Es weihnachtet. Die Züge sind voller als die Weihnachtsmärkte und ihre Besucher:innen. Irgendwo wird “Last Christmas” in Dauerschleife gespielt und sobald die erste Flocke vom Himmel fällt, geht gar nichts mehr.
Diese Erinnerungen an meine letzte weihnachtliche Heimreise schießen mir durch den Kopf, als ich mir bereits im August aufgrund eines rekordverdächtigen Angebots sogar einen Platz im ICE reservieren kann. Ich spare ein paar Euro, dafür verlängert sich meine Fahrzeit signifikant. Es geht von Halle nach Nürnberg, nur um dann die Hälfte der Strecke wieder zurück in den nördlichsten Zipfel Bayerns zu fahren. Aber alles für den studentischen Geldbeutel und die Hoffnung, dass diese Fahrt besser wird als meine verschneite Regionalbahn-Odyssee des letzten Jahres.
Endlich: der große Tag, auf den ich mich schon seit Wochen mental vorbereite, ist gekommen. Wie sollte es auch anders sein, starten wir mit Verspätung aufgrund einer Störung im Betriebsablauf. Zugegeben, diesmal liegt es an mir. Ich hatte wegen meiner frühzeitigen Buchung doch tatsächlich vergessen, dass es heute so weit ist. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig zum Gleis, aber meine Bahn hat anscheinend auch vergessen, wann sie da sein soll. Schon jetzt kann ich Menschen, die tatsächlich auch ankommen wollen, nur zuverlässigere und stressfreiere Verkehrsmittel ans Herz legen. Wie wäre es zum Beispiel stilecht und passend zur Jahreszeit mit einem rentiergezogenen Schlitten?
Nach einigen Minuten, in denen ich in der Kälte um den Fortbestand meiner Zehen bangen muss (das “P” in ICE steht anscheinend für Pünktlichkeit), beschließt der Zug doch seinem Daseinszweck nachzukommen und in den Bahnhof einzufahren. In diesem fast schon magischen Moment beginne ich mich zu fragen, ob ich doch wieder an Wunder glauben sollte. Aber als der Zug zischend zum Stehen kommt, werde ich aus meinen Gedanken gerissen und beschließe einzusteigen, um dem Tod durch Erfrieren gerade so von der Schippe zu springen.
Der von mir reservierte Sitz existiert sogar, was verglichen mit sonstigen Reisen eine nette Überraschung ist. „Jetzt wird alles gut“ denke ich naiv und freue mich auf eine entspannte Fahrt, wie eine frischgebackene Pendlerin auf ihre erste Bahncard. Wir gleiten durch die Landschaften, vorbei an Städtchen, immer weiter gen Süden und langsam beginnt es zu dämmern. Aber Moment, wieso stehen wir?
Unsere Weiterfahrt verzögert sich auf unbestimmte Zeit hallt es, gerade so verständlich, durch den Wagen. Grund dafür sei der plötzliche Wintereinbruch. Die Köpfe der Reisenden drehen sich nahezu synchron Richtung Fenster und tatsächlich, wenn man sehr genau hinschaut, fallen vereinzelte kleine Flöckchen vom Himmel. Es wird sich für unser Verständnis bedankt. Welches Verständnis?! Immer die gleiche Scheiße mit diesem Drecksladen! Wäre ich doch lieber gelaufen oder hätte die Idee mit dem Schlitten umgesetzt.
Zum Zeitvertreib werden vom Bahnpersonal Fragebögen, die Fahrgastzufriedenheit betreffend, verteilt. Der gesamte Zug kreuzt wütend kleine Felder an und verspürt das kollektive Bedürfnis, den Bahnvorstand auf der Stelle zu vierteilen. Aber dieser Service ist im Moment nicht verfügbar. Die nächste Durchsage bedankt sich für den regen Diskussionsanstoß und verweist auf das kulinarische Angebot des Bordbistros. Dort kann es derzeit leider zu längeren Wartezeiten kommen. Aber was habe ich schon zu verlieren?
Die Weihnachtsgeschenke, die ich im Gepäck für weniger geliebte Verwandte habe, für die man immer einfach irgendwas aus einem Feinkostgeschäft kauft, werden immer verlockender. Aber Essig, Öl und irgendein fancy Gewürzsalz sind allein auch nicht besonders nahrhaft. Außerdem gönnt man sich ja sonst nichts! Das Geld, das ich mit meinem Schnäppchenticket gespart habe, möchte ausgegeben werden.
