Nur etwa einer von 2.500 Menschen ist an der sel­te­nen Nervenerkrankung namens CMT erkrankt. Doch wie macht sich die­se Erkrankung im Alltag bemerk­bar? Im Gespräch mit einer betrof­fe­nen Studentin der MLU.

Während mei­nes Studiums an der MLU habe ich eine jun­ge Frau ken­nen­ge­lernt, die auf den ers­ten Blick kern­ge­sund erschien. Auf den zwei­ten Blick erkennt man jedoch, dass sie Probleme beim Laufen hat – mal mehr und mal weni­ger. Sie erzähl­te mir im Vertrauen, dass sie mit einer Erkrankung namens Charcot-Marie-Tooth, kurz CMT, lebe und bereit sei, über ihr Leben und die Krankheit zu erzäh­len. Da sie anonym blei­ben möch­te, wer­de ich sie in die­sem Artikel Lena nennen.

Ein Einblick in den Körper

Die Charcot-Marie-Tooth-Krankheit ist eine her­edi­tä­re-sen­so­ri­sche-moto­ri­sche-Neuropathie, kurz HMSN – klingt kom­pli­zier­ter als es ist. Hereditär bedeu­tet ledig­lich, dass die Krankheit ver­erb­bar ist, also an leib­li­che Kinder wei­ter­ge­ge­ben wer­den kann. Namensgebend für die Erkrankung sind außer­dem die Auswirkungen auf die Sensorik und die Motorik. Da die CMT eine Nervenerkrankung ist, spricht man hier­bei auch von einer Neuropathie.

CMT-Formen
Die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung unter­teilt sich in vie­le Formen, die teil­wei­se unter­schied­li­che Symptomatiken und Vererbungsmuster auf­wei­sen. Bei eini­gen Typen befin­det sich die Mutation auf den Körperchromosomen und wer­den somit auto­so­mal ver­erbt. Eine sel­te­ne­re Form der CMT wird X‑chromosomal ver­erbt. Da die Mutation hier auf dem X‑Chromosom (einem der Geschlechtschromosomen) liegt, näm­lich in der Genregion GJB1, wird die­se Variante CMTX genannt. Diese Form der Erkrankung teilt sich wie­der­um in Untertypen auf. Eine davon wird als CMTX1 bezeich­net, wor­un­ter Lena lei­det.

Liste von ver­schie­de­nen CMT-Formen:
https://www.mgz-muenchen.de/erkrankungen/diagnose/uebersicht-hereditaere-motorisch-sensible-neuropathien-hmsn-cmt.html

„Der Ursprung mei­ner Krankheit befin­det sich in mei­nen Genen“, erklärt Lena mir, denn die CMT ist gene­tisch bedingt und wird durch eine Mutation in einer bestimm­ten Region im Gen ver­ur­sacht. Zum Verständnis: Die DNA eines jeden Menschen besteht unteran­de­rem aus vier Basen, wel­che abge­kürzt A, T, G und C hei­ßen. Diese vier Basen ver­bin­den sich immer mit den glei­chen Partnern, näm­lich A mit T und G mit C, und bil­den somit einen Code. Eine rich­ti­ge Codierung ist dabei essen­zi­ell für eine kor­rek­te Proteinproduktion, die wie­der­um für den Körper eine wesent­li­che Bedeutung hat.

„Eine Mutation, wie in mei­nem Fall, führt zu einer fal­schen oder sogar nicht mög­li­chen Produktion von gewis­sen Proteinen, wel­che mei­nem Körper letzt­end­lich feh­len.“ Die Proteine, die Lenas Körper feh­len, wären eigent­lich an der Bildung der Myelinscheide ent­lang einer Nervenfaser betei­ligt. Diese umgibt die Nerven und sorgt für eine schnel­le unge­stör­te Signalweiterleitung, damit Reize schnellst­mög­lich am Zielort ankom­men. „Die Myelinschicht ist wie eine Isolierung um ein Kabel, damit der Strom sicher fließt und nicht an eini­gen Stellen aus­tritt“, ver­deut­licht Lena.

