Es ist immer noch Krieg in Europa und Ukrainer:innen haben sich dar­an so gut es geht ange­passt. Aber wie ist das eigent­lich mit dem Studium im Schatten des Krieges? Eine Ukrainerin im Interview.

Drei Jahre. Oder um prä­zi­se zu sein, elf. Der Krieg in Europa, in der Ukraine, dau­ert an. Ein Land und ein Volk, das um sein Überleben kämpft und dabei Souveränität, Demokratie und Freiheit ver­tei­digt. Trotz tur­bu­len­ter Zeiten mit einer russ­land­freund­li­chen Regierung in den USA geht der Alltag von Ukrainer:innen wei­ter. Jedoch ist es ein etwas ande­rer Alltag als der, den wir hier gewohnt sind. Schließlich leben wir in Frieden, in einem der sichers­ten Länder der Welt und kön­nen es uns nicht wirk­lich vor Augen füh­ren, was es heißt, in Zeiten eines Krieges zu leben und auch zu studieren.

Tanya ist an der Oles-Honchar-Nationaluniversität ein­ge­schrie­ben und stu­diert dort Physio- und Ergotherapie. Sie lebt und lernt in Dnipro – einer der größ­ten Städte der Ukraine, gele­gen im zen­tral-öst­li­chen Teil des Landes, am Ufer des Flusses, mit dem sich die Stadt einen Namen teilt.

Blick auf den Dnipro
Wie ist Dnipro so?

„Dnipro ist eine Stadt der Gegensätze, wo moder­ne Gebäude zwi­schen alte Architektur pas­sen. Eine Stadt, in der es wun­der­schö­ne Parks gibt und den längs­ten Damm Europas. Wo neue Wohnblöcke mit alten sowje­ti­schen Häusern koexis­tie­ren. Es gibt male­ri­sche, tou­ris­ti­sche Ziele, wo die Augen jubeln und die Seele ruht, aber auch unan­sehn­li­che Stadtteile, die von post­so­wje­ti­scher Kultur durch­drun­gen sind. Doch im Großen und Ganzen ist Dnipro ein schö­ner Ort. Ich wür­de nicht sagen, dass es zu den T‑op Sehenswürdigsten im Leben zählt, aber Dnipro hat schon etwas Besonderes an sich.“

Gibt es etwas, das Du besonders an deiner Heimatstadt magst?

„Was ich mag? Ich mag den Dnipro, den Fluss. Meine gan­ze Kindheit habe ich in der Nähe von ihm ver­bracht. Ich bin mit mei­nem Vater im Winter über den zuge­fro­re­nen Fluss gegan­gen und zu jeder Zeit des Jahres mit dem Hund ent­lang des Damms gewan­dert. Wenn ich das sagen darf, mein Lieblingsort in Dnipro ist Dnipro.“

Wie sieht Deine tägliche Routine als Studentin aus?

„Meine Routine ist nicht so wie das, was du gewohnt bist. Für gewöhn­lich ste­he ich zehn Minuten vor mei­ner ers­ten Veranstaltung auf, trin­ke etwas Wasser und schal­te mich zur Online-Veranstaltung. Davon kann es bis zu fünf am Tag geben und aus­nahms­los alle sind online. […] Zwischen den Lehreinheiten habe ich dann Frühstück bezie­hungs­wei­se Mittag. Manchmal mache ich mei­ne Aufgaben direkt wäh­rend einer Veranstaltung, ansons­ten danach.“

Was ist der Effekt des Krieges auf dein Uni-Leben?
An einer Straßenbahnhaltestelle

„Oh, jetzt wird es trau­rig … mei­ne Universität arbei­tet aus­schließ­lich online, weil es kei­nen Luftschutzbunker gibt. Und das ist weder wirk­lich gut noch wirk­lich schlecht. Ich kann es nicht damit ver­glei­chen, wie es vor dem Krieg war, weil ich mich erst nach dem Ausbruch imma­tri­ku­liert habe. Aber all die drei Jahre habe ich online gelernt und es gab prak­tisch kei­ne Offline-Veranstaltungen. […] Es gibt auch ein Problem mit Dozierenden, aber das trifft nicht auf jeden zu. Es gibt ein­fach nicht genug, was die Universität einem bie­tet, und ich fin­de, dass mehr Wissen nötig ist, um in mei­nem Feld spä­ter ein­mal zu arbei­ten. Es ist trau­rig, das zu sagen, aber kom­plett online zu stu­die­ren ist schreck­lich – wirk­lich schreck­lich. Es ist schwer zu beschreiben.“

Was ist das Problem mit den Dozierenden?