Alles kostet ein Vermögen, aber dafür gibt es Glühwein und der knallt umso mehr mit erhöhtem Blutdruck und auf nicht mal mit Gewürzsalz gefülltem Magen. Ich trinke die erste Hälfte noch bevor ich mich nach einem Sitzplatz umgesehen habe. Es gibt nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Bei einer Gruppe stark angeheiterter Mitvierzigerinnen, die gerade von irgendeinem kitschigen Weihnachtsmarktbesuch zurückkommen und ihre sonst so langweiligen Leben durch exzessiven Glühweingenuss vergessen wollen. Oder an einem Tisch, der mindestens zu achtzig Prozent von quengelnden Kindern unter acht Jahren besetzt wird. Am Kindertisch darf ich schon zur Weihnachtsfeier mit der erweiterten Familie sitzen, da man sich erst durch ein eigenes, festes Einkommen und einen Beruf, der einen nicht glücklich macht, dafür qualifiziert mit an der Erwachsenenrunde teilzunehmen. Denn Studentin sein ist hier weder Beruf noch Leistung.
Also entscheide ich mich für das Frauengrüppchen, von dem ich mich im Normalfall weit entfernt halten würde. Menschen, die mindestens ein Wandtattoo besitzen, welches das Wort „Love“ beinhaltet und von sich behaupten, sie seien nicht verrückt, sondern nur eine Special Edition, habe ich schon vor einigen Zugfahrten zu meinen Erzfeinden erklärt. Aber wenn man ihnen nicht entkommen kann, wird man am besten ein Teil von ihnen. Wie Sunzi eben sagt: „Sei deinen Freunden nahe, aber deinen Feinden noch näher.“
Sobald ich mich setze, werde ich in ihr starkalkoholisiertes Grüppchen aufgenommen und bemerke schnell, dass uns nichts verbindet außer dem Glühwein. Wir lachen viel und verstehen uns wenig. Die Kinder stehen auf und rennen an uns vorbei. Wenn sie nur schnell genug laufen können, etwa in Lichtgeschwindigkeit, dann müssten sie, so zumindest Einsteins Relativitätstheorie nach, langsamer altern als wir, die nur angetrunken sitzen. Je schneller man sich bewegt, umso langsamer soll die Zeit vergehen. Aber anscheinend gilt diese Regel der Physik nicht für ICEs.
Ich lebe von einer Tasse Glühwein in die nächste. Das Bordbistro ist inzwischen noch immer gut gefüllt (wie auch ich). Die Stimmung ist am Siedepunkt und die Nachfrage macht sich am Angebot bemerkbar. Glühwein ist aus. Es gibt nur noch Weißbier… Bayern eben.
Ein älterer Herr vom Typ Weihnachtsmann bestellt einen Kaffee und wird kollektiv ausgebuht. Die Bedienung reicht ihm sein Heißgetränk mit den Worten: „Ein Käffchen für den jungen Mann!“. Ein kurzer Anflug von Panik überkommt mich. Wie lange bin ich schon hier? Was, wenn der alte Herr als junger eingestiegen ist? Aber ich kippe noch meinen letzte Schluck Glühwein auf Ex und beschließe, mir keine Sorgen mehr um Einstein, Zeit und Ähnliches zu machen.
Mittlerweile dröhnen von irgendwoher Weihnachtslieder, die sich mit Schlagern abwechseln und ich bekomme Flashbacks an das letzte Jahr in der Regionalbahn. Ein Reinhold-Messner-Typ beschließt auszusteigen und klopft zum Abschied auf den Zug. Soweit ich erkennen kann, formen seine Lippen ein Toi, Toi, Toi. Unklar ist, ob er aufgibt oder den Rest der Strecke lieber zu Fuß zurücklegt.
Bei den lauten Wham!-Klängen hätten wir beinahe das Kratzen der Durchsage, die uns eine baldige Weiterfahrt verspricht, überhört. Es bricht Jubel aus. Hier und da wird auch ein Freudentränchen vergossen. Menschen liegen sich in den Armen, als wären die erste und zweite Klasse nur Gedankenkonstrukte. Der Zug fährt an. Ich hatte schon fast vergessen, wie sich das anfühlt. Der Weihnachtsmann-Mann, der anscheinend schon die ganze Zeit unser DJ gewesen war, dreht jetzt noch mal voll auf. Der Ballermann kommt zu uns. Der Party-Express gibt Vollgas. Alles grölt: „Der Zug, der Zug, der Zug hat keine Bremse!“.
Die Stimmung meiner Mitreisenden kann mich nicht mehr mitreißen. Ich sehne mich nach der, in der Weihnachtszeit zuhauf besungenen aber nie tatsächlich existierenden, stillen Nacht und versuche mich leicht torkelnd vom Party-Meile-Bordbistro zu entfernen. Ich finde an meinen reservierten Platz zurück, er ist auf wundersame Weise unbesetzt. Ich lasse mich in den Sitz sinken und der Rest der Reise liegt in einem pochenden Dunkel. Ich träume von meinen Fahrgastrechten und einer saftigen Entschädigung, die ich für das Ertragen meiner persönlichen Vorhölle bekomme. Ich wache erst wieder in der Realität auf, in der der Bass noch immer aus dem Bordbistro dröhnt, als es heißt: „sänk ju for träwelling wis Deutsche Bahn!“
Text und Illustrationen: Michelle Ehrhardt