Bei der CMT ist es also so, dass die Signale, die über die Nerven lau­fen, man­che Bereiche im Körper auf­grund der undich­ten Myelinschicht nicht aus­rei­chend errei­chen. Vor allem sind die Regionen betrof­fen, die am wei­tes­ten von der Körpermitte weg lie­gen – die Füße und die Hände. Die Muskeln in die­sen Bereichen kön­nen auf­grund der erschwer­ten Signalübertragung nur schwer sti­mu­liert und akti­viert wer­den. „Letztendlich ist es wie eine Kettenreaktion, die im Körper abläuft. Erschreckend, was ein klei­ner Fehler in der DNA für Auswirkungen haben kann, nicht wahr?“

Ausschnitt eines DNA-Stranges mit den vier Basen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin.

Die Auswirkungen auf den Körper

Da die Muskeln in den betrof­fe­nen Regionen im Körper weni­ger sti­mu­liert wer­den, kommt es zur lang­sa­men Rückbildung der Muskulatur, bis die­se im schlimms­ten Fall voll­stän­dig ver­küm­mert. Auch kön­nen Nerven im Laufe des Lebens abster­ben, was es für den Körper noch schwie­ri­ger macht, die Muskulatur aus­rei­chend anzu­re­gen. Lena erzählt mir, dass es bei ihr bereits zur Muskelrückbildungen im Bereich der Füße und Waden gekom­men sei und ihr Sprunggelenk dadurch nicht aus­rei­chend sta­bi­li­siert wer­den kön­ne. Ihr fal­le das Laufen auf unebe­nen Untergründen zuneh­mend schwe­rer und ihre Muskulatur ist schnel­ler erschöpft als frü­her. „Ich kann mei­ne Füße auch nicht so kon­trol­lie­ren, wie es ande­re kön­nen. Ich kann sie nicht so gut anhe­ben, wodurch das Laufen zusätz­lich erschwert wird. Seit eini­gen Jahren lässt auch lang­sam die Kraft in den Händen nach. Das macht mir schon etwas Angst.“

Beschädigte Myelinschicht ent­lang einer Nervenfaser.
Unbeschädigte Myelinschicht ent­lang einer Nervenfaser.

Der Verlauf der Krankheit ist bei jedem Menschen mit die­ser Erkrankung anders und nicht vor­her­sag­bar. „Meine Mama, die mir die Krankheit wei­ter­ver­erbt hat, hat zum Beispiel kaum Symptome“, erzählt Lena. „Deswegen wuss­te sie vor­her auch nicht, dass sie selbst die Krankheit hat und konn­te mei­ne Symptome anfangs nicht als sol­che wahr­neh­men und spä­ter auch nicht zuord­nen.“ Erst als Lena ihre Diagnose erhielt, wur­de CMTX1 auch bei ihrer Mutter dia­gnos­ti­ziert. Dass Lenas Mutter nur leich­te Symptome hat, ist kei­ne Seltenheit, denn Menschen mit XX-Chromosomen sind von den Beschwerden der Krankheit weni­ger stark betrof­fen als Menschen mit XY-Chromosomen.

Symptomatik je nach Chromosomensatz
Bei Menschen mit zwei X‑Chromosomen liegt eines größ­ten­teils inak­tiv vor, um über­mä­ßi­ge Genexpression zu ver­mei­den. Diese Inaktivierung wird noch wäh­rend der Embryonalentwicklung zufäl­lig fest­ge­legt und bei wei­te­ren Zellteilungen von neu­en Zellen über­nom­men. Wird das X‑Chromosom, wel­ches die Genmutation auf­weist, zufäl­lig inak­ti­viert, so haben Patient:innen kei­ne Symptome, son­dern sind ledig­lich Träger:innen der Erkrankung. Somit kann die CMTX meh­re­re Generationen hin­weg von Mutter zu Tochter ver­erbt wer­den (unter der Annahme von gesun­den Vätern), ohne dass Symptome auf­tre­ten. Bei Menschen mit XY-Chromosomen kommt es zu kei­ner Inaktivierung, da es in der Regel nur ein X‑Chromosom gibt. Das akti­ve, muta­ti­ons­tra­gen­de Geschlechtschromosom führt zur voll­stän­di­gen Ausprägung der Symptomatik.

