ten, und stu­dier­ten Texttafeln, Zitate sowie his­to­ri­sche Gemälde über das Leben des »Young Henry«. Die Sammlung beschäf­tig­te sich vor­ran­gig mit dem Verhältnis zwi­schen ihm und sei­ner ers­ten Frau Katherine sowie sei­nem Berater Thomas Walsey. Die sich ver­än­dern­den Beziehungen wur­den mit Hilfe von drei Stühlen sym­bo­li­siert, die in den Räumen unter­schied­lich zuein­an­der posi­tio­niert waren. Mal stan­den sie sich gegen­über, mal neben­ein­an­der oder in ver­schie­de­ne Richtungen aus­ge­rich­tet. Eine ein­zig­ar­ti­ge Visualisierung ver­gan­ge­ner Zeiten, die uns beson­ders im Gedächtnis blieb.

Bei der Queen zuhause

An Tag zwei – wir konn­ten es kaum glau­ben – weh­te über dem »Round Tower« des Windsor Castle nicht der übli­che Union Jack, son­dern die könig­li­che Wappenstandarte. Die Queen war also anwe­send. Wir befan­den uns in einem Schloss, das noch heu­te von Teilen der Königsfamilie als Wohnsitz genutzt wird – von kei­ner Geringeren als Königin Elisabeth II höchst­per­sön­lich – und so mach­te sich ein wenig Aufregung in der Gruppe breit. Noch beein­druck­ter waren wir von den prunk­voll mit Kronleuchtern, rie­si­gen Gemälden, ver­gol­de­ten Sitzmöbeln sowie roya­len Wappen deko­rier­ten »State Apartments«. Einziger Wermutstropfen waren die lan­gen Schlangen mit Touristen und die strik­ten Mitarbeiter, die dafür sorg­ten, dass man auf der vor­ge­ge­be­nen Route blieb und nicht all­zu sehr trö­del­te. Dies erschwer­te unse­re Arbeit, für die wir her­ge­kom­men waren, immens. Wir benö­tig­ten mehr Zeit, als uns zur Verfügung stand, sodass Aufgabenteilung die ein­zi­ge Möglichkeit war, alle gefor­der­ten Angaben zum Schloss zu ver­mer­ken. Auch wenn sich der Tag als ziem­lich anstren­gend erwies, blieb etwas Zeit, um die St. George’s Chapel zu besu­chen, in der sich die Ruhestätten zahl­rei­cher Könige befin­den und die zuletzt Schlagzeilen als Hochzeitslocation von Prinz Harry und Meghan Markle machte.

Foto: Anja Thomas

Glücklicherweise stand am nächs­ten Tag ein biss­chen Ruhezeit auf dem Programm, und die wuss­ten wir gut zu nut­zen. Der beschau­li­che Kew Palace inmit­ten einer gepfleg­ten und wun­der­schö­nen Parkanlage namens Kew Gardens bot das per­fek­te Kontrastprogramm. Wenige Touristen, klei­ne fami­liä­re Räume und das schlich­te Sammeln von Eindrücken, ohne beson­de­re Aufgaben zu bear­bei­ten, waren eine will­kom­me­ne Abwechslung nach den vie­len Impressionen der ers­ten Tage. Das Anwesen dien­te nie als offi­zi­el­ler Wohnsitz eines Monarchen, son­dern wur­de seit dem 18. Jahrhundert von der könig­li­chen Familie unter ande­rem als Wochenendhaus genutzt und ist des­halb auch der kleins­te roya­le Palast. Ein gemein­sa­mes Zwischenfazit der Exkursion run­de­te den offi­zi­el­len Teil des Tages ab und läu­te­te den (ein­zi­gen) frei­en Nachmittag ein. Das herr­li­che Wetter lud dabei zum Verweilen in der traum­haf­ten Umgebung ein.

Ein Besuch in London ist qua­si undenk­bar, ohne wenigs­tens ein­mal mit Shakespeares Person oder sei­nen Werken kon­fron­tiert zu wer­den. Unter der Devise »Ganz oder gar nicht« tra­fen wir am Abend wie­der auf­ein­an­der und besuch­ten gemein­sam das nur weni­ge hun­dert Meter vom Originalstandort ent­fernt rekon­stru­ier­te »Globe Theatre«. William Shakespeares und John Fletchers Stück »Die bei­den edlen Vettern« erwies sich als wei­te­res Highlight und mach­te auch die Literaturwissenschaftler unter uns glücklich.