„Einige machen ihre Arbeit nicht. Sie gehen mit ihrer Arbeit so leicht­fer­tig um wie man­che Studierende mit ihrem Studium. Zum einen ist es schwer, online zu unter­rich­ten, was Studis mit ihren eige­nen Augen sehen müss­ten. Zum ande­ren muss die Universität Maßnahmen ergrei­fen, um die Situation zu verändern.“

Was für Zeichen der Veränderung hast du in Dnipro nach Beginn des Krieges und während der letzten drei Jahre bemerkt?

„In Dnipro sind genug Gebäude durch Raketen zer­stört wor­den, dass jede:r es min­des­tens ein­mal gese­hen haben muss. Zunächst waren die Veränderungen etwas signi­fi­kan­ter: Angst, Ignoranz, Panik. Aber jetzt sind sie prak­tisch ver­schwun­den, die Menschen haben sich dar­an gewöhnt. Jeden Tag erklingt mehr­mals eine Luftangriffssirene – ein Vorbote der Gefahr. Aber die Einwohner reagie­ren dar­auf für gewöhn­lich nicht. Was sich seit Beginn des Krieges geän­dert hat, ist, dass wir jetzt […] [Telegram-Gruppen und Apps] haben, die es einem erlau­ben, zu ver­fol­gen, wel­che Areale gera­de von Luftschlägen bedroht sind und durch wel­che Art von Waffe.“

Was bleibt
Wie hat der Krieg Dich beeinflusst?

„Ich hat­te noch kei­nen Abschluss und muss­te die Schule irgend­wie fer­tig machen. Die Prüfung, die ich eigent­lich nach der Schule schrei­ben soll­te, wur­de ver­än­dert, wes­halb ich neu anfan­gen muss­te mit ler­nen […], was dazu geführt hat, dass mei­ne Ergebnisse schlech­ter waren als erwar­tet. Tatsächlich beein­flusst [der Krieg] mich zur­zeit nicht wirk­lich. Manche Geschäfte und Einrichtungen sind bei Luftalarm geschlos­sen, aber das ist nur eine klei­ne Unannehmlichkeit. Oft musst du dei­nen Tag dem Krieg anpas­sen, aber jede:r hat sich längst dar­an gewöhnt. Ich habe kei­ne Angst, ich will ein­fach, dass alles end­lich endet.“

Wie möchtest du, dass alles endet? Hast Du irgendwelche Wünsche oder Erwartungen?

„Hast du die neu­es­ten Nachrichten gese­hen? Ich glau­be nicht, dass da die Rede von Wünschen und Erwartungen sein kann…  Ich hof­fe, dass ich nicht ster­be, und ich will nicht, dass mein Land  – oder ein Teil davon – zu Russland wird. Ich möch­te nicht, dass Menschen ster­ben. Ich will nicht, dass Wohnungen in unse­ren zer­stör­ten Städten, von wo unse­re Leute geflo­hen sind, an rus­si­sche Bürger ver­kauft werden […]“

Gibt es eine Geschichte, die du teilen willst?

„14. Januar 2023. Ein Haus fünf Minuten Fußweg vom Haus mei­ner Eltern ent­fernt. […] Die Explosion pas­sier­te halb vier am Nachmittag. Es gab kei­ne Vorwarnung, aber ich wer­de nie ver­ges­sen, wie die Erde beb­te, wie ers­te Fotos in den Nachrichten gezeigt wur­den. Und mit der Zeit kam die Erkenntnis, wel­ches Haus getrof­fen wur­de. Ich habe sofort bemerkt, dass mir die­ser Ort ver­traut war, und bei der Lautstärke der Explosion war es sicher – es muss­te sehr nahe gewe­sen sein. Etwas spä­ter konn­te man die ers­ten Videos im Internet sehen, wo Menschen unter den Trümmern aus Hilflosigkeit schrien, eini­ge von ihnen wer­den das Licht des Tages nie wie­der erbli­cken. Manche sind sofort gestor­ben, ande­re erfro­ren. Unter den Menschen, die dort leb­ten, waren mei­ne Bekannten: Ein Junge aus einer Parallelklasse, er soll­te eigent­lich das Haus in zehn Minuten ver­las­sen, um sei­ne Mutter zu tref­fen, die von der Arbeit kam. Doch hat­te er nicht die Zeit. Meine ehe­ma­li­ge Fitnesstrainerin ging mit ihren Kinder drau­ßen spa­zie­ren, ihr Mann blieb zuhau­se und starb. Die Freunde mei­nes Patenonkels – Mutter, Tochter und Stiefvater – leb­ten dort. Sie hat­ten ihre Tochter für eini­ge Zeit zur Großmutter geschickt, sich aber geei­nigt, dass sie an die­sem Tag zurück­kom­men sol­le. Der Mutter ging es nicht gut, aber ihr Mann hat sie trotz­dem über­zeugt, gemein­sam ihre Tochter Sonya holen zu gehen. Sie ver­lie­ßen das Haus und haben so wie durch ein Wunder über­lebt. Sonya ist kein Waise gewor­den. Nur ihre Katze ist gestor­ben. Etwas spä­ter, wäh­rend ich mit dem Hund unter­wegs war, sah ich eine Frau  – die Mutter von einem der Mädchen, das bei dem Angriff ums Leben kam. Ich kann­te sie von der Musikschule, wir waren im sel­ben Chor. Ich konn­te sehen, wie leer ihre Augen waren. Diese Frau ging mit ihrer Freundin und ihrem Kind spa­zie­ren und ver­fluch­te sich in Gedanken, weil sie ihre Tochter nicht ret­ten konnte.“