Bei einer Infoveranstaltung habe Lena klei­ne Jungen ken­nen­ge­lernt, die ohne Hilfsmittel nicht mehr lau­fen konn­ten und eini­ge Erwachsene, die im Rollstuhl sit­zen. „Keiner kann mir sagen, wie es bei mir hin­sicht­lich der Symptome in 10 Jahren aus­sieht – viel­leicht sta­gniert das Krankheitsbild, viel­leicht wird es schlim­mer. Keiner weiß es.“

Der lange Weg zur Diagnose

Lena erzählt mir, sie habe die ers­ten Symptome nie direkt als sol­che regis­trie­ren kön­nen. „Mein Vater mein­te zu mir, als ich im Grundschulalter war, ich plat­sche wie eine Ente und ich sol­le mei­ne Füße bes­ser anhe­ben und ver­su­chen abzu­rol­len. Doch so ein­fach war das nicht.“ Sie habe nie das Gefühl gehabt, dass mit ihr etwas nicht stim­me. „In so einem jun­gen Alter ver­gleicht man sich ja auch noch nicht so mit ande­ren“, merkt sie an. Erst mit zuneh­men­dem Alter bemerk­te Lena, dass sie vor allem im Sportunterricht nicht so gut war, wie vie­le ande­re. „Ich war nicht unsport­lich. Ich war schlank, habe in mei­ner Freizeit Sport gemacht – aber ich merk­te, dass mein Körper nicht so konn­te, wie ich das woll­te. Aber ich wuss­te nicht war­um. Ich wur­de bei Mannschaftswahlen fast immer als letz­te gewählt. Das war schon manch­mal ernied­ri­gend.“ Vor allem beim Sprinten und Bodenturnen habe sie Probleme gehabt. „Sobald man in die Pubertät kommt, fängt man an, sich zu ver­glei­chen. Und ich rea­li­sier­te vor allem im Urlaub am Strand, dass die Füße der ande­ren Menschen anders aus­sa­hen. Naja, eigent­lich sahen mei­ne anders aus.“

Lena begriff so lang­sam, dass es einen Grund für ihr Gefühl gab, anders zu sein. Als sie in der 10. Klasse war, wur­de bei einer ande­ren Untersuchung ein Arzt aus Zufall auf ihre Füße auf­merk­sam und zog einen Neurologen hin­zu, wel­cher sofor­ti­ge Tests anord­ne­te und erst­mals eine Diagnose in den Raum warf – die Charcot-Marie-Tooth-Krankheit. Diese konn­te weni­ge Monate danach gene­tisch gesi­chert wer­den. „Für mich war es einer­seits eine Erleichterung zu wis­sen, was mit mir nicht stimm­te. Andererseits ent­stan­den so vie­le neue Fragen und Ängste in mei­nem Kopf. Durch den Leistungskurs Biologie in der Oberstufe lern­te ich die Zusammenhänge in mei­nem Körper in Bezug auf die Krankheit zu verstehen.“ 

Vererbungsmuster der CMTX bei einem erkrank­ten Elternteil.

Die Auswirkungen auf das Leben

Seitdem habe sich so eini­ges ver­än­dert, erzählt Lena. Arztbesuche, schmerz­haf­te Untersuchungen, Physiotherapie – aber vor allem das Bewusstsein für die Krankheit beein­fluss­te den Alltag. „Ich habe die Erkrankung stän­dig im Kopf. Wenn ich stol­pe­re, fra­ge ich mich: ‚Liegt das jetzt an der Krankheit? Wird es schlim­mer? Oder bin ich nur toll­pat­schig und wäre über die­se Wurzel jeder gestol­pert.‘“ Die CMT sei ein stän­di­ger Begleiter im Alltag, aber sie ler­ne zuneh­mend damit umzu­ge­hen. „Ich weiß, was ich mei­nem Körper zutrau­en kann und was nicht mehr geht.“

Da sich Lenas Symptome aber von Jahr zu Jahr ver­schlech­tern, fal­le es ihr manch­mal schwer zu akzep­tie­ren, dass man­che Dinge, die sie vor 2 Jahren noch locker geschafft habe, für ihren Körper nicht mehr mach­bar sind. „Ich bin zum Beispiel frü­her jedes Jahr mit mei­ner Familie Ski gefah­ren – und das jeden Tag, eine Woche lang. Heute wür­de ich maxi­mal zwei Stunden am Stück schaf­fen und bräuch­te danach einen Tag Pause.“ Lena ver­su­che trotz­dem posi­tiv an sol­che Dinge ran­zu­ge­hen. „Ich freue mich die­ses Jahr beson­ders auf den Skiurlaub. Ich wer­de mei­nen Hund mit­neh­men, der Schnee genau­so liebt wie ich und dann wer­den wir gemein­sam Schneewanderungen machen, statt Ski zufah­ren. Man muss ein­fach ler­nen, das Beste aus der gan­zen Sache zu machen.“

Noch kommt sie zum aktu­el­len Zeitpunkt in ihrem all­täg­li­chen Leben ohne Hilfsmittel klar. „Ich möch­te es so lan­ge aus­rei­zen, wie es geht. Aber ich weiß, dass es in 10 Jahren anders aus­se­hen kann – das ist aller­dings ein Problem von Zukunfts-Lena.“

Was die Zukunft bringt

Da die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung gene­tisch bedingt ist, gibt es kei­ne Heilung der Ursache. Lediglich die Symptome kön­nen durch Physio- und Ergotherapie, aber auch durch ande­ren Behandlungsmöglichkeiten the­ra­piert wer­den. Lena gehe davon aus, dass sich ihre Beschwerden nicht mehr ein­zig und allein durch die­se Behandlungen ver­bes­sern wer­den. Aber sie kön­nen hel­fen, bes­ser mit der Krankheit im Alltag umzugehen.

„Ich wur­de auch schon über die ein oder ande­re Studie auf­ge­klärt. Die meis­ten wur­den aber wegen feh­len­der Gelder wie­der ein­ge­stellt.“ Das aktu­el­le Testverfahren, über wel­ches Lena sich infor­miert habe, sei aller­dings sehr viel­ver­spre­chend. Dabei soll erreicht wer­den, dass durch Medikamente nahe­lie­gen­de Nerven die Bereiche der Gliedmaßen über­neh­men, in denen nicht genü­gend Signale zur Muskelstimulation ankom­men. Aufgrund erfolg­rei­cher Tierversuche gehe die welt­wei­te Studie nun in die zwei­te Phase über. „Leider kann ich an die­sem Verfahren nicht teil­neh­men, da nur Menschen mit CMT1a und CMT1b ein­ge­schlos­sen sind.“ Da die Symptome die­ser Formen ähn­lich zu Lenas Beschwerden sind, kön­ne sie auch von den zukünf­ti­gen Medikamenten pro­fi­tie­ren. „Ich bin auf jeden Fall zuver­sicht­lich, dass es irgend­wann eine Möglichkeit gibt, mit dem die Symptome behan­delt wer­den können.“

Lena mache sich aber nicht nur über ihre eige­ne Zukunft Gedanken – auch die Familienplanung ist für sie ein gro­ßes Thema. Die Wahrscheinlichkeit, ihren Kindern die Krankheit wei­ter­zu­ver­er­ben, liegt bei 50% – unab­hän­gig vom Geschlecht. Zum aktu­el­len Zeitpunkt kön­ne sie sich nicht vor­stel­len, das Risiko ein­zu­ge­hen und zu hof­fen, dass ihre Kinder auf natür­li­chem Wege gesund zur Welt kom­men. „Die Krankheit ver­kürzt zwar nicht das Leben, aber sie hat Einfluss auf die Qualität. Außerdem möch­te ich nicht, dass sie spä­ter auch ent­schei­den müs­sen, ob sie es mit ihren Gewissen ver­ein­ba­ren kön­nen, die CMT even­tu­ell an ihre Kinder weiterzuvererben.“

Es gibt heut­zu­ta­ge eini­ge Verfahren, die zur früh­zei­ti­gen Diagnostik ein­ge­setzt wer­den. Eine davon ist die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, bei der meh­re­re durch künst­li­che Befruchtung ent­stan­de­nen Embryonen im Labor unter­sucht wer­den und anschlie­ßend ein gesun­der Embryo in die Gebärmutter ein­ge­pflanzt wird. „Das wird zwar ein lan­ger, kom­pli­zier­ter und vor allem teu­rer Weg, aber das ist es mir wert.“

Text und Bilder: Anne Fischer

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