»Victoria Revealed«

Der Trend, die pri­va­te Seite der Monarchen zu beleuch­ten, setz­te sich am letz­ten Tag in Kensington Palace fort. Nachdem wir vor­mit­tags eine Führung hin­ter die Kulissen der inter­na­tio­nal bedeu­ten­den British Library beka­men, kon­zen­trier­ten wir uns hier auf die am zweit­längs­ten regie­ren­de Königin (Queen Elizabeth II über­trumpf­te den Rekord 2015). Victoria I, die einem gan­zen Zeitalter ihren Namen ver­lieh, war einst Bewohnerin des Palasts, bis sie 1837 mit nur 18 Jahren zur Königin gekrönt wur­de und in den Buckingham Palace zog. Die Kuratoren wer­ben online damit, dass die Besucher der Ausstellung »Victoria Revealed« eine Reihe von über­ra­schen­den Aspekten ihres Lebens zu sehen bekä­men, näm­lich Victoria als »devo­ted wife, dedi­ca­ted mother, lover of the arts, devas­ta­ted widow and power­ful sta­tes­wo­man«. Davon inspi­riert ent­schie­den wir uns für die über­ge­ord­ne­te Forschungsfrage: »Welche Geschlechterrollen wer­den an Hand von Victoria und ihrem Mann, Prinz Albert, dar­ge­stellt?« Um mög­lichst vie­le Informationen sam­meln zu kön­nen, stell­ten wir vier Kategorien für die Datensammlung auf.

Als wir in London das Schloss ver­lie­ßen und eini­ge Gedanken aus­tausch­ten, waren wir uns alle einig: Der Fokus der Ausstellung lag auf Victoria als Privatperson – Ehefrau und Mutter – sowie der gro­ßen Liebe der bei­den Eheleute. Überraschenderweise aber kamen wir spä­ter, nach der Reise, bei der Auswertung der Fragebögen auf ein ganz ande­res Fazit: Die Monarchin und ihr Mann, der die männ­li­chen Rollenbilder ver­tritt, wur­den glei­cher­ma­ßen in privaten/häuslichen und öffent­li­chen Rollen beschrie­ben. Die Zuordnung der Objekte sowie Zitate zu den bei­den Sphären öffent­lich ver­sus pri­vat und deren Auszählung spra­chen eine ein­deu­ti­ge Sprache. Als Ergebnis für unse­re Forschungsarbeit war die­se Erkenntnis aus­rei­chend, schließ­lich konn­ten wir nur drei Stunden in Kensington Palace ver­brin­gen. Interessant wäre es aber den­noch, wei­te­re Untersuchungen anzu­stel­len, wel­che Ursachen die mas­si­ve Diskrepanz zwi­schen dem per­sön­li­chen Eindruck und den Fakten hat. Aber dies ahn­ten wir wäh­rend der Zeit in London natür­lich noch nicht …

»Exploring history where it happens«

Der Ausklang unse­res Trips erfolg­te stan­des­ge­mäß mit einer klei­nen Pub-Tour vom »Black Horse« zum »Brown Bear«, wo wir von Ale über Cider bis Guinness alle Spezialitäten, die tra­di­tio­nell auf der Insel getrun­ken wer­den, pro­bier­ten. Zeit, um alles Revue pas­sie­ren zu las­sen: Wir haben zwar kei­nen Royal per­sön­lich getrof­fen, aber den­noch Einblicke bis in die pri­va­tes­ten Winkel bri­ti­scher Monarchen bekom­men. Die zum Teil roman­ti­sie­ren­den Darstellungen mach­ten deut­lich, welch eine zen­tra­le Rolle die Monarchie nicht nur in der Vergangenheit des Königreichs gespielt hat, son­dern auch wie groß die Faszination und das Interesse noch heu­te sind.

Auf alle Fälle beleb­ten die Eindrücke das sonst theo­rie­las­ti­ge Studium und för­der­ten neue Kompetenzen, unter ande­rem das eigen­stän­di­ge Denken und Arbeiten in nahe­zu uner­forsch­ten Bereichen. Die Exkursion war die ers­te ihrer Art am Institut für Anglistik/Amerikanistik, sodass wir die Freiheit genos­sen, vie­le Ideen und Kreativität ein­zu­brin­gen und die Forschung inner­halb der Expertengruppen indi­vi­du­ell nach unse­ren Vorstellungen aus­zu­rich­ten. Unser Fazit: Eine Form des Lernens, die mehr Studierenden ermög­licht wer­den sollte.

  • Die detail­lier­ten Auswertungen der Forschungsreise kön­nen in visuali­sierter Form als Plakate im Institut für Anglistik/Amerikanistik, Adam-Kuckhoff-Str. 35, besich­tigt wer­den. Es ist ange­dacht, eine Exkursion in die­ser Form im Sommersemester 2019 zu wiederholen.
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