Interview: Johannes Wingert

Fotos: Tanya


Gedenkstelle

Kommentar: Warum es wichtig ist, nicht zu vergessen.

Ich erin­ne­re mich noch dar­an, als die­ser Krieg begann. Ich kam vom Praktikum und ging in Richtung Straßenbahn am Weinberg Campus. Was konn­te ich da bemer­ken? Die ukrai­ni­sche Fahne weh­te neben den ande­ren Flaggen im Wind – ein Zeichen der Solidarität. Seit Langem schon ist die Flagge wie­der von dort ver­schwun­den. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Der Krieg in der Ukraine geht jetzt schon über drei Jahre lang und ein Ende ist ehr­li­cher­wei­se nicht in Sicht. Vorbei ist die Zeit der fal­schen Euphorie, die ich emp­fun­den hat­te, als 2023 erst Gebiete um Charkiw und schließ­lich Cherson durch ukrai­ni­sche Truppen befreit wur­den. Große Gewinne auf bei­den Seiten gab es seit­dem nicht mehr. Nur ein lang­sa­mes Vorrücken der rus­si­schen Armee, wel­che auch im 21. Jahrhundert noch auf Taktiken aus dem Zweiten Weltkrieg zurück­greift und Angriffe mit blo­ßer Truppenzahl ent­schei­den will. Das gan­ze Ausmaß des Krieges ist krank. Krieg ist immer krank, aber bei die­sem ist es umso per­ver­ser mit anzu­se­hen, wie die rus­si­sche Propaganda-Maschine in Deutschland und pro­mi­nent jetzt auch in den USA Früchte trägt – Täter und Opfer verdreht.

Niemand soll­te ver­ges­sen, wer hier wen über­fal­len hat. Russland, unter der Führung von Putin, hat sei­nen Nachbarn aus rein impe­ria­lis­ti­schem Größenwahn ange­grif­fen. Russland ist für Raketenschläge auf Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser ver­ant­wort­lich. Russland hat zehn­tau­sen­de ukrai­ni­sche Kinder depor­tiert, um ihnen eine rus­si­sche Identität – viel­mehr eine Ideologie – auf­zu­zwin­gen, und sie spä­ter selbst an die Front schi­cken zu kön­nen. Und Russland hat unaus­sprech­li­che Grausamkeiten in Butscha und anders­wo ver­übt. Aber hier in Deutschland haben wir ja schon an ande­rer Stelle unse­re Probleme mit dem Vergessen.

Medial ist das Thema Ukraine eher zweit­ran­gig gewor­den, es sei denn, es pas­sie­ren sol­che Darbietungen, wie sie sich US-Präsident Trump und sein Vize Vance geleis­tet haben. Woran das liegt? Sehr wahr­schein­lich an Nachrichten, die  zuneh­mend nur  auf unse­re Aufmerksamkeit aus sind. Immer wie­der das Gleiche bringt halt nicht so vie­le Klicks. Hinzu kommt, dass die Unterstützung der selbst­er­nann­ten frei­en Welt  seit Beginn des Angriffskriegs eher zöger­lich war. Darüber wie wich­tig es doch sei, an der Seite der Ukraine zu ste­hen, wur­de viel gere­det, ohne dass Taten folg­ten.  Von Anfang an und immer noch sind es die Ukrainer:innen, die für eben jene freie Welt kämp­fen und auch ster­ben. Fakt ist: Es hät­te mehr getan wer­den müs­sen, um die Ukraine zu unter­stüt­zen, sei es rein huma­ni­tär oder mili­tä­risch. Denn wir soll­ten nicht ver­ges­sen, dass das, was da gera­de in der Ukraine pas­siert und wie das Ganze aus­ge­hen wird, die zukünf­ti­ge Weltordnung formt, Europa ver­än­dert  und damit uns alle etwas angeht. Letztlich las­tet die­se Bürde auf den Menschen der Ukraine.

sla­va ukraini

Kommentar und Illustration und Übersetzung: Johannes Wingert

0 0 vote
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments