Sonnenschein bei durch­schnitt­lich 26 °C, das Ionische Meer nur drei Gehminuten ent­fernt, fast jeden Abend ein Feuerwerk am Strand. Wie könn­te man die­se Szenerien bes­ser nut­zen, als mit 28 ande­ren Nerds aus ganz Europa Rollenspiele zu spielen?

Pen-and-Paper-Rollenspiele und ‑Nerdkultur sind längst kein Randphänomen mehr und so gibt es über­all Communities, die sich die­sem Hobby und dem Gemeinschaftsgefühl, das es mit sich bringt, wid­men. Eine sol­che ist auch Dragon Legion, eine in Deutschland gegrün­de­te Non-Profit-Organisation. „Seinen Anfang hat­te das Ganze als eine Gruppe von Freunden, die es cool fan­den, zusam­men Rollenspiele zu orga­ni­sie­ren“, so Rasmus „Ras“ Pechuel, Mitbegründer und Präsident der Dragon Legion. Inzwischen haben sie Mitglieder und Veranstaltungen in 18 euro­päi­schen Ländern, so zuletzt auch auf der grie­chi­schen Insel Zakynthos.

Rollenspiele für den Austausch

Bekommt man eine Nachricht, man kön­ne sich für einen von zwei Plätzen für ein euro­pa­wei­tes Event bewer­ben, bei dem fast alle Kosten über­nom­men wer­den, kann man berech­tig­ter­wei­se skep­tisch wer­den. Allerdings steck­te in die­sem Fall kein angeb­li­cher Prinz vom ande­ren Ende der Welt dahin­ter, son­dern die erwähn­te Dragon Legion. Regelmäßig wer­den von ihnen Events orga­ni­siert, um jun­ge Menschen aus ver­schie­dens­ten Ländern Europas zusam­men­zu­brin­gen und durch ein System, das Zusammenarbeit, Kommunikation, Kreativität und mehr erfor­dert, zum Austausch moti­viert: Rollenspiele. Die finan­zi­el­len Mittel erhal­ten sie durch eine Erasmusförderung. So kön­nen sie die Last von den Teilnehmenden neh­men und inter­eu­ro­päi­sche Reisen ermöglichen.

Den eige­nen Charakter erstel­len, oft der ers­te Schritt im Rollenspiel

„Natürlich ver­bin­den wir Menschen über Landesgrenzen hin­weg, aber unter der Oberfläche eines sol­chen Events ist da noch viel mehr“, erzäh­len Ras und Ogge[1]. Letzterer ist in einem Programm ähn­lich einem FSJ der Dragon Legion für ein Jahr von Schweden nach Deutschland gereist. Damit die Spieler:innen sich nicht dar­auf kon­zen­trie­ren, mög­lichst kom­mu­ni­ka­tiv und krea­tiv zu sein, son­dern sich frei und ent­spannt füh­len kön­nen, spre­che man die­se ver­steck­ten Effekte sel­ten an. Die Events fin­den voll­stän­dig auf Englisch statt; unwei­ger­lich wer­den Sprachkenntnisse trai­niert. Während des Spiels müs­sen die Spieler:innen gemein­sam Probleme lösen und ste­hen gege­be­nen­falls auch vor Dilemmata. Ohne es zu benen­nen, wer­den inter­kul­tu­rel­le Werte ver­gli­chen und Kompromisse gefun­den, um gemein­sa­me Entscheidungen zu tref­fen, die auch für das wei­te­re Spiel Konsequenzen haben.

Für das Player Event: Ancient Greece ging es für die Teilnehmenden per Flug‑, Auto- oder Fährreise auf die grie­chi­sche Insel Zakynthos. Nachdem die Hotelzimmer bezo­gen wur­den, muss­te man sich erst ein­mal an die neue Situation gewöh­nen – neue Mitbewohner:innen, unge­wohn­te Sprachen und ein Klima, das vor allem auf die Schleimhäute der Nordeuropäer:innen schlug. Die Veranstalter:innen haben dar­auf geach­tet, auch bei der Zimmerverteilung Nationalitäten mög­lichst gut zu mischen, sodass sich kei­ne Grüppchen bil­den, die sich nur in ihrer Heimatsprache unter­hal­ten und damit ande­re unbe­ab­sich­tigt ausschließen.

Mit den erstell­ten Charakteren erle­ben die Spielenden Abenteuer, gelei­tet von je einem Game Director.

„Während eines typi­schen Jugendevents gibt es einen Workshop und man spricht über ein bestimm­tes Thema, rich­tig? Und es geht immer dar­um, sein Land zu reprä­sen­tie­ren“, ver­gleicht Ras, „aber das för­dert wie­der nur Stereotype.“ Man kön­ne als Person kein Land reprä­sen­tie­ren, nur die eige­nen Erfahrungen. Das funk­tio­nie­re viel bes­ser und nach­hal­ti­ger, wenn man nicht dar­auf ver­steift ist, ein bestimm­tes Thema dar­stel­len zu müssen.

Auch abseits des Spiels ent­wi­ckeln die Anwesenden Interesse anein­an­der. Man kommt ins Gespräch über die Lebenssituation, die öffent­li­chen Verkehrsmittel, die Politik in der Heimat des jeweils Anderen. Wer hät­te gedacht, dass auch ein Isländer auf das Ende der altern­den Parteien in der Regierung war­tet, auch wenn die Internetanbindung in deut­schen Haushalten nur belä­chelt wird.

Willkommen in der Bronzezeit

Nach ers­tem Kennenlernen wur­den die Spiele eröff­net. Schließlich ist das Ganze ein soge­nann­tes Player Event – die Spieler:innen sol­len in einem vor­her erar­bei­te­ten Szenario das von Dragon Legion ent­wi­ckel­te Rollenspielsystem Runestones spie­len. Es sei so kon­stru­iert, dass man inner­halb von zehn Minuten sei­nen Charakter erstel­len und los­spie­len kön­ne, erklärt Ogge. Außerdem kommt es, im Gegensatz zu vie­len ande­ren Rollenspielsystemen, ohne Würfel aus, die man über einen Tisch rol­len müss­te; man kön­ne es im Laufen spie­len. „Vor allem [bei Events] in Island, wenn wir die Leute zu Gletschern oder Lavaflüssen füh­ren, kann ihnen das einen ganz ande­ren Eindruck von dem Szenario, in dem sie spie­len, brin­gen“, beschreibt Ras.

Um in das anti­ke Griechenland bes­ser ein­tau­chen zu kön­nen, fin­det das Event im moder­nen Zakynthos statt

Die Geschichten, die wäh­rend der Events erzählt wer­den, sind immer an den Veranstaltungsort ange­passt. In die­sem Fall fan­den sich die Spieler:innen im bron­ze­zeit­li­chen Griechenland wie­der. Als gott­er­wähl­te Champions galt es, die meis­ten von der Macht der Titanen erfüll­ten Artefakte zu sam­meln. Vier Gruppen, jede unter den Fittichen eines ande­ren Gottes oder einer Göttin, spiel­ten dabei par­al­lel. Jede:r Spielleiter:in, von Dragon Legion als Game Director[2] bezeich­net, reprä­sen­tiert dabei unter­schied­li­che Orte in Griechenland, in denen Artefakte ver­steckt sein kön­nen. So kön­nen die Aktionen einer Gruppe auch Konsequenzen für die nächs­te haben. Beispielsweise haben Poseidons Champions ein Artefakt aus Charybdis’ Schlund gebor­gen und eine Attrappe ver­steckt. Artemis’ Schützlinge sind dar­auf lei­der her­ein­ge­fal­len. Spieler:innen, deren Charakter wäh­rend des Abenteuers gestor­ben ist, sind nicht aus dem Spiel aus­ge­schie­den. Hades hat sie aus der Unterwelt in sein eige­nes Team geholt.

Ein jeder spielt nur seine Rolle

Während einer Bootstour um die Insel wer­den euro­pa­wei­te Beziehungen geknüpft, die Monate spä­ter noch gepflegt werden. 

Rollenspiele und Fantastik sei­en nur Eskapismus, eine Flucht vor den rea­len Problemen, so lau­tet eine häu­fi­ge Kritik Außenstehender. Ist die­ser Vorwurf berech­tigt? Ras ist vom Gegenteil über­zeugt: „Wir alle sind sehr von unse­rer Gesellschaft kon­di­tio­niert. […] Deine Meinung ist so stark geformt von der Presse, den Menschen um dich her­um, und in vie­len Fällen täte es uns gut, von der poli­ti­schen Last [der rea­len Welt] los­zu­kom­men und Probleme und Schwierigkeiten als Mensch zu betrach­ten. Im Rollenspiel bist du jemand ande­res. Du bist ein Charakter, der gera­de erst erdacht wur­de. […] Bei Problemen, bei denen es kein Richtig und Falsch gibt, kann man so viel frei­er nach­den­ken.“ Immer wie­der beob­ach­te er, wie Menschen die so ent­wi­ckel­ten Fähigkeiten, zurück in der Realität, genau­so anwen­den kön­nen. Eine Entkopplung von der „ech­ten Welt“ sei kein Problem von Rollenspielen, son­dern ihre größ­te Stärke.

Dass man Charaktereigenschaften aus­le­ben kann, von denen einen das Umfeld im Alltag womög­lich abhält, ist laut Ogge ein wei­te­rer wich­ti­ger Punkt. Deswegen zie­he die Dragon Legion auch so oft Mitglieder aus der LGBTQ-Community an – trans* Personen hät­ten oft das Gefühl, Rollenspiel gäbe ihnen die Möglichkeit, bes­ser her­aus­zu­fin­den, wer sie sein wol­len. Die Spieler:innenschaft ist laut Ogge dies­be­züg­lich auch sehr offen, nie­mand stel­le infra­ge, war­um man einen weib­li­chen Charakter spie­len wür­de, wenn man doch männ­lich gele­sen ist.

Spiel, Studie, Sozialdynamik

Schon in der Antike dien­ten Steinstapel als Wegmarkierung

Die Inklusivität sieht auch Elnaz Shadras. Sie ist Sozialwissenschaftlerin der Non-Profit-Organisation Voices of the World und sam­melt als stil­le Beobachterin Daten zu den men­ta­len und sozia­len Effekten, die Projekte wie die­ses auf die Teilnehmenden haben. Mithilfe ihrer Forschung hofft die Dragon Legion als euro­päi­sches Netzwerk aner­kannt zu wer­den und ent­spre­chen­de Förderung zu erhal­ten. Dadurch könn­ten mehr Events finan­ziert und durch­ge­führt und statt von Freiwilligen von fes­ten Mitarbeitenden orga­ni­siert wer­den, die für ihre Arbeit dann auch ent­lohnt wer­den können.

Für die wis­sen­schaft­li­che Betrachtung fand im Oktober 2023 in den Franckeschen Stiftungen der ers­te Kongress zu Rollenspielen in Bildung und Therapie statt. Neben ver­schie­de­nen Keynotes und Vorträgen von Pädagogen, Therapeuten und ande­ren Wissenschaftlern, die sich mit dem Thema beschäf­ti­gen, konn­te man an ver­schie­de­nen Workshops teil­neh­men, um letz­lich neue Forschungsansätze zu entwickeln.

In der Praxis arbei­tet Dragon Legion an einem eige­nen Rollenspielsystem, um es an deut­schen Schulen zu ver­tei­len und in das außer­schu­li­sche Programm ein­zu­bin­den. Die bereits ange­führ­ten Vorteile in Sachen Kreativität, Teambildung und Problemlösung tref­fen in die­sem Szenario natür­lich genau­so zu, zu Ras’ Bedauern, lie­ßen sich die kon­tak­tier­ten Bildungsministerien davon jedoch nicht über­zeu­gen. Das aus­schlag­ge­ben­de Argument, um das Projekt doch umset­zen zu kön­nen, sei gewe­sen, dass die Schüler:innen Englisch sprächen.

Bleibt nur noch die Frage, war­um die schon lau­fen­den Projekte durch Erasmus geför­dert wer­den – sonst doch eher bekannt für Stipendien für Auslandssemester und ‑prak­ti­ka. Die Projekte der Dragon Legion fal­len unter den Schirm von Erasmus+ Youth, dem Teilbereich der „nicht-for­ma­len und infor­mel­len Bildung“, wie es auf der Website beschrie­ben wird. Im Allgemeinen ist „Erasmus“ eine Sammlung ver­schie­de­ner Projekttöpfe. Die Förderung von Studienaufenthalten im Ausland ist laut Elnaz aller­dings die ältes­te und damit auch bekannteste.

Auf Wiedersehen

Schließlich fin­det der Wettstreit der Göttinnen und Götter ein Ende; die Champions haben sich ihren Platz im Elysium ver­dient. Ras und die Spielleiter sind zufrie­den mit den Geschichten, die die Spieler:innen geformt haben. Die Spieler:innen berich­ten ein­an­der von den Abenteuern, die sie erlebt haben.

Fast 30 Teilnehmer:innen aus einem Dutzend EU-Staaten. Gemeinsam vor einer der kleins­ten Kirchen Europas. 

Zwischen den Spielrunden sind Freundschaften ent­stan­den. Viele mach­ten schon Pläne, wann sie ein­an­der Briefe oder Postkarten schrei­ben, sich besu­chen oder sich bei einem ande­ren Dragon Legion Event wie­der­se­hen kön­nen. Der gro­ße Abschied erfolg­te am Wiener Flughafen, für fast alle Teilnehmer:innen der Umstiegspunkt, an dem man sich wie­der in die Ursprungsländer auf­teil­te. War man sich zu Beginn sei­nes eige­nen Akzents viel­leicht noch sehr bewusst und das Englischsprechen unbe­quem, fiel es nun fast schwer, zurück in die Heimatsprache zu finden.

Die Dragon Legion hat ihre Ziele erreicht: Menschen über Landesgrenzen hin­weg ver­bin­den, zum Austausch anre­gen und Sprachen för­dern – und das ver­packt in Spiel und Reise. Auf ihrer Website kann man sich bereits für die nächs­ten Events bewer­ben, Vorerfahrung in Rollenspielen ist nicht immer notwendig.

Text und Fotos: Stefan Kranz


[1] Zwar nicht der Name, der auf sei­nem Ausweis steht, aber den er am liebs­ten benutzt. Für die Freiheit des Events mei­ner Meinung nach angebracht.

[2] Die ver­brei­tets­te Bezeichnung ist Dungeon Master. Die ist aber zum einen von der sehr kom­mer­zi­el­len Firma Wizards of the Coast geprägt und beinhal­tet den schwie­ri­gen Begriff Master.

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