Am Wasserturm in der nördlichen Innenstadt von Halle liegt die Synagoge der Jüdischen Gemeinde. Durch den terroristischen Anschlag vom 9. Oktober 2019 wurde sie weltweit bekannt. Doch jenseits der medialen Aufmerksamkeit findet in der Synagoge alltägliches jüdisches Leben statt. Ein Anlass, die Synagoge zu besuchen.
Es dämmert bereits an diesem Mittwochnachmittag, als die Teilnehmer:innen vor dem Eingang der Synagoge auf den Einlass warten. Auf die Frage, warum sie heute hier sei, antwortet eine Dame Mitte 70, dass sie seit anderthalb Jahren in Halle wohne und die Stadt kaum kenne. Ein Ehepaar gibt an, auf die Führung über den Prospekt der Volkshochschule aufmerksam geworden zu sein. „Auch Kirchen haben wir besucht, in ner Moschee waren wir schon und in ner Synagoge halt noch nicht“. Weitere Besucher:innen äußern ihr Interesse und zeigen sich erwartungsvoll und gespannt. Als die Verantwortlichen der Volkshochschule eintreffen, werden wir in die Synagoge geleitet. Am Eingang müssen sich die männlichen Teilnehmer eine Kippa aufsetzen, die sie von Sascha Tischer, Mitarbeiter der Gemeinde, überreicht bekommen. Auf dem Innenhof der Synagoge steht das Mahnmal für die Opfer des antisemitischen Anschlags vom 9. Oktober 2019. Es zeigt die beschossene Tür, die standhielt und den 52 Menschen in der Synagoge das Leben rettete. Gehalten wird die Tür von einem Baumstamm, an dessen Ast die Namen der Ermordeten Jana und Kevin angebracht sind. Die goldenen Eichenblätter oberhalb stehen für die Menschen, die an diesem Tag in der Synagoge waren und überlebten. An der Tür hängen zwei weitere Blätter, die für Personen stehen, die durch den Anschlag körperlich verletzt wurden. Die Spirale, auf der das Mahnmal steht, symbolisiert das Leben mit dem drastischen Einschnitt, den der 9. Oktober für die Betroffenen ist. Um das Mahnmal liegen Steine, die zum Gedenken dienen und auch auf den Gräbern des Jüdischen Friedhofs zu finden sind.
Der Friedhof der Gemeinde
Wir gelangen vom Innenhof in die Synagoge und werden freundlich begrüßt. Aufgrund der frühen Dämmerung beginnt unser Besuch aber zunächst auf dem Jüdischen Friedhof, der neben der Synagoge angelegt ist. Der Friedhof wurde von 1869 bis in die späten 1920er Jahre betrieben, abgelöst wurde er 1929 vom Jüdischen Friedhof in der Dessauer Straße. Der Grund: Jüdische Friedhöfe sind für die Ewigkeit angelegt und dieser ist bereits ausgelastet. Eher unüblich sei es auch, erklärt die Bildungsreferentin Eva-Maria Thiele, die die Führung begleitet, dass Synagoge und Friedhof beieinander lägen. Die heutige Synagoge wurde 1894 als jüdische Trauerhalle erbaut, direkt neben dem Jüdischen Friedhof. Die alte Synagoge stand damals in der Innenstadt, zwischen Kleinem Berlin und der Großen Brauhausstraße. In den Novemberprogromen 1938 wurde sie zerstört. Daran erinnert heute ein Mahnmal am Jerusalemer Platz. Bereits nach 1938 fanden Gebete in der heutigen Synagoge statt, 1948 wurde mit städtischer Genehmigung beschlossen, die Trauerhalle umzubauen. Seit 1953 wird die heutige Synagoge als solche genutzt.
Nach den Erläuterungen zum Friedhof haben wir Zeit, uns dort umzusehen. Auf den Gräbern finden sich jüdische Symbole wie der Davidstern und die Menora, der siebenarmige Leuchter, der die sieben Tage der Woche symbolisiert. Die Gräber sind geschmückt mit Steinen und einige tragen Blumenmuster, Amphoren oder Sonnenstrahlen. Die Inschriften auf den Grabsteinen stehen zumeist in hebräischer und deutscher Sprache.
Der Gottesdienst in der Synagoge
Nach der Zeit auf dem Friedhof begeben wir uns wieder in die Synagoge und nehmen auf den Sitzbänken Platz. Die Synagoge sei ein „Ort zum Versammeln“, erklärt Eva-Maria Thiele. Hier werden Gottesdienste, Feste und Feiertage zelebriert und es wird gebetet. Die Synagoge sei aber auch ein Ort des Lernens, an dem sich getroffen wird, um sich auszutauschen und zu diskutieren. Für eine Synagoge gäbe es keine einheitlich festgelegten Bauvorschriften, jedoch seien einige Charakteristika und wiederkehrende Symbole zu finden, erläutert Thiele. Das prominenteste davon ist der Davidstern, der auch innerhalb der Synagoge an vielen Stellen auftaucht. An der kunstvoll geschmückten Decke ist er zu sehen, in den bunten Fenstern und auf Dekorationen. Interessanterweise sei der Davidstern kein primär jüdisches Symbol gewesen, erst ab dem Mittelalter und insbesondere ab dem 17. Jahrhundert wurde er als Symbol an Synagogen verwendet. Während wir in den Reihen sitzen und dorthin blicken, wo sonst der Gottesdienst stattfindet, erklärt uns Thiele dessen Ablauf.
Das zentrale Element ist die Lesung der Tora, die Schrift, die das Wort Gottes beinhaltet. Die Schriftrolle verbirgt sich im Toraschrein hinter einem blauen Vorhang und wird während des Gottesdienstes auf der Bima, dem Lesepult, ausgebreitet und mit Hilfe eines Zeigestabs kantilliert verlesen. Die Torarollen sind eingepackt in einen bestickten Mantel und geschmückt mit einer Krone und einem Schild. Die Tora, die fünf Bücher Mose, sind in hebräischer Schrift verfasst und werden mit Federn auf Pergament geschrieben. Entsprechend aufwendig ist deshalb auch der Herstellungsprozess. In der Gemeinde in Halle wurde am 9. Oktober der Schreibprozess an einer neuen Schriftrolle begonnen, die in einigen Monaten fertig gestellt werden soll. Die Tora wird in einem Jahr einmal komplett verlesen, für jede Woche ist ein Abschnitt vorgesehen und zu Simchat Tora, dem Fest der Torafreude, wird das Ende und der Anfang der Rolle verlesen. Von der Decke hängt das Ewige Licht, das die Menschen an Gottes Gegenwart erinnern soll. Neben dem Ewigen Licht finden sich weitere Lichtquellen, wie die Kerzen an der Menora oder den zwei Schabbatkerzen, die zu Schabbat entzündet werden. Oberhalb des Toraschreins stehen zwei Tafeln, die zehn Gebote, die von zwei Löwen, ein Symbol für den Stamm Juda, gehalten werden.
Das Leben in der Gemeinde
Die Jüdische Gemeinde Halle zählt momentan etwa 520 Mitglieder. Diese leben nicht alle in Halle, fallen aber in das Einzugsgebiet. Weitere Gemeinden in Sachsen-Anhalt gibt es in Dessau und in Magdeburg. Die Gemeinde hat eine orthodoxe Ausrichtung, was bedeutet, dass sie den Gottesdienst nach traditionellem Ritus gestaltet. Dazu gehört auch, dass Frauen und Männer getrennt sitzen. Für Frauen gibt es Plätze auf der Empore und in den Sitzreihen hinter weißen Vorhängen. Die meisten Mitglieder stammen aus der ehemaligen Sowjetunion und sind zwischen 1990 und 2005 als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland gekommen. Die Gemeinde wurde bereits 1947 wieder gegründet, es gab allerdings nur wenige Mitglieder. Das änderte sich ab 1990. In den letzten Jahren sind die Zahlen wieder rückläufig, was unter anderem daran liegt, dass ein großer Anteil bereits sehr alt ist. Ob der Zuzug durch jüdische ukrainische Geflüchtete etwas daran ändern wird, kann Thiele noch nicht beurteilen. Da die hallesche Gemeinde relativ klein ist, organisiert sie in der Synagoge keine Gebete zu den drei Gebetszeiten. Gefeiert wird zu Schabbat am Freitagabend und Samstagmorgen sowie an Feiertagen. Regelmäßig nehmen um die 20 Personen teil, bei manchen Festen sind aber auch Gäste anwesend. Ob man einfach mal so einen Gottesdienst besuchen könne, fragt eine Teilnehmerin. Das sei grundsätzlich möglich, erklärt Thiele, aber aus Sicherheitsgründen nur mit vorheriger Anmeldung.
Nach den Ausführungen haben wir Zeit, Fragen zu stellen. Das Interesse ist rege, eine Dame will wissen, was die Namensschilder an manchen Bänken zu bedeuten haben. Das seien „Stammplätze“ für die regelmäßigen Gäste, erläutert Thiele. Das habe den Vorteil, dass ein eigener Gebetsschal und Gebetsriemen praktisch unter der Bank verstaut werden können. Eine andere Person will wissen, was sich in den weiteren Räumlichkeiten der Synagoge verbirgt. Neben dem Hauptraum gibt es noch ein Nebenzimmer, in dem der Kiddusch, ein Segenspruch über den Wein am Schabbat, gesprochen wird. Außerdem wird dort gemeinsam gegessen und in der koscheren Küche dafür gekocht. Eine Mikwe, ein Tauchbecken zur rituellen Reinigung, gibt es in Halle nicht.
Bildungsarbeit zwischen Antisemitismusprävention und der Darstellung jüdischen Lebens
Zum Abschluss des Besuches besichtigen wir die kleine Ausstellung, die in der Synagoge steht. Dort stellt die Gemeinde rituelle Gegenstände aus, die für bestimmte Feiertage verwendet werden. Auf einem Podest steht ein Nachbau der alten Synagoge, die zerstört wurde. An einer Wand hängt eine Tafel mit Namenschildern. Jeder Name steht für eine jüdische Person, die im Nationalsozialismus ermordet wurde und für die der Verein Zeitgeschichte(n) e.V. in der Stadt einen Stolperstein verlegt hat.
Die öffentlichen Besuche in der Synagoge finden regelmäßig und seit vielen Jahren statt, wie mir Gemeindemitarbeiter Sascha Tischer berichtet. Regelmäßige Besuche gibt es auch von Schulklassen, oft im Rahmen von Projektwochen. Seit 2019 seien die Anfragen stark gestiegen, berichtet Tischer, „weil viele Leute vorher gar nicht wussten, dass hier mitten in der Innenstadt eine Synagoge steht und durch die traurige Aufmerksamkeit, die damals entstanden ist, ist es glaube ich für viele auch sehr wichtig, sich mal mit dem Thema bewusster auseinanderzusetzen.“ Das Interesse bei den Besuchen beschreiben Referentin Thiele und Mitarbeiter Fischer als hoch. Einen wachsenden Antisemitismus seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober konnte Thiele bislang in den Synagogenbesuchen nicht beobachten. Aber, „dass Leute natürlich Bilder im Kopf haben und Zuschreibung stattfindet“, das erlebe sie auch anhand von Nachfragen immer wieder. Doch die Führungen sollen eben auch ein Format sein, bei dem Fragen gestellt werden können und Stereotype hinterfragt werden sollen, um „einfach zu zeigen, dass es eine jüdische Gemeinde in der Stadt gibt und dass es eine Synagoge gibt und dass es Teil der Stadt, der Gesellschaft in Halle, Sachsen-Anhalt und in Deutschland ist.“
Die Besuche in der Synagoge finden in regelmäßigen Abständen statt und werden über die Jüdische Gemeinde organisiert. Anfragen dafür können über die Jüdische Gemeinde gestellt werden. Im Rahmen von Kooperationen, etwa mit der Volkshochschule und den Jüdischen Kulturtagen, werden Führungen für interessierte Einzelpersonen angeboten. https://jghalle.de/fuehrungen/
Text und Fotos: Marietta Meier